Belagerung
szustand
oder Belagerungsstand (frz. état de siège), in erster Linie derjenige seiner Natur nach immer vorübergehende Zustand, der kraft einer besondern öffentlichen Verkündigung der obersten örtlichen Militärautorität eintritt, wenn der Platz von der Besatzung gegen den Angriff des Feindes gehalten werden soll und die militär. Zwecke und Bedürfnisse alle sonstigen Rücksichten derart beherrschen, daß auch für die Civilbevölkerung die Militärgewalt, die Kriegsgesetze (Martialgesetze) und Kriegsgerichte ganz oder teilweise an Stelle der bürgerlichen Gesetze und der normalen richterlichen wie Verwaltungsbehörden treten.
Wird ein ganzer
Bezirk in Belagerung
szustand versetzt, was insbesondere dann zu geschehen pflegt, wenn man wegen der ungünstigen
Gesinnung der
Bevölkerung
[* 2] nachteilige Einflüsse auf die
Truppen und die militär.
Operationen fürchtet,
so spricht man von Kriegsstand. Auch in Fällen eines drohenden oder ausgebrochenen Volksaufstandes lag es nahe, von seiten
der Regierung die
Analogie des
Krieges in Anwendung zu bringen und die betreffenden Orte oder Gegenden unter
Suspension der
normalen
Autoritäten und Gesetze in den Belagerung
szustand oder Kriegsstand zu versetzen (sog.
politischer Belagerung
szustand oder Kriegsstand). In diesem
Sinne gehört der Belagerung
szustand unter den allgemeinen
Begriff der freiheitsbeschränkenden
Ausnahmemaßregeln, wie auch die
Ausnahmegesetze (s. d.) und
Ausnahmegerichte (s. d.) sowie die Verkündigung des
Standrechts
(s. d.), ist aber umfassender und drückender als diese.
Auch die Verkündigung der
Aufruhrakte zählt hierher. Da der Belagerungszustand
die
Garantie einer geordneten Rechtspflege
vermindert, die
Freiheit der
Bürger hindert, den Verkehr stört und lähmt, überdies leicht zu Parteizwecken mißbraucht
werden kann, so wurden in den meisten
Staaten eigene Gesetze erlassen, welche die
Voraussetzungen, Formen, Wirkungen und
Dauer
des Belagerungszustand
genauer bestimmen, zuerst in
Frankreich in der Revolutionszeit (19.
Fructidor Ⅴ). Für
Preußen
[* 3] ist dies geschehen durch Gesetz vom welches gemäß Reichsverfassung Art. 68 vorläufig als Reichsgesetz gilt.
Nach letzterm
Artikel kann nur der
Kaiser und nur, wenn die öffentliche Sicherheit bedroht ist, den in jedem
Teile des Reichsgebietes
verhängen. Von Einzelstaaten ist nur
Bayern
[* 4] kraft besondern verfassungsmäßigen
Vorbehaltes hierzu nach Maßgabe der Landesgesetzgebung
befugt. Im übrigen gilt das citierte preuß. Gesetz auch heute noch fürs
Reich, ausgenommen
Bayern, doch müßte
Bayern einem
zu erlassenden Reichsgesetze sich unterordnen. Danach ist der Belagerungszustand
, nachdem die kaiserl.
Verordnung im Reichsgesetzblatt verkündet ist, ohne Verzug in den Gemeinden in feierlicher
Weise (unter
Trommel- oder Trompetenschall) zu allgemeiner Kenntnis zu bringen: daraufhin geht die gesamte vollziehende Gewalt auf
die Militärbehörden über.
Die Civilverwaltungs- und Gemeindebehörden haben den
Anordnungen und
Aufträgen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten.
Für ihre
Anordnungen sind diese persönlich verantwortlich. Einzelne
Verbrechen (§§. 81, 88, 90, 307,
311, 312, 315, 322‒324
Reichs-Strafgesetzbuch) werden im Bereiche des Belagerungszustand
härter bestraft. Die Militärpersonen stehen
während des Belagerungszustand
unter den
Kriegsgesetzen. Die landesgesetzlichen Vorschriften über das Versammlungs- und Vereinsrecht und
über das Einschreiten der bewaffneten Macht können suspendiert werden.
Schließlich werden Kriegsgerichte eingesetzt, die aus fünf Mitgliedern, zwei Richtern und drei Offizieren bestehen. Vor diese gehört die Untersuchung und Aburteilung der Verbrechen des Hoch- und Landesverrats, des Mordes, des Aufruhrs, der thätlichen Widersetzung, der Zerstörung von Eisenbahnen und Telegraphen, [* 5] der Gefangenenbefreiung, der Meuterei, des Raubes, der Plünderung, der Erpressung, der Verleitung der Soldaten zur Untreue. Das summarische Verfahren vor diesen Kriegsgerichten ist mündlich und öffentlich.
Rechtsmittel finden nicht statt. Todesurteile unterliegen der
Bestätigung durch den Befehlshaber der
Besatzung, in Friedenszeiten
durch den kommandierenden
General. Die
Strafe wird innerhalb 24
Stunden nach der Urteilsverkündigung oder nach
Bekanntmachung
der
Bestätigung des Todesurteils an den Angeschuldigten vollzogen. Die
Todesstrafe wird durch Erschießen
vollstreckt; ist dies bei Aufhebung des Belagerungszustand
noch nicht geschehen, so wird die
Strafe durch das ordentliche Gericht in die gewöhnliche
Strafe umgewandelt. – Das bayrische
Recht unterscheidet zwischen
Standrecht und dem militärischen Belagerungszustand.
Das erstere findet Anwendung
bei hochverräterischen Unternehmungen u. s. w. und bewirkt, daß für
die
Bezirke und die
Verbrechen, für welche es verkündet ist, an die
Stelle der ordentlichen Gerichtsbarkeit diejenige der
Standgerichte (drei
Richter, zwei Offiziere), und an
Stelle der ordentlichen
Strafen die
Strafe des Erschießens tritt.
Das militär. Standrecht berührt im wesentlichen nur die Militärjustiz. – Für Elsaß-Lothringen [* 6] wurden durch Gesetz vom das sich an das preuß. Gesetz vom anlehnt, besondere Bestimmungen getroffen, wonach im Fall eines Krieges oder eines drohenden feindlichen Angriffs jeder mindestens in der Stellung eines Stabsoffiziers stehende oberste Militärbefehlshaber in dem ihm unterstellten Ort oder Landesteil vorläufig, bis zu der unverzüglich einzuholenden Entscheidung des Kaisers über die Verhängung des Kriegszustandes, die Ausübung der vollziehenden Gewalt übernehmen kann. ^[]
Uneigentlich bezeichnete man als kleinen Belagerungszustand
die auf
Grund des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Socialdemokratie
vom (erloschen über gewisse
Bezirke verhängten Ausnahmemaßregeln.