Augenheilkunde
(Ophthalmiatrik), die Lehre [* 2] der Krankheiten des Auges und seiner zugehörigen Nebenorgane. Schon bei den alten Kulturvölkern, den Ägyptern, Indern, Griechen und Römern, gab es Augenärzte, welche sich mehr oder weniger ausschließlich mit Augenkrankheiten [* 3] befaßten. Sie behandelten aber vorzugsweise nur die äußerlich sichtbaren Entzündungen und die Verletzungen des Auges; das übrige Heer der Augenkrankheiten, etwa mit Ausschluß der Starkrankheiten, war ihnen ganz unbekannt.
Hippokrates,
Celsus und
Galen hatten eine eingehende Kenntnis von den
Augenkrankheiten und ihrer Behandlung. Unter den spätern
griechischen
Ärzten haben
Aetius und
Paul von Ägina die
Augenkrankheiten vortrefflich in ihren Werken abgehandelt.
Unter den arabischen
Ärzten sind
Avicenna, Avenzoar und
Abulkasem als Augenärzte ausgezeichnet, und ihre
Schriften über
Augenkrankheiten
sind besonders beachtenswert. Mit dem
Verfall der arabischen
Medizin beginnt für die Augenheilkunde
ein langer und trauriger Zeitraum,
welcher bis in das 18. Jahrh. sich erstreckt und dadurch charakterisiert
ist, daß die in die
Hände unwissender Routiniers geriet, welche, in den Barbierstuben erzogen, gleich chirurgischen Handlangern
ihr
Fach behandelten. Die
Ärzte betrachteten die Augenheilkunde
als ein ihrer unwürdiges
Studium. Marktschreier durchzogen das Land und
boten den
¶
mehr
Blinden und Gläubigen ihre Dienste
[* 5] an. Dies Unwesen der Starstecherkunst herrschte während des 16.-17. Jahrh. fast
durch ganz Europa.
[* 6] Erst im 18. Jahrh. begann man, wieder einige Aufmerksamkeit auf die Augenheilkunde
zu verwenden; hier und da fingen
Ärzte von neuem an, den Krankheiten des Auges eine besondere Berücksichtigung zu schenken. Maître-Jean
in Frankreich war einer der ersten, welche manchen glücklichen Kunstgriff in der Kur der Augenkrankheiten ausübten. Boerhave
erwarb sich das große Verdienst, die Augenkrankheiten systematisch geordnet und beschrieben und auf eine rationellere Weise
abgehandelt zu haben. In Frankreich machte die Augenheilkunde
erfreulichere Fortschritte, erhielt aber bald eine zu mechanische
Tendenz, und es waren vorzüglich die Augenoperationen, welche später die französischen Ärzte beschäftigten. In Deutschland
[* 7] blieb die Augenheilkunde
lange zurück; Bartisch, Schurig, Widemann waren mehr Augenoperateure als Augenärzte; auch wurde Deutschland
bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts von italienischen und französischen Ärzten durchzogen, welche im Lande den Star
stachen.
Wenngleich indes Deutschlands
[* 8] Genius erst spät für diesen Zweig der Heilkunde erwachte, so war er es doch gerade, der ihn auf
einen dieser Doktrin würdigen Standpunkt erhoben hat. Barth in Wien,
[* 9] der Lehrer Beers, Ad. Schmidts, Lefébures und vieler andrer
ausgezeichneter Männer, und Richter in Göttingen
[* 10] gaben hierzu den ersten Impuls; der letztere gab die Augenheilkunde
wieder
der Medizin, als einen ihr integrierenden Teil, und das Studium und die Pflege derselben den Ärzten zurück. Richters Beispiel
folgten Conradi, Kortum, Arnemann u. a.; ganz vorzüglich aber waren es J.
A. ^[Johann Adam] Schmidt, Himly und Beer, welche zum
Aufblühen der in Deutschland thätig und erfolgreich wirkten. In Göttingen wurde unter Richters Leitung
eine Augenklinik errichtet, nach deren Vorbild ähnliche Anstalten fast aus allen wichtigern Universitäten Deutschlands ins
Leben traten. Indes ward in diesen Anstalten die Augenheilkunde
als ein der Chirurgie untergeordneter Zweig betrachtet und behandelt. Die
erste ausschließlich für Augenheilkunde
bestimmte Klinik entstand durch Beers Bemühungen in Wien.
Später erhielt Wien eine zweite Augenklinik unter Jägers Leitung. Gegenwärtig fehlt es in keiner der größern Städte Deutschlands
an einer besondern Heilanstalt für Augenkranke, und namentlich bestehen an allen, auch den kleinern deutschen Universitäten
Lehrstühle und klinische Anstalten, in welchen die Studierenden der Medizin mit der praktischen Augenheilkunde
vertraut
gemacht werden. Auch in das Regulativ von 1872 für die Staatsprüfung ist die Augenheilkunde
als Prüfungsgegenstand aufgenommen worden.
Ähnliches gilt, wenn auch nicht ganz in dem gleichen Umfang, von England, Frankreich und Italien. [* 11] Die staunenswerten Fortschritte, welche die in den beiden letzten Jahrzehnten gemacht hat, verdankt sie hauptsächlich den Physiologen, welche sich eingehender mit der Physik des Auges beschäftigten. Denn die Kenntnis einer Reihe innerer Augenkrankheiten war bis auf einen Punkt angekommen, wo für längere Zeit hinaus eine Grenze für deren weitere Ausbildung gesteckt zu sein schien. Da machte Helmholtz 1851 die hochwichtige Erfindung des Augenspiegels (s. d.), und damit war das Mittel gefunden, die bis jetzt so dunkeln krankhaften Veränderungen der tiefern Augengebilde (der brechenden Medien und der Netzhaut) genau zu erkennen und diejenigen Heilwege zu finden, welche dem jeweiligen, nun viel strenger unterscheidbaren Leiden [* 12] entsprechen.
Mit der Ausbildung des
physiologischen Teils der Augenheilkunde
, an welcher neben Helmholtz namentlich noch Donders
in Utrecht
[* 13] den rühmlichsten und fruchtbarsten Anteil genommen hat, ist auch die Forschung auf dem Gebiet der mikroskopischen
und pathologischen Anatomie des Auges Hand
[* 14] in Hand gegangen und wesentlich gefördert worden. Nicht geringere Fortschritte hat
der eigentlich kurative, zumal der operative, Teil der Augenheilkunde
gemacht. Die Technik der Augenoperation hat
eine hohe Vollendung erreicht, zahlreiche neue Operationsweisen und mehrere neue wertvolle Arzneimittel sind in die Praxis
der Augenheilkunde
eingeführt worden.
Der hervorragendste Repräsentant der in allen ihren Richtungen war Albrecht v. Gräfe in Berlin
[* 15] (gest. 1870), der Erfinder mehrerer
das Augenlicht erhaltender und sogar lebensrettender Operationen. Neben ihm sind zu nennen: Stellwag von
Carion und Arlt in Wien, Coccius in Leipzig,
[* 16] Mooren in Düsseldorf,
[* 17] Gräfe in Halle,
[* 18] Pagenstecher in Wiesbaden,
[* 19] Bowman und Liebreich
in London,
[* 20] Knapp in New York u. a. Von den in Deutschland gegenwärtig gangbarsten Lehrbüchern der Augenheilkunde
sind zu
nennen: die von Stellwag v. Carion (5. Aufl., Wien 1882), Schweigger (4. Aufl., Berl. 1880), Schelske (das.
1870-74, 2 Bde.), Schauenburg (6. Aufl., Braunschweig
[* 21] 1873), Hersing (4. Aufl., Stuttg. 1884), Meyer (3. Aufl., Berl. 1883)
u. a.
Vgl. Hirsch,
[* 22] Geschichte der Augenheilkunde
(Leipz. 1877);
Cohn, Vorarbeiten für eine Geographie der Augenkrankheiten (Jena [* 23] 1874).