Altkatholi
cismus,
die Richtung in der kath. Kirche, besonders Deutschlands, [* 2] die den Beschlüssen des Vatikanischen Konzils (s. d.) die Anerkennung versagt und in der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit einen Abfall von der alten kath. Kirchenverfassung erkennt. Im Aug. 1870 vereinigten sich zu Nürnberg [* 3] eine Anzahl kath. Professoren, wie Döllinger, Friedrich, Michelis, Reinkens, von Schulte u. a., zu einer ablehnenden Erklärung gegenüber dem Konzil. Nachdem sich die deutschen Bischöfe, entgegen ihren frühern Erklärungen, um der kirchlichen Einheit willen den Konzilbeschlüssen unterworfen hatten und die Pfarrer und Professoren, die ihnen nicht folgten, mit dem Bann belegten, erklärten gegen 1400 gebildete kath. Laien in einem zu Königswinter entworfenen Protest, daß sie die vatikanischen Dekrete über die absolute Gewalt des Papstes und über dessen persönliche Unfehlbarkeit als eine mit dem Glauben der Kirche in Widerspruch stehende Neuerung verwerfen müßten.
Unter
Döllingers Vorsitz wurde
Pfingsten 1871 zu
München
[* 4] der kath. Standpunkt gegenüber dem vatikanischen festgestellt. Im
September fand zu
München der erste
Kongreß der Altkatholiken
statt, der das Programm für die notwendige Kirchenreform beschloß
und Maßnahmen für die Seelsorge und Gemeindebildung unter den Altkatholiken
traf; infolgedessen entstanden
eine große Zahl von Altkatholi
kenvereinen mit eigenen Gottesdiensten an vielen Orten
Deutschlands.
Der zweite Kongreß zu Köln [* 5] (1872) bereitete die Wahl eines eigenen Bischofs vor, welche am auf den Breslauer Professor Reinkens (s. d.) fiel. Ihm trat eine Synodalrepräsentanz (4 Geistliche, 5 Laien) zur Seite;
die Regierungen von Baden, [* 6] Hessen [* 7] und Preußen [* 8] erkannten Reinkens als kath. Bischof an;
Preußen gab ihm einen Gehalt;
auch die altkath. Gemeinden und deren Anrecht an die kath. Kirchengebäude und an das Kirchenvermögen
wurden gesetzlich anerkannt. In
Bayern
[* 9] verhielt sich die Regierung gegen den Altkatholi
cismus ablehnend;
erklärte
sie auf
Antrag der röm.-kath.
Bischöfe, sie betrachte die Altkatholiken
nicht mehr als Mitglieder der kath.
Kirche, und verlieh
ihnen 2. April nur die
Rechte einer Privatkirchengesellschaft.
Nach
Annahme der Synodal- und Gemeindeordnung (1878) ist die
Synode mit dem
Bischof das innerkirchliche Organ des Altkatholi
cismus geworden;
die
Kongresse (der zwölfte fand 1894 zu Rotterdam
[* 10] statt) beschäftigen sich mehr mit der äußern
Verbreitung der
Ideen. Die
Synoden wurden 1874-79 jährlich in
Bonn
[* 11] abgehalten, seit 1880 in unregelmäßigen Zwischenräumen, die vierzehnte 1895. Es
wurden Lehrbücher für den Religionsunterricht nach altkath. Grundsätzen herausgegeben, ein deutsches Rituale für die
Spendung der
Sakramente und ein deutsches Altarbuch für die
Messe; viele Bräuche wurden abgeschafft,
so das Ablaßwesen, die Übertreibungen der
Heiligenverehrung, die
Skapuliere, die allgemeine Verpflichtung zur
Ohrenbeichte,
die Prozessionen und Fastengebote; auch die Meßstipendien und
Stolgebühren wurden beseitigt, die
Wahl der Pfarrer durch die
Gemeinden eingeführt und Priesterehe gestattet. Der Altkatholi
cismus knüpfte
Beziehungen mit allen bischöfl.
Kirchen
an, die sich frei von
Rom
[* 12] gemacht haben. Die
Bonner Unionskonferenzen (vgl. den
Bericht, hg. von Reusch,
Bonn 1874
u. 1875), an
denen ausländische und deutsche evang. Theologen teilnahmen, haben zwar keinen unmittelbaren
Erfolg gehabt, aber doch bewiesen, daß eine Verständigung möglich ist. Es giebt in
Preußen | 40 Gemeinden mit 15000 Seelen u. 20 Priestern | |||||
---|---|---|---|---|---|---|
Baden | 37 | " | 14400 | " | 22 | " |
Hessen | 3 | " | 900 | " | 2 | " |
Bayern | 19 | " | 4500 | " | 7 | " |
Deutschland | 99 Gemeinden mit 34 800 Seelen u. 51 Priestern |
dazu 5 Priester und 3000 Seelen in der Diaspora. Außerhalb
Deutschlands gewann der Altkatholi
cismus namentlich in der
Schweiz
[* 13]
Boden, wo er noch entschiedener mit der hierarchischen
Tradition brach. Die Kantone des
Bistums Basel
[* 14] erklärten sich Nov. 1892 gegen
das Dogma von der
Unfehlbarkeit und setzten den
Bischof Lachat ab. Unter
Führung von
Augustin
Keller und Professor
Munzinger
bildeten sich «christkatholische» Gemeinden.
Die erste christkath.
Synode 1875 setzte die
Verfassung fest; 1876 wurde Professor
Herzog (s. d.) zum
Bischof gewählt.
Eine christkatholische Fakultät besteht an der Universität Bern. [* 15] 1890 gab es in der Schweiz 55 Gemeinden mit 73000 Seelen und 72 Geistlichen. In Österreich, [* 16] wo die Gründung altkath. Gemeinden sehr erschwert wurde, konstituierte sich 1872 eine in Wien, [* 17] dann eine in Ried; neuerdings ist auch in Nordböhmen, mit dem Mittelpunkt in Warnsdorf, eine bedeutsame altkath. Bewegung hervorgetreten. 1888 organisierten sich die österr. Altkatholiken in ähnlicher Weise wie die deutschen, wählten einen Bistumsverweser (Czech) und Synodalrat. 1890 zählten sie 22 Gemeinden mit 10 500 Seelen und 7 Priestern. In Frankreich suchte Pater Hyacinthe (s. d.) eine gallikanisch-kath. Kirche zu bilden.
Auch einige Priester in
Italien
[* 18]
(Graf Campello),
Spanien
[* 19]
(Cabrera) und Nordamerika
[* 20] sammelten kleine altkath. Gemeinden um sich. 1889 traten
die drei altkath. («jansenistischen»)
Bischöfe in
Holland, der deutsche und schweiz.
Bischof sowie der
österr. Bistumsverweser in
Verbindung, und die
Kongresse von 1890 und 1892 wurden als «internationale» ausgeschrieben.
Organe des Altkatholicismus
sind: «Deutscher
Merkur»
[* 21]
(München, seit 1870);
«Altkath. Kirchenblatt» (Bonn, seit 1874);
«Altkath. Volksblatt» (Bonn, seit 1885);
«Der Katholik, schweiz. Organ für kirchlichen Fortschritt» (Bern, seit 1877);
in Holland «Oud Katholiek»;
in Italien «Il Labro»;
in Spanien «La Luz».
Aus der reichen Litteratur sind hervorzuheben: Friedberg, [* 22] Aktenstücke, die altkath. Bewegung betreffend (Tüb. 1876);
Beyschlag,
Der Altkatholicismus
(Halle
[* 23] 1882);
von Schulte, Der Altkatholicismus
, Geschichte seiner Entstehung, innern Gestaltung und rechtlichen
Stellung in
Deutschland
[* 24] (Gieß. 1887);
Döllinger, über Wiedervereinigung der christl. Kirchen.
Sieben Vorträge gehalten zu
München 1872 (Nördl.
1888);
Thikötter, Der Altkatholicismus
(Barm. 1889);
Friedrich, Der Altkatholicismus
im Lichte der
¶
mehr
geschichtlichen und christl. Wahrheit (Münch. 1889); Gegenwärtige Ausbreitung der altkath. Bewegung von J. Wd. (Essen [* 26] 1890); Braasch, und Romanismus in Österreich (2. Aufl., Frankf. 1890).