Werkes), Dionysius von Halikarnassus,
Flavius Josephus, Plutarch,
FlaviusArrianus,
Appianus, Dio
Cassius, Herodianus u. a. Die
Theorie der
Beredsamkeit und des rhetorischen
Stils behandeln Dionysius von Halikarnassus,
Apollodorus von Pergamon,
[* 2]
Theodorus von
Gadara (beide
Gründer besonderer rhetorischer Schulen, die sich nach ihren
Meistern Apollodoreer und Theodoreer nannten) u. a.
Aus der hohen Bedeutung, die der rhetorischen
Bildung in dieser Zeit beigelegt wurde, entwickelte sich
seit dem 2. Jahrh. n. Chr. die Schule der sog.
(neuern)
Sophisten, geistreicher
Männer, die namentlich auch als eine Art
Improvisatoren in Prosa Vorträge hielten über die
verschiedensten Gegenstände, als
Muster des guten
Geschmacks und glänzender, geistreicher
Darstellung. So
hoch aber auch in gewisser
BeziehungMänner wie
ÄliusAristides, Dio
Chrysostomus u. a. zu schätzen sind, so bedingte doch
die ganze
Richtung ein völliges Überwiegen der Form über den
Stoff, das mehr und mehr zu bloßen geistreichen Spielereien
führte. Am wenigsten ist letzteres der Fall bei dem hervorragendsten
Geist in diesem ganzen
Kreise,
[* 3] Lucian.
An die
Sophistik schlossen sich die Romanschriftsteller an, die als eine Art Ersatz für das verklungene Epos ihren
Lesern
zum
Teil wunderbare und abenteuerliche, zum
Teil idyllisch-zärtliche
Geschichten darboten. (S.
Erotiker.) Ernstere
Studien findet
man auch jetzt noch, insbesondere in
Alexandria, auf dem Felde der Kritik und Exegese der ältern Schriftsteller,
besonders der Dichter und namentlich der
Grammatik im engern
Sinne und der Lexikographie, der Metrik
(Heliodorus und Hephästion),
dann der Mathematik und
Astronomie
[* 4] (Theon,
ClaudiusPtolemäus, Kleomedes, Diophantus, Pappus), endlich auf dem Gebiete der
Heilkunde
(Dioskurides,
Rufus von Ephesus, Soranus,
Aretäus,
Galenus, Oribasius).
Seit dem Ende des 2. und dem Anfang des 3. Jahrh. treten auch die ersten
christl. Schriftsteller auf; ihrer
Polemik gegenüber versuchte das
Heidentum sich neu zu kräftigen und zu verjüngen durch
die mystisch-theosophischen
Philosopheme der Neupythagoreer und Neuplatoniker. Seit dem 4. Jahrh. gelangt zwar das
Christentum zur Herrschaft, allein die Litteratur bewahrt noch geraume Zeit den heidn. Charakter;
ja es tritt noch am Anfang des 5. Jahrh. eine neue Schule mytholog.
Epiker auf, an deren
Spitze Nonnus steht, ein Dichter ohne
ursprüngliche gestaltende Kraft;
[* 5] noch lebloser sind Tryphiodorus und Kolluthus sowie der wohl ältere
Quintus Smyrnäus.
In der Regel schließt man die Geschichte der antikenGriechische Litteratur mit der Zeit Justinians
(527-565) ab und rechnet von da an die
Byzantinische Litteratur (s.
Byzantiner).
Vgl. K. O.
Müller, Geschichte derGriechische Litteratur bis auf das Zeitalter
Alexanders d. Gr. (Bresl. 1841; 4. Aufl.,
mit Anmerkungen und Fortsetzung bearbeitet von E. Heitz, 2 Bde.,
Stuttg. 1882-84);
Bernhardy, Grundriß derGriechische Litteratur (Bd.
1, 4. Bearbeitung,
Halle
[* 6] 1876; Bd. 2,
Tl. 1
u. 2, 3. Bearbeitung, 1877-80;
Tl. 1 in 5. Bearbeitung von R.
Volkmann, ebd. 1892);
Munk, Geschichte derGriechische Litteratur (mit vielen
Auszügen in
Übersetzung, 3. Aufl., besorgt von
Volkmann, 2 Bde.,
ebd. 1880);
Mähly, Geschichte der antiken Litteratur (2 Bde., Lpz.
1880);
Mahaffy, History of classical Greek
literature (2 Bde., 2. Aufl.,
Lond. 1890);
Burnouf, Histoire de la littérature grecque (2 Bde., 2. Aufl.,
Par. 1885);
Sittl, Geschichte derGriechische Litteratur bis auf
Alexander d. Gr. (3 Bde.,
Münch. 1884-87);
W.
Christ, Geschichte derGriechische Litteratur (Bd. 7 vom
«Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft», hg. von I.
Müller, Nördl. 1888; 2. Aufl.,
Münch. 1890);
Musik. Die Grundlage des griech. Tonsystems ist ein
Komplex von vier
Tönen,
Tetrachord
(Viersaiter) genannt. Zwei solcher
Tetrachorde e, f, g,
a unda, b, c', d' bilden die dor. siebensaitige
Lyra.
[* 7] Obgleich bereits
Terpander von
Lesbos (7. Jahrh.
v. Chr.) eine hohe e'-Saite kannte, behalf man sich doch lange Zeit der heiligen Siebenzahl
zuliebe in der obern Hälfte der Oktave mit einer unvollständigen Tonreihe, und erst die am
Hofe des
Hipparch (um 520
v. Chr.)
in
Athen
[* 8] thätigen
Musiker Lasos und
Simonides scheinen die Oktave vervollständigt zu haben. Die
Tetrachorde waren nun: e, f,
g,
a und h, c',
d', e'; Grundton war das in der Mitte liegende a. Während
dieser
Umfang in den mit einfacher
Lyra begleiteten Skolien (Rundgesängen) der griech.
Jugend niemals überschritten wurde,
spannten die Künstler auf ihrer Kithar auch tiefere
Saiten auf. In der Blütezeit griech.
Dichtung und Sangeskunst besteht
das Tonsystem aus folgenden
Klängen:
Die um 400
v. Chr. in
Athen thätigen Dithyrambendichter brachten dazu eine hohe f-Saite in
Aufnahme und später wurde den drei
Tetrachorden noch ein viertes, das der überhohen
Tönea', g', f', e' (von oben nach unten) beigefügt.
Den
Weisen, die man von alters her zum
Trankopfer blies oder sang, lag indes eine noch einfachere Tonreihe als das
Tetrachord
zu
Grunde. Man übersprang den
Ton g und ließ die
Stimme nach dem lange und vielgebrauchten
Ton a gleich
auf f hinabsinken; endlich löste sich dieser als
Vorhalt gebrauchte
Ton in das tiefe e auf. (Plutarch,
«Musik»,
Kap. 11;
Aristoteles,
«Probleme», 19, 3 und 4). Diese Tonweise hieß die enharmonische. Das Überspringen
des
Tones g blieb in dieser Sangesart stets
Sitte; wollte man noch eine vierte
Saite im
Tetrachord verwenden,
so stimmte man die ehemalige g-Saite
auf f herab und legte zwischen den Leiteton f und die Schlußnote e noch einen Zwischenton
ein. In diesem Falle hatte das enharmonische
Klanggeschlecht von oben nach unten gerechnet erst eine große
Terz (a-f), dann
zwei Vierteltöne (f-e). Das chromatische Geschlecht, von dem die theoretischen Schriftsteller auch gern
reden, war wohl nie recht in
Übung. Es soll erst eine kleine
Terz, dann zwei halbe
Töne umfaßt haben: a ges f e.
man, wie es scheint, fast immer im Einklang gespielt; dagegen war das Spiel auf der Doppelflöte zweistimmig. Dabei wurde
neben der Oktave nur die Quinte und Quarte als Konsonanz angesehen, die Terzen galten in der Theorie wie in der Praxis als Dissonanzen.
Daß sie also jemals zu einem Schlußaccord verwendet worden wären, ist völlig undenkbar.
Was die Tonarten betrifft, so bestand von alten Zeiten her neben der bisher besprochenen dor. Tonleiter (e a e') eine phrygische
und eine lydische. Die Eigentümlichkeit der phrygischen bestand darin, daß der halbe Ton jedesmal die Mitte des Tetrachords
einnahm, also:
Schon die von Ptolemäus in seiner «Harmonik», 2, Kap. 11 angestellte Erwägung, daß für den Gesang in jeder Tonart ein und dieselbe
Oktave am bequemsten sei, weil die Stimme sonst zu hoch geschraubt oder zu tief gedrückt werde, legt uns den
Gedanken nahe, auch die phrygische und lydische Tonart von e bis e' anzusetzen. Für die achtsaitige Lyra hatte man ohnehin keine
andere Wahl; überdies wird nur durch diese Annahme der Umstand erklärlich, daß später bestimmte Versetzungen der dor. Grundskala
als phrygisch oder lydisch bezeichnet werden. Thatsächlich heißt die um einen ganzen Ton höher laufende,
im übrigen dem dor. Grundsystem nachgebildete Tonleiter bei allen Schriftstellern eine phrygische. Die Sache wird erklärlich,
wenn man sich die oben angeführte phrygische Oktave e fis g a u. s. w. zu einem ähnlichen
System wie das oben angegebene erweitert denkt: H cis d e, fis g a h, cis' d' e' fis'.
Der stets nach seinen heimatlichen Begriffen rechnende Grieche hatte sich offenbar auf seiner Lyra das Phrygische
[* 12] durch Erhöhung
der f-und c-Saite hergestellt; dann aber konstruierte er sich aus dieser fremdländischen Tonreihe wieder ein System H cis
u. s. w., welches seinem nationalen Grundsystem A h c d u. s. w. aufs Haar
[* 13] glich, nur um einen Ton höher
gestimmt war. Der Ausdruck tonos phrygios, phrygische Stimmungsart, ursprünglich von der Art gebraucht, in der man sich eine
Lyra phrygisch stimmen konnte, bezeichnet in der spätern Zeit eine Tonreihe, die einen Ton höher steht als das Grundsystem.
Ebenso erwuchs aus der Reihe e fis gis a h cis' dis' e' (aus der der Lyra angepaßten lydischen Oktave
mit Höherstimmung von vier Saiten) eine Nachbildung des dor. Grundsystems, die um eine große Terz höher stand als dieses
und mithin cis zum Grundton hatte.
Die bis zur Quinte abwärts verlängerte Tonreihe enthielt neben der dor. Grundoktave e-e' mit Grundton
a in der Mitte noch eine eng verwandte als hypodorisch oder halbdorisch bezeichnete Oktave A-a. Auch der mit zwei Erhöhungen
gebildeten phrygischen Tonleiter ging eine ebenso zusammengesetzte Reihe von A-a als hypophrygische Tonart mit Halbton an dritter
und sechster Stelle zur Seite, und ein Gleiches war wiederum mit der lydischen Tonart der Fall: hypolydisch
A-a mit vier erhöhten Stufen.
Übertrug man aber auch diese Nebenoktaven auf den Umfang e-e' der Lyra, so bekam man:
Wie
aus den drei Hauptskalen Nachbildungen des Grundsystems (transponierte Skalen) entstanden waren in A-, H- und Cis-moll,
so erwuchsen aus den drei Nebenoktaven eben solche Versetzungen in E-, Fis- und Gis-moll.
In röm. Zeit änderte sich das System. Normaloktave war nicht mehr e-e', sondern f-f'. Aus dieser Periode
haben wir die Notenverzeichnisse des Alypios, in denen die nie gebrauchte hypolydische Skala die einfachste, während die
dorische einer künstlich abgeleiteten Tonart mit 5 b ^[vgl. Abb] gleich sieht.
Der durch Terpander von Lesbos begründete kitharodische Nomos (Sologesang eines Virtuosen, von ihm selbst
auf der großen, zum Konzert geeigneten Kithar begleitet), dessen Inhalt Lobpreis und Anrufung einer Gottheit bildete, blieb
allezeit die am meisten bewunderte, bei allen Gesangsfesten am höchsten geehrte Leistung musischer Kunst. Auf derselben
äol. Insel bildete sich durch Alcäus und Sappho um 600 v. Chr. eine mehr auf persönliches Empfinden gerichtete
Sangesart aus, die man sich auf der jedem Griechen vertrauten Lyra begleitete, und die leichtlebigen Bewohner der gesegneten
ion. Kolonialstädte machten sich diese lyrische Poesie gern zu eigen (Anakreon 530). Rein instrumentales Zitherspiel, in Argos
um 570 v. Chr. aufgebracht und später regelmäßig zur Preisbewerbung bei Musikfesten zugelassen, konnte
sich dem Gesang gegenüber nie zu großer Bedeutung erheben.
Dem lange Zeit als ungriechisch gehaßten Aulos, einem nach Art der Klarinette gebauten Doppelinstrument, hat dagegen Sakadas
um 580 v. Chr. nicht nur dauernde Zulassung zur Preisbewerbung an dem pythischen Normalfeste verschafft, indem er den Kitharoden
zum Trotz Apollos Kampf und Sieg über den delphischen Drachen in einem mehrteiligen Konzertstück mit malender
Programm-Musik darzustellen wußte (pythischer Nomos). Die den Saiteninstrumenten an Schallkraft weit überlegene Doppelflöte
errang sich sogar mit der Zeit immer steigenden Einfluß auf das musikalische Leben in Griechenland. Im dor.
Peloponnes war die Flöte von Anfang an geduldet gewesen; für den dort aufblühenden Chorgesang
war sie ja ohnehin kaum zu entbehren. Nachdem man nämlich von jeher Götter und Heroen durch festliche Reigen und Prozessionen
geehrt hatte, ließ sich besonders der dor. Stamm die Ausbildung dieser mit Gesang verbundenen Chortänze angelegen sein, indem
Alkman (um 640 v. Chr.) die Spartaner, Stesichoros (um 580 v. Chr.) die Bewohner der sicil. Kolonien mit
solchen Liedern versorgte. In ihre Fußstapfen tretend, hat der thebanische Pindar den Ruhm olympischer und pythischer Sieger
mit seinen Chorhymnen verherrlicht. Als sodann im 5. Jahrh. v. Chr. an dem großen Dionysosfeste zu Athen Äschylos und Sophokles
ihre Dramen zur Aufführung brachten, da stand hinter der Tiefe ihrer Gedanken und der Schönheit ihrer
Sprache
[* 14] die melodische und rhythmische Gestaltung ihrer Chorgesänge keineswegs zurück. Athens Blütezeit war zugleich der
¶
mehr
Höhepunkt musischer Kunst in Griechenland. Im folgenden Jahrhundert begann durch Timotheos von Milet u. a. Dithyrambiker der
Gesang in leere Künstelei auszuarten, und in der hellenistischen Zeit blühten zwar in Teos wie anderwärts Kunstschulen,
allzeit bereit zu jedem Feste die gewünschte Zahl von Virtuosen zu entsenden, aber der edle Gehalt echter,
anspruchsloser Kunst war geschwunden.
Die griechische Notenschrift war eine Buchstabenschrift, die, nach den geringen Resten der überlieferten Tonstücke zu schließen,
bereits weit entwickelt war und sogar die Singnoten von den Instrumentalnoten unterschied. Die Dauer des Tones wurde für den
Gesang nicht notiert, weil sie sich aus dem Metrum des Textes ergab; dagegen hatte man bestimmte Zeichen
für die Tondauer, Taktart, Pausen u. s. w. in der Instrumentalmusik. «Die Hymnen des Mesomedes» (120 n. Chr.), ziemlich die
einzigen aus dem Altertum erhaltenen Melodien, hat F. Bellermann (Berl. 1840) herausgegeben. Reicher sind wir mit Schriften trockner
Theoretiker versehen. Sieben derselben hat Meibom (Amsterd. 1652), drei andere (Ptolemäos,
Porphyrios, Bryennios) Wallis
(«0pera», Bd.
3, Oxf. 1699), den Boethius Friedlein (Lpz. 1867), den Hauptschriftsteller Aristoxenos Marquard in neuer Bearbeitung
(Berl. 1868) und Westphal (Lpz. 1893),
Roßbach
[* 16] und Westphal, «Metrik der griech. Dramatiker
und Lyriker», 2. Tl., 1. Abteil.: «Harmonik und Melopöie» (zuerst Lpz. 1863, in den spätern Auflagen nur mit großer Vorsicht
zu benützen);
der Artikel von Fortlage, «Griech. Musik» in Ersch und Grubers «Encyklopädie» (Sekt. 1,
Bd. 83, Lpz. 1863);
Gevaert, «Histoire et théorie de la musique de l'antiquité» (2 Bde.,
Gent
[* 17] 1875-81).
Über die griech. Tonarten handelt C. von Jan in der «Allgemeinen Musikzeitung», 1878, S. 705, über die Flöten
in der «Allgemeinen Musikzeitung», 1881, S. 465; über die Saiteninstrumente im «Programm» des Saargemünder
Gymnasiums 1882; über pythische und andere Festspiele in dem «Bericht» über die Philologenversammlung zu Zürich
[* 18] 1887, S. 71.
1) Saiteninstrumente, die oben erwähnten echt griechischen: Lyra und Kithara,
[* 19] die übrigen vermutlich asiat. und ägypt.
Abstammung: Barbiton, Pectis, Magadis, Simikion, Epigonion, Trigonon, Sambyke, Psalterion, erst in spätröm.
Zeit kommt das Pandurion auf, ein Instrument mit Griffbrett;
3) Schlaginstrumente: Krembalon, Krotalon (Holzklapper), Seistron (lat. Sistrum,
[* 21] ägypt. Klapperinstrument), Kymbalon (lat.
Cymbalum, Becken), Tympanon
[* 22] (Handpauke, Tamburin), Krupezion (lat. Scabellum), mit dem Fuße getreten zur Angabe
des Taktes.
Mythologie, die Gesamtheit der Sagen oder Geschichten, welche die alten Griechen von Göttern und Heroen,
göttlichen und halbgöttlichen Wesen, erzählten, sowie die Wissenschaft davon. Insofern das, was die Griechen von ihren
Göttern glaubten, im wesentlichen in den Mythen enthalten ist, begreift man unter Griechische Mythologie wohl auch
die
Wissenschaft von der Religion der Griechen. Doch deckt sich beides nicht vollständig. Denn die Religion äußert sich ebensosehr
in dem Kultus, der den Göttern gewidmet wird, als in den Mythen, die in betreff ihrer geglaubt und erzählt werden, und wenn
die Mythologie in der ältesten Zeit so ziemlich mit dem religiösen Glauben zusammenfällt, so tritt
hierin später eine wesentliche Änderung ein.
Immer kann man sich aus der Mythologie der Griechen ein annähernd deutliches Bild ihres Glaubens in der frühesten Periode
ihres Volkslebens machen, wo der Volksgeist, zum begrifflichen Denken noch nicht erstarkt, die Dinge und Kräfte, von welchen
die Menschen sich beeinflußt fühlen, als beseelte mächtigere Wesen dachte, die nicht nach bestimmten
Gesetzen, sondern wie Menschen nach den Eingebungen ihres Charakters, ihrer Stimmungen und Leidenschaften handeln. (S. Mythus
und Mythologie.) Dabei schloß man aus der besondern Art jeder Kraftäußerung auf das Wesen der in ihr wirksamen Gottheit.
Im Lichte und der Bewegung der Sonne
[* 23] sah man die Thätigkeit des den Sonnenwagen lenkenden Helios,
[* 24] in dem
des Mondes die der fackeltragendcn Artemis,
[* 25] Hekate
[* 26] oder Selene;
[* 27] in der Befruchtung
[* 28] der Erde durch den vom Himmel
[* 29] herabfallenden
Regen erkannte man die Liebesvereinigung des Uranos mit der Gaia oder des Zeus
[* 30] mit Demeter.
[* 31]
Die finstern Gewitterwolken erschienen als furchtbare Gorgonen;
der zuckende, vom Himmel fallende Blitz als hinkender, auf
die Erde herabgeworfener Hephaistos;
[* 32]
im Sturmwind zeigte sich die Kraft
des geflügelten Hermes,
[* 36] im tosenden Flusse vermutete man ein stierartiges Wesen (s. Flußgötter).
In den Leben und Nahrung
spendenden Quellen wohnten fruchtbare Nymphen; das gewaltige Meer mit seinen stürmenden Wogen beherrschte der mächtige rosselenkende
Poseidon,
[* 37] der die Erde durch den Stoß seines Dreizacks erbeben läßt. Dann wieder war es die geheimnisvolle
Macht des glänzenden Feuers, das in feuerspeienden Bergen
[* 38] in unbändiger Macht aus der Erde hervorquillt (Typhon), aber auch
von den Altären der Götter oder von den Feuerherden inmitten der Wohnstätten, wo es zugleich zur Bereitung der Speisen diente,
aufflammend die Gaben der Menschen zu den Göttern hinaufzutragen schien (Hestia).
[* 39]
Eine andere Reihe göttlicher Wesen verdankt ihre Entstehung dem Seelen- und dem verwandten Alp- oder Marenglauben, der vor
allem die den alltäglichen Verlauf des Lebens unterbrechenden Erscheinungen von Krankheit und Tod zu erklären sucht. Obwohl
dieser niederste religiöse Standpunkt von den Griechen in ihrer geschichtlichen Zeit sonst längst überwunden ist,
so bleiben doch auch bei ihnen die an Krankheit, Tod und das Fortleben der Seele nach dem Ausscheiden aus dem Körper anknüpfenden
Vorstellungen im wesentlichen immer auf dieser ältesten Stufe stehen.
Mit der Herausbildung einer gemeinsamen hellenischen Mythologie galt es nun nicht bloß, die Masse der verschiedenartigen
Mythen zu einem Ganzen zu verschmelzen; gleichzeitig fand eine Umbildung statt, die mit Notwendigkeit aus
der Doppelnatur dieser Götter sich ergab. Denn obgleich die wichtigsten derselben ihrer Grundbedeutung nach Naturgewalten
¶
mehr
und Naturerscheinungen vorstellen, so sind sie nichtsdestoweniger menschenähnliche Persönlichkeiten, in denen auch die
ethischen, geistigen Mächte, die das Menschenleben beherrschen, sich verkörpern. Und diese sind es, welche, je konkreter,
individueller die göttlichen Persönlichkeiten werden, immer mehr deren Natur erfüllen, ihr wahres Wesen ausmachen. Nun
ward vor allem aus dem Gott des allumspannenden, bald in milder Klarheit leuchtenden, bald in furchtbarer
Majestät unter Donner und Blitz erscheinenden Himmels (Zeus) der ebenso milde als erhabene höchste König und Vater der Götter
und der Menschen, der das Recht beschützt, das Unrecht straft, dem eine rechtmäßige Gemahlin in Hera
[* 41] zur Seite steht, der
Beschützerin der rechtmäßigen Ehen und Ehefrauen.
Aus Athena, der Göttin der Gewitterwolke und des Blitzes, die im Gewittersturm aus dem Wolkenhaupt des Himmelsgottes entsprungen
ist, wurde eine Tochter seines Gedankens, welche alles lichte, klare Denken, Wollen und Schaffen freudig fördert. Aus dem alles
erleuchtenden Gotte der Sonne (Apollon)
[* 42] ward ein alles sehender Beschützer und Verleiher der Reinheit der
Seele wie des Leibes, und heller, hoher Einsicht und Weisheit, und damit auch der Kunst des Dichters und Sehers wie des Arztes.
Aus Dionysos,
[* 43] dem Gott des üppigen Wachstums, der Vegetation und vor allem des Weins, wurde ein Gott, der ebenfalls seine
Verehrer mit Begeisterung erfüllt, nur eben nicht mit der klaren, bewußten, lichten, apollinischen,
sondern mit einem mehr leidenschaftlich erregten Enthusiasmus, wie er sich in der dramat. Kunst
zeigt. Aus der Göttin der Erdfruchtbarkeit Demeter wurde eine Lehrerin und Beschützerin des Ackerbaues und der an den Ackerbau
geknüpften Kultur und festen Ordnungen des socialen und bürgerlichen Lebens, aus dem fruchtbaren Regen
spendenden Windgott Hermes der windschnelle Bote der Götter und ein Beschützer und Förderer jedweden menschlichen Verkehrs
und Handels und gewandter, gewinnender Rede.
Aus dem Blitzgott Hephaistos ward der Beschützer der mit dem Feuer arbeitenden Gewerbe und Künste, aus der Herdgöttin Hestia
die Göttin, welche den Verband der
[* 44] um das heilige Herdfeuer wohnenden Familien und der gleich den einzelnen Häusern ein gemeinsames
heiliges Herd- und Opferfeuer unterhaltenden Städte und Staaten heiligte und festigte, aus dem Beherrscher der Wogenrosse,
Poseidon, nicht nur ein Beschützer der Schiffahrt, sondern auch alles ritterlichen Wesens. Da wurden
aus Nymphen der rauschenden Quellen in den Musen
[* 45] die sangfrohen Lehrerinnen aller Künste, wurden die Chariten,
[* 46] die Göttinnen
der in wunderbarem Reize blühenden Natur, zu Spenderinnen holder Anmut u. s. w. Und während so die alten Naturgötter mehr
und mehr Vertreter ethisch-religiöser Ideen wurden, traten an ihre Seite auch Gottheiten, die von Haus
aus Personifikationen ethischer Ideen sind, wie Themis, Dike, Nike,
[* 47] Eirene u. dgl., oder solche Götter, in denen sich gewissermaßen
das Leben und die Erfahrungswelt ganzer Stände verkörperte, wie z. B. in Pan
[* 48] das Leben und Treiben der Hirten, in Asklepios
[* 49] das der Ärzte u. s. w.
In Rücksicht auf alle diese Gottheiten macht sich nun aber ganz besonders das poet. und künstlerische
Genie der Griechen geltend; die Gestalten der Götter wie die Sagen von ihnen gelangen bei den Griechen, zuerst durch die Dichter,
zur vollendeten, ebenso individuellen als idealschönen Gestaltung. In diesem Sinne
ist es wahr, daß Homer und Hesiod den
Griechen ihre Göttersage gedichtet hätten. Und nachdem die Dichter vorausgegangen waren, stellte die
bildende Kunst diese Idealgestalten in Statuen aus Holz,
[* 50] Marmor, Erz, Elfenbein und Gold,
[* 51] wie in Gemälden und andern Kunstwerken
leibhaftig dar.
Diese schöpferische Gestaltungskraft der Griechen erwies sich endlich auch besonders mächtig gegenüber ursprünglich fremden,
in ihre Götterwelt aufgenommenen Gottheiten und Sagen. Wenn nämlich die Griechen einige Grundanschauungen
und Elemente von Göttern und Sagen aus der gemeinsamen Urheimat des indogerman. Völkerstammes mitbrachten, vor allem den
Himmelsgott Zeus, und Sagen von den Kämpfen lichter Götter mit bösen Dämonen der Finsternis im Gewittersturm, vom Raub
und der Wiederbefreiung der als Rinderherden angeschauten lichten Wolken; wenn sie andere mit den nächstverwandten
Völkern gemein hatten, speciell mit Italikern, wie namentlich Hestia-Vesta, Hera-Juno; wenn sie dann aber vor allem selbst
in zahllose Stämme und Völkerschaften gegliedert, wie sie waren, eine unendliche Fülle von göttlichen und halbgöttlichen
Wesen und Sagen von diesen hervorbrachten und in immer neuen Wendungen fort- und umbildeten, so gewährten
sie doch auch noch fremdländischen Göttern, Mythen und religiösen Ideen und Kulten Aufnahme in ihren Olymp, eigneten sich
aber eben auch diese dann vollkommen an und verliehen ihnen hellenische schöne plastische Form und Gestaltung. Vor allem
gilt dies von der Göttin der Schönheit und Liebe selbst, von Aphrodite,
[* 52] die aus der orient. großen
Naturgöttin, der Personifikation der Fruchtbarkeit der Natur, in die schönste Göttin des Olymps umgebildet worden ist,
wenn zugleich auch einige Züge ihres Wesens auf einer Verschmelzung mit echt griech. Göttinnen,
wie Hebe und Charis, beruhen mögen.
Freilich war auch diese poet. und künstlerische Gestaltung der Mythologie nicht bloß Fortschritt. Wenn
die Götter und ihre Mythen Gegenstand der poet. und künstlerischen Phantasie werden, tritt die Gefahr ein, daß mit der Zeit
der religiöse Charakter der Mythologie vom ästhetischen überwuchert und daß die ursprüngliche Bedeutung der Götter als
Urheber der auf den Menschen einwirkenden Naturkräfte, welcher Bedeutung sie Ansehen und Verehrung verdankte,
unterdrückt werde.
Und dies ist denn auch geschehen. Wenn aber unter dem Einfluß der Dichtung und der bildenden Kunst eine Gottheit soweit menschlich
individualisiert war, daß ihre Grundbedeutung im Bewußtsein ihrer Verehrer schwand, so suchte man für die
nunmehr nicht durch eine Gottheit vertretene Naturkraft nach einem neuen Vertreter. Dabei konnte man neu schaffend vorgehen,
oder man griff zur Entlehnung von einem andern Stamm, in dessen Vorstellung sich die Urbedeutung der betreffenden Gottheit
klar erhalten hatte. So bilden sich Reihen wie Zeus, Apollon, Helios und Hera, Artemis, Hekate, Selene.
Zuweilen wird der einmal eingeschlagene Weg der Vermenschlichung so weit verfolgt, daß aus Göttern allmählich Heroen werden,
wie dies bei Herakles,
[* 53] Theseus, Amphiaraos, Trophonios der Fall sein dürfte, während andererseits ebenfalls unter dem Einfluß
der individualisierenden und charakterisierenden Kunst sich einzelne Seiten des Wesens einer Gottheit, welche durch besondere
Beinamen bezeichnet werden, von der Gottheit ablösen und neu ausgestaltet zu einer zweiten Art göttlicher Heroen
¶
mehr
entwickeln (so Eubuleus, Klymenos, Agamemnon, Aigeus, Erechtheus, Kallisto, Iphigeneia). Ihnen begegnen von der andern Seite
durch den Totenkult zu göttlichen Ehren gelangte und dadurch zu Heroen (s. d.)
gewordene Menschen. Auch die histor. Erinnerungen der Völker finden in den frühesten Zeiten einen sagenhaften Ausdruck und verwachsen
so mit den religiösen Mythen, in deren Umbildungen sich zum Teil selbst die Geschichte der Stämme widerspiegelt,
insofern Sagen von Streitigkeiten und Kämpfen oder von Wanderungen von Göttern oftmals nur die Spiegelbilder der Geschichte
der sie verehrenden Stämme und Völkerschaften sind, eine Seite der Mythenbildung, welche nach dem Vorgange Ottfried Müllers
in neuerer Zeit besonders H. D. Müller zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat. (S. auch Zwölf Götter.)
Die Quellen der Griechische Mythologie sind die Schrift- und Kunstwerke der Alten in dem Umfang, daß kaum ein Schriftsteller und nur eine kleine
Minderzahl von Kunstwerken davon auszunehmen sind. Von den litterar. Quellen sind am wichtigsten die Dichter,
voran Homer und Hesiod, dann die Logographen, ferner die Mythographen, welche schon im Altertum Mythensammlungen verfaßten,
von denen freilich neben Resten aus den ältern namentlich nur zwei spätere: Apollodorus in griech. und Hyginus in lat. Sprache,
vollständiger erhalten sind, endlich Geographen und Periegeten. Von den Kunstwerken sind für die Mythologie
neben den erhaltenen Statuen, Reliefs, Wandgemälden und Mosaiken namentlich die Vasen- und Münzbilder eine reich fließende
Quelle,
[* 56] während die geschnittenen Steine bei der großen Menge von Fälschungen mit besonderer Vorsicht zu benutzen sind.
Schon im Altertum und ebenso seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften haben die Rätsel der Mythologie
(s. Mythus und Mythologie) immer neue Forscher zu Deutungsversuchen gereizt. Hier sollen nur die Werke verzeichnet werden,
welche in neuerer Zeit die Kenntnis der Griechische Mythologie wesentlich gefördert haben.
Da von dem an Vollständigkeit des zusammengebrachten Stoffs alle andern mytholog. Werke übertreffenden
Ausführlichen Lexikon der griech. und röm. Mythologie (mit vielen
Abbildungen), das von W. H. Roscher im Verein mit einer größern Anzahl von Mitarbeitern herausgegeben wird, bis jetzt nur
der erste die Buchstaben A bis H enthaltende Band
[* 57] (Lpz. 1884-90) und die erste Hälfte des zweiten (I u.
K, 1891-93) erschienen ist, so ist einstweilen Jacobis Handwörterbuch der griech. und röm. Mythologie (2
Bde., Coburg
[* 58] 1830-35) wegen der Sammlung des litterar.
Materials immer noch unentbehrlich, als systematisches Handbuch aber ist an erster Stelle Prellers Griechische Mythologie (2 Bde.,
Lpz. 1854; 3. Aufl. von Plew, Berl. 1872-75;
von der durch Robert bearbeiteten 4. Aufl. ist 1887 die erste Hälfte des ersten Bandes erschienen) zu
nennen. Außerdem sind hervorzuheben: Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker (3. Aufl., 4 Bde., Darmst.
1836-43);
J. H. Voß, Antisymbolik (2 Bde., Stuttg.
1824-26);
C. O. Müller, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie (Gött. 1825);
Preuner, Hestia-Vesta, ein, Cyklus religionsgeschichtlicher Forschungen
(Tüb. 1864);
die mytholog. Artikel in Daremberg und Saglios «Dictionnaire des antiquités
grecques et romaines» (Par. 1873 fg.; bis 1893 sind 17, die Buchstaben A bis F enthaltende Lieferungen erschienen);
Roscher,
Studien zur vergleichenden Mythologie der Griechen und Römer:
[* 59] I. Apollon und Mars,
[* 60] II. Juno und Hera (Lpz. 1873-75);
Preuner, Jahresbericht über die griech. und röm. Mythologie
aus den J. 1873-75 und 1876-85 in Bursians «Jahresberichten über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft»,
Bd. 4, S. 1-144 und Supplementband 1886 fg. (Berlin);
[* 61]
Fr. Back, Jahresbericht über die Griechische Mythologie der J. 1886-90,
Bd. 26 (ebd.);
Gruppe, Die griech. Culte und Mythen in ihren Beziehungen zu den orient.
M. Mayer,
Die Giganten und Titanen in der antiken Sage und Kunst (Berl. 1887);
U. von Wilamowitz-Möllendorf, Euripides Herakles, Bd. 1 (ebd.
1889);
I.I. ^[Iohannes (schrieb sich selber mit I, so auch als Autor dieses Buches; vgl. Google Books sowie
Unterschrift auf Wikipedia dt.)] Töpffer, Attische
[* 62] Genealogie (ebd. 1889);
Laistner, Das Rätsel der Sphinx
[* 63] (2 Bde., ebd. 1889);
P. Stengel,
[* 64] Die griech. Sakralaltertümer (in I. von Müllers «Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft»),
Philosophie (Hellenische Philosophie). Die Philosophie des Abendlandes hat in Griechenland nicht bloß ihre
Wiege, sondern die Anfänge, die sie dort genommen, sind bestimmend geblieben für ihre ganze fernere Entwicklung. Der
Einfluß der auf die wissenschaftliche Gedankenbildung der Neuzeit ist ein kaum zu ermessender. Entstanden ist sie nicht
ohne beträchtliche Einwirkungen der ältern Kulturvölker des Orients. Aber schon früh tritt sie ihnen in scharf ausgeprägter
Eigenart gegenüber.
Den Grundcharakter der kurz zusammenzufassen ist nicht leicht. Ein unverkennbarer Grundzug ist die
früh erlangte Unabhängigkeit des Denkens, die Freiheit namentlich von der Fessel einer überlieferten Religion, die, Hand
[* 65] in
Hand mit der bürgerlichen Freiheit, so früh und allgemein wohl nirgends wie in Griechenland errungen wurde. Zeller bezeichnet
als charakteristisch für die alte Philosophie: vorschnelle Verallgemeinerung, einseitige Dialektik. Allerdings leidet
das Mittelalter an denselben Fehlern, und die Neuzeit hat sie keineswegs
¶
mehr
überwunden. Aber doch ist das ein nationaler Zug
der daß sie ganz auf Rede und Gegenrede (dem dialegesthai) beruht, daher
in begrifflicher Entgegensetzung, in Bejahung und Verneinung, sich fortbewegt. Die hochentwickelte Öffentlichkeit des antiken
Lebens, der Einfluß der gerichtlichen Rede und Gegenrede, der polit. Debatte, kurz die ganze so rege
Gemeinsamkeit des Daseins spiegelt sich auch in der deutlich ab. In der ältern Zeit sind die Philosophen fast durchweg
Staatsmänner; die Sophisten sind öffentliche Redner und Lehrer der Staatskunst; auf das öffentliche Leben beziehen sie die
ganze Aufgabe der Philosophie.
Ein Sokrates nötigt zur Unterredung den Handwerker in der Werkstatt, den gebildeten jungen Athener auf dem
Übungsplatz oder beim Gelage, den erfahrenen Greis bei der Festfeier; er ist überhaupt immer auf der Straße, er hat keine
Zeit ein anderes Geschäft zu treiben als das eine, die Menschen auszuforschen; er kommt kaum aus den Mauern der Stadt
heraus, die Felder und Bäume, sagt er, wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen. Von Plato stammt die dialogische
Darstellung in der Des Aristoteles zur Veröffentlichung verfaßte Werke waren Dialoge, Ciceros philos.
Gespräche ahmen den Charakter der Aristotelischen nach; fast kein Philosoph des 4. Jahrh. (d. h. der Blütezeit),
der sich dieser Form der Darstellung nicht bedient hätte. Sie bleibt aber auch auf die Folgezeit nicht ohne Nachwirkung.
«Logik» oder «Dialektik» (von logos Rede, dialektos Unterredung)
bleiben Grunddisciplinen. Und von der Eigentümlichkeit der griech. Sprache bleibt die bis zuletzt abhängig; die Scholastik
des Mittelalters war in der Scheidung des Sprachlichen vom Gedanklichen weiter als das gesamte Altertum.
Spitzfindigkeit gab es in der Philosophie aller Zeiten, aber die Subtilität der Griechen ist in eigentümlicher Art bedingt
durch ihre Sprache, die an Ausdrucksfähigkeit für feinste begriffliche Unterschiede wohl jeder andern überlegen ist. Nicht
bedeutungslos war auch, daß es kleine Gemeinwesen waren, in denen jener lebendige Geist der Öffentlichkeit
sich ausbildete; der polit. Blick reichte über die Küstenländer des östl. Mittelmeers
[* 67] kaum hinaus, selbst der geogr.
Gesichtskreis war nicht viel weiter, und so auch die kosmologischen Vorstellungen eng begrenzt; die Erde lag fest in der Mitte
der Welt, Sonne und Gestirne, belebte göttliche Wesen, umkreisten sie in nicht unmeßbar groß gedachten
Entfernungen; die Idee des Unendlichen taucht wohl auf, ein Aristarch von Samos faßt den Gedanken der Erdbewegung, aber der
Gegensatz des Unendlichen gegen das Endliche wird in seiner ganzen Wucht nicht empfunden, wie er den Modernen seit Kopernikus
zum Bewußtsein kam. Der Mensch bleibt der Mittelpunkt der Philosophie; die Grenzen
[* 68] der Menschheit überfliegen zu wollen liegt
dem Denken der Alten fern; und so, in dieser erkannten und innegehaltenen Begrenzung, konnte sie zu jener unbefangenen Ruhe
und Harmonie sich vollenden, die aus den Charakteren und Lebensanschauungen der Alten nicht minder als
aus ihren Bau- und Bildwerken uns entgegentritt.
Ebenso schwer wie der allgemeine Charakter der läßt sich der Charakter ihrer einzelnen Perioden kennzeichnen. Die Periodenteilung
selbst ist schwierig. Schon die Philosophie der Eleaten bezeichnet einen Wendepunkt. Doch pflegt man erst bei den Sophisten oder
bei Sokrates einen
schärfern Einschnitt zu machen. Gewiß zeugt das Auftreten der Sophisten (s. d.) von
einer tiefen Gärung im Denken der Griechen, in der das Alte sich aufzulösen scheint, Neues nach Gestaltung ringt.
Aber schwer ist es dennoch, mit einem Worte zu sagen, worin eigentlich das Neue bestand. Es ist nicht unrichtig, daß
schon die Sophisten, in entscheidender Weise aber Sokrates die Forschung von der Natur auf den Menschen lenkten; doch gilt das
nur mit Einschränkungen: weder waren der vorsophistischen Zeit die Probleme der Erkenntnistheorie und Ethik ganz unbekannt,
noch haben die Nachfolger des Sokrates es aufgegeben, das Ganze der Natur in den Bereich ihrer Untersuchung
zu ziehen.
Immerhin kann man, wie es meist geschieht, die vorsokratische Philosophie, die Philosophie von Sokrates bis (einschließlich)
Aristoteles und die nacharistotelische als leidlich in sich abgeschlossene Perioden betrachten. Mit Aristoteles schließt die
schöpferische, zugleich die reinhellenische Entwicklung der alten Philosophie ab. Man darf darum, was auf
Aristoteles folgt, nicht ohne weiteres als Verfall betrachten. Man arbeitet seitdem mit überkommenem Material, schafft aber
daraus neue systematische Einheiten; namentlich wird das Verhältnis zwischen Philosophie und Leben ein anderes. Auch bedeutet
der Verfall des reinen Hellenentums eine Erweiterung des Horizonts, eine Überwindung nationaler Schranken; noch im Neuplatonismus
sehen wir ein philos. System mit sehr eigenartigen Zügen, wenn auch weitgehender Verarbeitung des ganzen
überkommenen Gedankenstoffes, auftreten, das freilich am wenigsten von allen Systemen des Altertums ein national-hellenisches
war.
Es ist der naturgemäße, kindliche Anfang des Philosophierens, daß man sich von dem Ganzen der Welt ein einheitliches Bild
zu entwerfen sucht, und zwar wird dieser Versuch ganz dogmatisch gewagt, d. h.
ohne vorher zu entscheiden, ob unser Erkenntnisvermögen einer solchen Aufgabe gewachsen ist. Das ist denn auch das Vorgehen
der ältesten Richtung der der sog. Ionischen Naturphilosophie. Schon weit weniger naiv ist die Eleatische und die Herakliteische
Philosophie.
Indem die Eleaten die sinnliche Erfahrung verwarfen und ihre Lehre
[* 69] vom Einen Seienden aus lauter reinen
Begriffen aufbauten, war der ursprüngliche Dualismus der Erkenntniskräfte erkannt und damit die Frage nach dem wahren
Quell der Erkenntnis aufgeworfen. Aber auch die entgegengesetzte LehreHeraklits, obwohl der ältern ion. Richtung näher stehend,
blieb doch nicht ohne Empfindung jenes Gegensatzes; gerade indem sie ein identisch beharrendes Sein verwarf,
ein im ewigen Gegensatze lebendiges Werden behauptete, mußte sie das Bewußtsein jenes Dualismus rege erhalten.
Daneben steht die Pythagoreische Philosophie, die, gegründet auf der Überzeugung von dem Erkenntniswert der Mathematik,
von einer neuen Seite auf das Erkenntnisproblem hinwies. Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten ringen
mit der Aufgabe, den großen Gegensatz der Seins- und Werdenslehre durch neue Konstruktionen, die zugleich den Erfahrungsthatsachen
und den begrifflichen Forderungen genügen sollten, zu überwinden; das atomistische System entbehrt dabei nicht einer durchdachten
erkenntnistheoretischen Begründung. Andererseits übt in der Sophistik jener selbe, bis dahin unaufgelöste
Grundgegensatz seine zersetzende Wirkung. Protagoras¶