etwa 30, von 1600 bis 1700 etwa 120, von 1700 bis 1821 etwa 400. Das einzige griech. Erbauungsbuch
des
Volks war der
«Thesaurus» des Damaskinos, das einzige Geschichtswerk der
«Chronograph» des Dorotheos von Monemvasia. Zwar
garantierte
Sultan Mohammed II. der Griechische Kirche ihre volle Existenz, und der
Patriarch Gennadios II. (s. d.)
durfte ihm ein
Glaubensbekenntnis überreichen, das jedoch für die
Kirche keine Bedeutung gewann. Mit der Zeit aber wurden
die
Patriarchen Werkzeuge
[* 2] der
Sultane, die Geistlichkeit sank durch
Simonie und Unwissenheit, viele
Kirchen wurden (gleich der
Sophienkirche) Moscheen, aus polit.
Gründen traten manche Vornehme, namentlich in den Balkanprovinzen, zumIslam über; doch hat die Griechische Kirche auch
Märtyrer aufzuweisen, die meist als
Knaben von den
Türken zum
Islam gezwungen, hernach ihren Rücktritt zur
Mutterkirche mit
dem
Tode bezahlten. Dennoch blieb die Griechische Kirche unter teilweise tüchtigen
Patriarchen allen Unionsversuchen, sowohl den von der
luth.
Kirche unter dem
PatriarchenJeremias II. (um 1580) und der reformierten unter
Cyrillus Lukaris (s. d.),
als den von den
Jesuiten mit Unterstützung von übergetretenen Griechen, wie
LeonAllatios (s. d.), angestrebten abgeneigt.
Erst um die Mitte des 17. Jahrh. erwachte neues Leben. Damals gab
Petrus Mogila, Erzbischof von Kiew,
[* 3] mit dem
PatriarchenParthenius
von
Konstantinopel,
[* 4] Nestorius von
Jerusalem
[* 5] u. a. ein umfassendes
Glaubensbekenntnis heraus (die
«Confessio
orthodoxa», deutsch von Frisch, 1727), das auf den
Synoden von
Konstantinopel 1643 und
Jerusalem 1672 angenommen wurde. Im 18. Jahrh.
nahm der gesamte griech. Volksgeist einen gewaltigen Aufschwung, den die aufstrebende
Kirche zum großen
Teil mit verursacht
hatte.
Eugenios
Bulgaris (s. d.) bildete ein neues Theologengeschlecht,
das von
Katheder und Kanzel das
Volk belehrte. Die
Namen seiner Zeitgenossen und Nachfolger
Daponte, Nicephorus, Theotokis,
Nikodemus
von
Naxos, Konstantios I., Konstantinos Ökonomos, Gregorios V. sind wie der des
Bulgaris über
Griechenland
[* 6] hinaus bekannt
geworden. Die Folge des griech. Freiheitskampfes und der damit verbundenen allgemeinen Nationalitätsbestrebungen
war die Loslösung der
Kirche von Hellas von der allgemeinen anatolischen (1833). Seit 1872 hat auch die
KircheBulgariens wieder
ihre Selbständigkeit errungen. Sie steht seitdem unter einem
Exarchen. Ihr folgte die
Kirche von
Serbien
[* 7] 1878 und
Rumänien 1885.
Der größte Gehalt eines Erzbischofs (Ephesus u. a.) beträgt 1000 Pfd.
Die niedere Geistlichkeit ist schlecht besoldet und meist nur auf
Accidenzien angewiesen. Den ökumenischen
Patriarchen von
Konstantinopel umgiebt eine permanente
Synode von 12 Metropoliten. Sie wacht über die Aufrechterhaltung
der kirchlichen Gesetze, besetzt die erzbischöfl.
Stühle, regiert das Klosterwesen, die
Akademien (s.
Chalki) und
giebt durch
die Druckerei des
Patriarchats die für die Geistlichkeit und Laien notwendigen kirchlichen Werke heraus, die früher lediglich
(jetzt nur noch zum
Teil) in
Venedig
[* 8] erschienen. DieSynode ist überhaupt die
Spitze der anatolischen
Kirche.
Unter der
Synode steht der Gemischte
Rat (Mikton Symbulion), bestehend aus 4 Metropoliten der
Synode und 8 Laien. Er leitet
das Schulwesen, die zahlreichen Wohlthätigkeitsanstalten u. s. w.
Abgesehen von der Lehrdifferenz über das
Ausgehen desHeiligenGeistes unterscheidet sich das Dogma der Griechische Kirche vom
römischen fast nur durch die Verwerfung der (übrigens auch von
Rom
[* 9] nur dem
Namen nach anerkannten) augustinischen
Lehren
[* 10] von
Sünde und
Gnade und von der Prädestination sowie der meisten seit dem Mittelalter neu aufgekommenen
Lehren. Sie nimmt, wie
die röm.
Kirche, sieben
Sakramente an:
Taufe,
Chrisma,
Abendmahl,
Buße, Priestertum,
Ehe und letzte Ölung,
unterscheidet aber höhere und niedere
Sakramente. Zu den erstern gehören nur
Taufe und
Abendmahl.
Die
Taufe wird durch dreimaliges Eintauchen des ganzen Körpers ins Wasser vollzogen und mit ihr gleich das
Chrisma (Firmung)
verbunden.
BeimAbendmahl gebraucht sie gesäuertes
Brot
[* 11] und mit Wasser vermischten
Wein. AllenKommunikanten,
auch den
Kindern, wird das
Brot gebrochen in einem mit dem
Weine gefüllten Löffel gereicht. Die
Transsubstantiation und das
Meßopfer wird gelehrt, aber nicht die
Anbetung der Hostie. Sie gestattet allen Geistlichen, mit Ausnahme der Klostergeistlichen
und der aus diesen zu wählenden höhern Geistlichkeit bis zum
Bischof herab, die
Ehe mit einer
Jungfrau,
untersagt dagegen die
Ehe mit einer
Witwe sowie eine
zweite Ehe, weshalb der verwitwete Geistliche in der Regel als Hieromonachos
(s. d.) in ein
Kloster geht.
Die
Ehe der Laien löst sich im Falle des
Ehebruchs. Hinsichtlich der
Ehe in verbotenen
Graden der Verwandtschaft, besonders
der geistlichen Verwandtschaft zwischen
Paten und Gevattern, ist sie sehr streng; eine vierte
Ehe ist selbst
den Laien nicht gestattet. Im Gegensatz zur kath.
Kirche läßt sie mit dem heiligen Öle
[* 12] nicht nur Sterbende, sondern auch
Kranke salben, und verwirft das
Fegefeuer samt der
Lehre
[* 13] von den überschüssigen Verdiensten der
Heiligen, den
Indulgenzen und dem
Ablaß.
Sie erkennt weder den Primat des Papstes noch irgend einen sichtbaren
Stellvertreter Christi auf Erden an und duldet keine
plastischen, sondern nur gemalte oder mit
Edelsteinen ausgelegte
Bilder Christi und der
Heiligen; doch macht die russ.
Kirche
hierin eine Ausnahme. In Hinsicht der Anrufung derHeiligen, besonders der
Mutter Gottes, und der Verehrung
von
Reliquien, dem Kreuz,
[* 14] teilt sie ganz die
Ansichten der röm.
Kirche. In
Bezug auf das Fasten (s. d.) ist sie viel strenger
als die röm.
Kirche.
Der tägliche Gottesdienst besteht, abgesehen von den
Klöstern, im täglichen
Abhalten des Orthros (s. d.), der Meßliturgie,
von den Griechen schlechthin Liturgie genannt, und dem Hesperinos (s. d.).
Jede Gemeinde hat einen Sängerchor, der die gottesdienstlichen Lieder nach den alten orient. Kirchenweisen singt; Orgeln
kennt die Griechische Kirche nicht, auch duldet sie keinen mehrstimmigen
Gesang.
Alle Kultusformen sind reich an
Symbolen. Der
Kultus selbst
gilt nach altgriech.
Auffassung als die Aufführung eines geistlichen Schauspiels zur Ehre
Gottes. Als
Kirchensprache gilt bei den Griechen das Altgriechisch, wie es in der Zeit der
¶
GriechischeKunstI. 1. Gebälk im dorischen Stil. 2. Gebälk im korinthischen Stil. 3. Gebälk im ionischen Stil. 4. Monument
des Lysikrates zu Athen.
[* 16] 5. Korinthisches Kapitäl vom
Monument des Lysikrates zu Athen. 6. Grundriß des Zeustempels zu Agrigent. 7. Karyathidenhalle
Erechtheion zu Athen. 8. Poseidontempel zu Pästum.
¶
Byzantiner sich fortgebildet hat. Als authentischer Bibeltext gilt für das Alte Testament die Septuaginta. Gegen alle abendländ.
Verbesserungen des Textes im Neuen und Alten Testament verhält sich die Griechische Kirche ablehnend. Die wichtigsten Ritualbücher der
Griechische Kirche sind das «Euchologion», das «Horologion»,
das «Pentekostarion», das «Triodion», das «Anthologion», das «Menäon», das «Typikon», das «Synaxarion».
(S. die Einzelartikel.)
Das Mönchtum ist noch jetzt für die Griechische Kirche von größter Bedeutung als Träger
[* 31] der Tradition und meist unbestechlicher Zeuge
der Orthodoxie. Aus den Klöstern geht die höhere Geistlichkeit hervor. Mönchsorden giebt es in der Griechische Kirche nicht. Alle Klöster
leben nach den alten Regeln, die man meist auf Basilius d. Gr. zurückführt, im besondern aber nach dem
Typikon des betreffenden Klosters. Es giebt zwei Stufen unter den Mönchen, das große und das kleine Schema (s. d.), denen
für den Neueintretenden eine Probezeit von 6 Monaten bis 3 Jahren vorangeht.
Die Hauptformen des griech. Mönchslebens sind das Koinobion (s. d.),
die Skete (s. d.) und das Kellion (s. d.). Die Klöster zerfallen in drei Klassen, je nachdem sie über 5, 10, 20 Väter haben.
Dieser Unterschied bezieht sich nur auf die Verpflichtung, jeden Tag oder in größern Zwischenräumen die Liturgie zu feiern.
Die sieben Gebetsstunden werden täglich in jeder Mönchsansiedelung gehalten. Der Vorgesetzte des Klosters
ist der nächste Erzbischof. Die Kleidung der Mönche ist ein langes, weites, schwarzes Gewand, das über einem ebenso langen
gleichfarbigen, enggegürteten getragen wird.
Als Kopfbedeckung dient die schwarze, hohe, mörserartige Filzmütze, die beim Gottesdienst und gemeinschaftlichem Essen
[* 32] mit
einem schwarzen Schleier bedeckt wird. Die Frauenklöster der Griechische Kirche sind von keiner
Bedeutung für das kirchliche Leben, da die Nonnen sich aus den untern Ständen ergänzen und sich lediglich mit Handarbeiten,
namentlich mit Sticken beschäftigen. Für ihre kirchlichen Bedürfnisse sorgt einer der benachbarten Priester, meist ein
Klostergeistlicher (Hieromonachos).
Die Geistlichkeit der Griechische Kirche zerfällt nach den drei Weihen in die Stufen des Diakonus, Presbyter (Priester)
und Erzpriester (Archiereus). Aus letztern gehen die Bischöfe bis zum Patriarchen hinauf hervor. Unter den Diakonen unterscheidet
man noch Unterdiakonen (Hypodiakonen), Psalten oder Sänger. Der Priester wird vom Volk Papás genannt, woher bei den Slawen
das Wort Pop.
Der heutige Charakter der Griechische Kirche zeigt Festhalten an der alten Orthodoxie und starke Abneigung gegen alle
direkten abendländ. Beeinflussungen; doch finden die allgemeinen Grundsätze, namentlich der prot. Wissenschaft, vielen
Anklang bei der höhern gebildeten Geistlichkeit. Die Notwendigkeit einer Reformation wird empfunden, diese kann aber nach
Ansicht der Griechen nicht durchgeführt werden, ehe das ganze Volk politisch geeint ist. Im allgemeinen
gilt die Kirche für ein ebenso großes Heiligtum als die Nationalität, da beide auch seit alters eng verbunden sind.
Litteratur. J. M. ^[JohannMichael] Heineccius, Abbildung der alten und neuen Griechische Kirche (3 Tle., Lpz. 1711);
Pichler, Geschichte der kirchlichen Trennung
zwischen dem Orient und Occident (2 Bde., Münch. 1864-65);
Gaß, Symbolik der Griechische Kirche (Berl. 1872);
Stanley, History of the eastern
church (5. Aufl., Lond. 1883);
Ph. Schaff, The creeds of christendom with a history and critical notes,
Bd. 1 (Neuyork
[* 34] 1884);
Kattenbusch, Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde, Bd.
1: Die orthodoxe anatolische Kirche (Freib. i. Br. 1892).
Biographien der griech. Theologen von 1453 bis 1821 enthält Sathas, Νεοελλενικὴ
Φιλολογία ^[Transkription: Neoellenikê Philología] (Athen 1868). Die beste Kirchenzeitung der Griechische Kirche, die auch
viel und gutes Material zur Geschichte liefert, ist die Ἐκκλησιαστικὴ Ἀλήθεια
^[Transkription: Ekklêsiastikê Alêtheia], redigiert von Gedeon in Konstantinopel. Die heutige Verfassung der in Griechische Kirche Γενικοὶ
Κανονιςμοί ^[Transkription: Genikoì Kanonismoí] u. s. w., neugedruckt 1888 in
Konstantinopel. Eine Beschreibung der Ceremonien, Priestergewänder u. s. w. enthält Neale, A history of
the holy eastern church. General introduction (2 Bde., Lond.
1850); Sokolow, Darstellung des Gottesdienstes der orthodox-kath. Kirche des Morgenlandes (deutsch von Georgij
Morosow, Berl. 1893).
Die ältesten Kunstdenkmäler auf griech. Boden, aber nicht die ältesten Denkmäler der griech. Kunst
überhaupt sind die mykenischen Altertümer. Sie sind die Zeugen einer in sich abgeschlossenen Kultur, welche von der Westküste
Asiens über die Inseln des Ägäischen Meers und über die ganze Ostküste Griechenlands verbreitet, um das 14. Jahrh. v. Chr.
ihre Blüte
[* 36] hatte, zu derselben Zeit, als Ägypten
[* 37] unter der 18. und 19. Dynastie mächtig war, und große
Reiche an der asiat. Küste und im Euphratgebiet bestanden. In Troja
[* 38] (s. d.), Tiryns (s. d.) und Mykenä
[* 39] (s. d.),
auf den Stätten der Schliemannschen Ausgrabungen sind die namhaftesten Reste dieser Kultur erhalten.
Hier auf den Königsburgen standen weitschichtige Paläste, in deren Räumen das Herrschergeschlecht wohnte.
Nach orient. Geschmack war der Männersaal (das Megaron) ausgestattet mit Wandmalereien und Friesen aus bunten Steinen. Noch
mehr äußerte sich das Bestreben reicher Prachtentfaltung in den Anlagen der Fürstengräber mit ihren großen, kuppelförmig
gewölbten Hallen, deren Steinwände metallene Ornamente
[* 40] schmückten. Staunenerregend, wie in diesen Kuppelbauten, ist die
Technik auch in den Mauern, welche die Burgen
[* 41] umschließen.
Sie sind aus verschiedenen Perioden und nicht alle von derselben Konstruktion; die von Tiryns sind aus unbearbeiteten Steinen,
während die mykenischen aus behauenen Blöcken, die in den Fugen aneinander schließen, aufgetürmt sind, aber gleichartig
in der massigen Wucht ihrer Formen, die schon den spätern Griechen so gewaltig erschienen, daß sie
sich die sagenhaften Kyklopen
[* 42] als ihre Erbauer dachten. Die Mauern sollten die Burgen vor dem Angriff der Feinde schützen.
Um die Verteidigung wirksamer zu machen, waren sie durch Türme und kasemattenartige Galerien verstärkt, und durch mehrere
Thore mußte der Feind hindurchdringen, ehe er das Innere der Burg erreichte; der eigentliche Eingang aber
war als Prachtthor gestaltet. Über der Thür war, wie bei den Kuppelgräbern, eine dreieckige Öffnung zur Entlastung des Thürsturzes
ausgespart und in diese eine steinerne Platte eingeschoben, die in Mykenä mit dem berühmten Löwenrelief verziert ist.
Weniger hervorragend als in diesem Bildwerk zeigt sich die mykenische Plastik in den Reliefstelen, welche
den im innern Burgring
¶
forlaufend
350
befindlichen Schachtgräbern zur Bekrönung dienten. Der prunkhafte Eindruck, den die Architektur macht, wird noch gesteigert
durch die Masse von goldenen, silbernen und bronzenen Schmuckgegenständen und Geräten, mit denen die Grabstätten ausgeschmückt
waren. Mit goldenen Masken
[* 44] war das Antlitz der Toten bedeckt. Feinere Arbeit als diese zeigen die Schmucksachen
[* 45] und
Waffen,
[* 46] so die eingelegten Goldklingen, die in Technik und Dekoration von ägypt. Kunst abhängig sind, und vor allem die
kürzlich in einem Kuppelgrabe bei Baphion unweit Amyklä (Peloponnes) gefundenen Goldbecher (abgebildet «Ephemeris archaeologike»,
Athen 1889, Taf. 9). Bewegte Scenen, welche die Bändigung wilder Stiere schildern, sind auf ihnen in getriebenem
Relief dargestellt.
Mit Erstaunen sieht man die kühne und freie Zeichnung, und wie hier bereits in den Versuchen, die
[* 43]
Figuren
in Verkürzung und das Terrain perspektivisch darzustellen, Kunstmittel gebraucht sind, die späterhin der archaischen Griechische Kunst gänzlich
unbekannt waren und erst nach und nach selbständig wiedergefunden wurden. Die geschnittenen Steine und
die bemalten Thonvasen mit ihrer aus Spiralen und Linearstreifen, aus Seepflanzen, Muscheln,
[* 47] Polypen, Sternen zusammengesetzten
Dekoration vervollständigen das einheitliche Bild dieser Kultur.
Die Frage nach ihrer Herkunft ist bisher nicht gelöst. Man streitet, welchem Stamme das Volk angehörte, ob es Karer, Pelasger
oder Achäer waren, die damals in jenen Gegenden seßhaft waren, man schwankt auch, ob diese Kultur dort,
wo sie am glänzendsten auftritt, in Mykenä und an der griech. Küste überhaupt, heimisch war oder, wie es wahrscheinlicher
ist, aus der Fremde kam. (Vgl. Schuchhardt, Schliemanns Ausgrabungen, Lpz. 1890, S. 349 fg.) Sicher ist eine gewisse Beziehung
zu den Vorgängen und Verhältnissen, welche die Homerischen Gedichte schildern (vgl.
Helbig, Das Homerische Epos, 2. Aufl., Lpz. 1887), ebenso sicher,
daß diese Kunst ganz durchsetzt ist von orient.
Formenwesen und daß sie ihren Ursprung nur in einem Volke haben kann, welches mit Ägypten in lebhaftester Verbindung stand;
vieles weist darauf hin, daß sie vom Osten her, aus Asien,
[* 48] nach Griechenland gelangte. Als die Griechische Kunst im 8. Jahrh.
v. Chr. frisch einsetzte, lag für sie die mykenische Kultur in ferner Vergangenheit.
Der weite Abstand und die Verschiedenheit zeigt sich am bestimmtesten darin, daß der mykenischen Baukunst der Grundgedanke
der griechischen, der säulengetragene Tempel,
[* 49] fehlte.
Aber eine gewisse Anknüpfung glaubt man darin zu erkennen, daß im Mykenischen die Konstruktion der Säulenstellung zwischen
Anten, die für die griech. Bauweise charakteristisch ist, bereits vorliegt; auch im mykenischen
Säulenkapitäl hat man die Urform des dor. Kapitäls zu erkennen gemeint. Ein halbes Jahrtausend liegt dazwischen, die Zeit
der Wanderungen der griech. Stämme; nur Erzeugnisse des Handwerks, wie die sog. geometr.
Vasen
[* 50] mit einfacher Liniendekoration und Bronzegegenstände mit ähnlicher Ornamentik, sind aus jener Zeit erhalten. I. Baukunst.
In der griech. Baukunst ist Holz
[* 51] und Stein nebeneinander verwendet, namentlich in der ältern Zeit das Holz nicht nur für das
Gebälk, sondern auch in weiterm Umfange, z. B. für die Säulen,
[* 52] wie am Heratempel in Olympia, dessen ursprüngliche Holzsäulen
erst nach und nach durch steinerne ersetzt wurden. Man hat angenommen, daß der Holzbau überhaupt das ursprüngliche und
der griech. Steinbau, speciell
die Architektur des dor. Tempels, erst aus ihm abgeleitet ist, worauf besonders
das System der über dem Architrav
[* 53] angeordneten Triglyphen, insofern sie als Andeutung der einst vortretenden Köpfe der Querbalken
aufgefaßt werden können, hinzuweisen scheint.
Jedenfalls war aber der Steinbau schon in der ältesten Zeit neben der Holzkonstruktion üblich. Das verwendete Steinmaterial
ist je nach Gegend und Zeit verschieden; vorzugsweise wurde der in Griechenland sowie in Unteritalien
und Sicilien einheimische Kalkstein verwendet. Da dieser wegen seiner löcherigen Struktur keine gleichmäßige Glättung gestattet,
überkleidete man die Oberfläche mit Stuck und bemalte diesen, während am Gebälk die Stein- oder Holzfläche durch eine Verkleidung
von bemalten Terracottaplatten verdeckt wurde. In Griechenland wurde der Kalkstein bald durch den Marmor
verdrängt und auf die Fundamente beschränkt.
Früher noch als in Griechenland war die Technik des Marmorbaues in Kleinasien entwickelt. Neben dem massiven Bau aus Kalkstein
und Marmor wendete man Fachwerk
[* 54] an und benutzte zu diesem an der Luft getrocknete Lehmziegel. An deren Stelle traten feit
der hellenistischen Zeit gebrannte Ziegel, und es kam zugleich damit eine reiche Verwendung bunter Marmorsorten auf, mit
denen die Innenwände der Gebäude dekoriert wurden. Die Schönheit der griech. Architektur entwickelte sich vor allem an den
Tempeln (s. d.). Das Gemach der Gottheit, die Cella, ist ein länglich-viereckiger
Raum mit einer Vorhalle, die sich mit zwei Säulen zwischen zwei Anten nach vorn öffnet und der meist
ein geschlossener Raum auf der Rückseite der Cella entspricht.
Diese einfache Form, der Antentempel, wird durch einen um die Cella herumgeführten Säulenumgang erweitert, der fast bei
keinem der erhaltenen griech. Tempel fehlt. An dem so festgestellten Schema des Grundrisses wurde nichts
geändert, aber mannigfache Modifikationen ergaben sich im Verlaufe der Entwicklung. So wurde die Cella reicher ausgestattet
durch eine vor die Vorhalle selbständig vortretende Säulenreihe (Prostylos) und diese wohl auch wie beim Parthenon (s. d.)
an der Rückseite wiederholt (Amphiprostylos).
Man vergrößerte auch den Umgang und führte statt einer (Peripteros) auf jeder Seite zwei parallele
Säulenreihen um die Cella herum (Dipteros) oder gab dem Umgang eine für zwei Säulenreihen ausreichende Breite
[* 55] (Pseudodipteros).
Unabhängig von diesen Einteilungen der Tempel bezüglich des Grundrisses ist die Bestimmung derselben nach den Säulen- und
Gebälkformationen, d. h. der Säulenordnung
[* 56] (s. d.
und Kapital) und dem Gebälk (Gesims,
[* 57] Fries, Architrav). Der dorische und ionische Stil (s. Taf. I,
[* 43]
Fig. 1 u.
3) sind in der ältern Zeit örtlich verschieden, indem dieser in Kleinasien, jener im westl. Griechenland vorherrscht, aber
es ist fraglich, ob beide von Anfang an nebeneinander bestanden, und nicht vielleicht der ion.
Stil, dessen charakteristische Form, das Volutenkapitäl, in phöniz. oder assyr. Vorbildern
seine Wurzel
[* 58] hat, der später entstandene ist. Die allmähliche Ausgestaltung läßt sich nirgends mehr genau erkennen. Als
die ältesten dor. Tempel gelten das Heraion in Olympia (s. d.) und der Tempel von Assus (s. d.). Völlig entwickelt erscheint
das System des dor. Stils zuerst an den Bauwerken des 6. Jahrh. v. Chr.,
am besten an den wohlerhaltenen Tempeln zu Pästum (s. d. und Taf. I,
[* 43]
Fig.
8) mit ihren mächtigen Säulen, ihren
¶
forlaufend
351
kräftigen, schweren Formen und ihren klaren Verhältnissen, in denen das Princip der dor. Architektur, das harmonische Zusammenwirken
strebender Kräfte und getragener Lasten, in einfacher Vollendung zum Ausdruck kommt. Ihnen reihen sich außer den Tempeln in
Metapont die in Sicilien, die Tempel von Selinus, Syrakus
[* 60] und Agrigent an; einige von ihnen reichen in das 5. Jahrh.
v. Chr. herab, wie der gewaltige Zeustempel zu Agrigent (s. den Grundriß Taf. I,
[* 59]
Fig. 6),
durch seine Größe und Architektur merkwürdig, indem der freie Säulenumgang durch Mauern mit Halbsäulen ersetzt war. (Vgl.
Hittorf, Architecture antique de la Sicile, Par. 1826-30; neue Bearbeitung, ebd. 1870.)
Auch im eigentlichen Griechenlandwar in der Periode vor den Perserkriegen eine reiche Bauthätigkeit entwickelt, aber die Überreste
sind weniger gut erhalten; nur weniges, wie der Athenetempel auf Aigina (s. Äginetische Kunst), derTempel von Korinth,
[* 61] steht
von diesen ältern Bauten zum großen Teil noch aufrecht.
Die meisten Tempel sind von den Persern niedergebrannt, so auch der alte Athenetempel auf der Burg von
Athen, ein Bau aus der Pisistratidenzeit, dessen Fundamente durch Ausgrabungen neuerdings zu Tage gefördert worden sind. In der
Architektur des um 550 v. Chr. von Chersiphron erbauten Artemistempels zu Ephesus
(s. d.) trat der ionische Stil zum erstenmal in glänzender Prachtentfaltung hervor; unter allen TempelnIoniens war er der einzige, den Xerxes auf seinem Kriegszuge verschonte.
Nach den Perserkriegen wurde Athen zum mächtigsten StaateGriechenlands. Mit seinem Aufschwung ist auch die Entwicklung der Architektur
wie der übrigen Künste eng verbunden. Was die Periode des 5. Jahrh. v. Chr. von der vorhergehenden
unterscheidet, ist die vorherrschende Verwendung des Marmors und damit im Zusammenhange eine leichtere Gestaltung aller architektonischen
Einzelheiten, der feinere Fugenschluß, die zartere Ausbildung der Ornamente, überhaupt eine höhere Formvollendung bei
schön abgewogenen Verhältnissen und mäßiger Größe.
Der Charakter des dor. Stils änderte sich, indem die Säulen schlanker wurden und der Echinus
[* 62] (s. d.)
des Kapitals eine steigende, fast geradlinige Form statt der rund ausgebauchten annahm. Dabei machte sich, merklich fortschreitend,
ein Eindringen ion. Elemente geltend, vorzugsweise in Athen, während man im Westen zunächst an der streng dor. Weise festhielt,
wie sie der bald nach den Perserkriegen von dem Eleer Libon gebaute Zeustempel in Olympia zeigt, und nur
vereinzelt hier der ion. Stil recipiert wurde, so in der griech. Kolonie Lokri in Unteritalien, wo jüngst ein ion. Tempel aus
dem 5. Jahrh. v. Chr. aufgedeckt worden ist. (Vgl. Mitteilungen
des Deutschen Archäologischen Instituts; Röm. Abteil. V, 1890, S. 161-227.) In Athen war schon in der Zeit
der Pisistratiden durch die zugewanderten Künstler von den Inseln und Kleinasien das ion. Kapital bekannt geworden, aber es
scheint, daß es damals noch nicht bei Gebäuden, sondern nur für Postamente von Weihgeschenken Verwendung gefunden hatte.
Anders gestaltete sich der Einfluß «des ion. Stils in der großen Bauperiode unter Perikles, der im Zusammenwirken
mit den bedeutendsten Künstlern, mit Phidias und den Architekten Kallikrates, Iktinos, Mnesikles, der athenischen Burg ihren
glänzenden Schmuck gab, nachdem in den Jahren voerher, unter der Staatsleitung des Themistokles und Kimon, das Streben
auf
die Instandsetzung der von den Persern zerstörten Bauten und die Befestigung der Stadt und ihrer Häfen
gerichtet gewesen war. Der sog. Theseustempel am Markt unterhalb der Burg, berühmt durch seine vorzügliche Erhaltung, ist
ein dor. Bau; aber die strenge Einhaltung der dor. Ordnung ist an der Cella aufgegeben, indem an der Vorhalle und Rückseite
über den dor. Säulen nicht, wie am äußern Säulenumgang, ein Metopen- und Triglyphenfries, sondern
ein dem ion. Stil entlehnter
[* 59]
Figurenfries angebracht ist. Ähnlich ist es am Parthenon (s. d.), dem Meisterwerke des Iktinos
und Kallikrates, nur daß hier schon ein Schritt weiter gethan und der
[* 59]
Figurenfries (mit der schönen
Reliefdarstellung des panathenäischen Festzugs) um alle vier Seiten der Cella herumgelegt ist. Die so
angedeutete und gleichsam vorbereitete Vermischung beider Stile zeigt sich an der Eingangshalle zur Burg, den Propyläen (s.
die Textfigur beim ArtikelAthen, Bd. 2, S. 22), in Athen bereits weiter durchgeführt, indem bei sonst dor. Architektur als Träger
der innern Decke
[* 63] ion. Säulen verwendet sind. Zugleich sand auch die rein ion. Bauordnung Aufnahme, so an
dem kleinen Tempel der AthenaNike,
[* 64] der räumlich und zeitlich mit den Propyläen in engster Verbindung steht, und kurz darauf
an dem gegen Ende des 5. Jahrh. v. Chr. ausgefüllten
Neubau, der an die Stelle des alten Burgheiligtums der Athena Polias trat, am Erechtheion (s. d. und Taf.
I,
[* 59]
Fig. 7). In diesem Tempel befand sich die goldene Lampe
[* 65] des Kallimachus, dem die antike Überlieferung die Erfindung des
korinthischen Kapitals zuschreibt. Er lebte um die Mitte des 5. Jahrh. v. Chr.
und aus dieser Zeit finden sich auch die ersten Spuren von dem Eindringen der korinth. Ordnung (s. Taf.
I,
[* 59]
Fig. 2) in die Architektur. Eine Säule mit korinth. Kapital hatte Phidias an der Statue der Athena Parthenos als Stütze verwendet
und eine einzelne korinth. Säule stand im Innern des Apollotempels von Bassä (s. d.), dessen Bau Iktinos kurz nach Vollendung
seines Hauptwerkes, des Parthenon, ausführte. In der Tholos von Epidaurus (s. d.) aber, einem kreisrunden
Gebäude, das von dem jüngern Polyklet (4. Jahrh. v. Chr.)
herrührte, war bereits die ganze innere Säulenstellung mit korinth. Kapitalen ausgestattet, während die äußere in dor.
Ordnung gegliedert war. Auch an dem großen Athenatempel in Tegea, den Skopas um die Mitte des 4. Jahrh.
v. Chr. baute, hatte das Innere korinth. Säulen, während das wohlerhaltene kleine Lysikratesmonument (s. Taf. I,
[* 59]
Fig. 4 u.
5) in Athen 334 v. Chr. ganz in diesem Stil erbaut ist. Aber für größere Bauten einheitlich durchgeführt, fand er erst
in der hellenistischen PeriodeAufnahme, bis er in röm. Zeit, als dem großartigen Charakter der Prachtanlagen
am meisten entsprechend, die übrigen Ordnungen mehr und mehr verdrängte und der herrschende wurde. So ist er auf griech.
Boden in Athen im Olympieion, das unter Hadrian vollendet wurde, in Eleusis in den Propyläen des Appius Claudius Pulcher glänzend
vertreten. Die führende Rolle in der Architektur, die nach den PerserkriegenAthen gehabt hatte, ging im 4. Jahrh.
v. Chr. an Kleinasien über; die Bauthätigkeit, die sich hier entfaltete, knüpft äußerlich an das Mausoleum von Halikarnassos
(s. d.) an. Dieselben Künstler, die dieses erbauten, Skopas und Genossen, waren
zum Teil mit an den großen Tempelbauten beteiligt, die man fast gleichzeitig,
¶
forlaufend
352
kurz nach der Mitte des 4. Jahrh. v. Chr. in Milet, Priene und Ephesus unternahm, um würdigen Ersatz für die seit den Perserkriegen
in Trümmer liegenden Heiligtümer zu schaffen. In ihnen zeigt der ion. Stil, der hier auf Kolossalverhältnisse angewendet
ist, seine reichste Entfaltung. Dem Didymaion in Milet und dem Artemisheiligtum in Ephesus stand der als
Pseudodipteros angelegte Tempel der Artemis
[* 67] Leukophryene zu Magnesia anGröße nicht nach, wohl aber an Feinheit der Ausführung.
Sein Baumeister war Hermogenes, der auch den Apollotempel in Teos baute und seine Grundsätze, daß der ion. Stil dem dorischen
vorzuziehen sei, in einer Schrift niederlegte, aus der Vitruv für seine Architekturlehre geschöpft
haben soll. Hinter dem Tempelbau trat im 5. und 4. Jahrh. die Profanarchitektur zurück. Ein
Wandel aber erfolgte in hellenistischer Zeit im Zusammenhang mit den Städtegründungen Alexanders d. Gr. und seiner Nachfolger,
indem sich nun die Bedürfnisse mehr auf glänzende und zweckmäßige Einrichtung der Nutzbauten und
alles zur Bequemlichkeit des Lebens Dienende richteten.
Alexandria (s. d.) mit seinen regelmäßigen Straßenanlagen und den gewaltigen
öffentlichen und Privatgebäuden wurde vorbildlich für die übrige Welt. In denAnlagen von Wasserleitungen, Bädern, Palästen,
Gymnasien, Bibliotheken, Hallen, Theatern, Odeen fanden jetzt die Architekten ihre Hauptaufgaben, und in der unter dem
Einfluß orient. Muster aufkommenden Dekoration der Innenräume durch eine Art monumentaler Polychromie, durch Verkleidung
der Wände mit bunten Marmorplatten (s. Alexandrinische Kunst) eröffnete sich der Baukunst ein ganz neues Gebiet. Ein einheitliches,
wenn auch verhältnismäßig nur bescheidenes Bild einer hellenistischen Stadtanlage hat die Ausgrabung der Burg von Pergamon
[* 68] (s.d.) geliefert, einzelne große Bauten dieser Zeit sind in geringen Überresten in Athen, in Olympia,
auf Samothrake und andern Orten erhalten, während von ihren bedeutendsten Schöpfungen, den Anlagen in Alexandria und Antiochia,
nichts geblieben ist. -
Vgl. Hirt, Die Geschichte der Baukunst bei den Alten (3 Bde., Berl.
1821-27);
Hübsch, über griech. Architektur (Heidelb. 1822; 2. Aufl. 1824);
Kugler, Geschichte der Baukunst
(3 Bde., Stuttg. 1856-59);
Reber, Geschichte der Baukunst im Altertum (Lpz. 1866; neue Ausg. 1869);
Bühlmann, Die Architektur
des klassischen Altertums und der Renaissance (2 Abteil., Stuttg.
1872-77);
Handbuch der Architektur, hg. von Durm, Ende u. a. (2. Tl.: Die Baustile, Bd. 1, Darmst. 1881-87);
Lübke, Geschichte der Architektur, Bd. 1 (6. Aufl.,
Lpz. 1884).
II. Bildnerei. Die älteste sichere Kunde von den Anfängen der griech. Skulptur reicht nicht über das 7. Jahrh. v. Chr.
hinauf und knüpft an die Kunstübung auf den Inseln und der kleinasiat. Küste an. Die Überlieferung nennt
Künstler von Samos, wo namentlich die Erzarbeit gepflegt wurde, von Kreta, Chios, Naxos, Paros. In Samos waren namentlich
die MeisterTheodorus und Rhökus durch ihre Bronzewerke berühmt. Keines von diesen hat sich erhalten, wohl aber vermag eine
auf Samos gefundene langbekleidete weibliche Marmorstatue eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, in
welchen Formen sich die Bildnerei damals bewegte.
Die
[* 66]
Figur ist mit steif herabhängenden Armen und ganz in das Gewand eingewickelt dargestellt; mit großem Fleiß sind jedoch
die Gewandfalten durch parallellaufende Linien um die runde
Oberfläche herum in den Marmor eingeschnitten. Die HeiligeStraße,
welche in Milet vom Hafen zum Apollotempel führte, war mit Marmorstatuen von sitzenden Priestern und Priesterinnen
eingefaßt (jetzt im Britischen Museum in London). Unter ihnen geben die einen an Formlosigkeit jener aus Samos nichts nach,
in den andern jüngern offenbart sich aber schon das reger erwachte Verständnis für die Natur der Formen.
Das Gewand läßt, sich enger anschmiegend, die einzelnen Glieder
[* 69] in ihrer Gestaltung sichtbar werden,
ebenso folgen die Falten bereits, wenn auch noch schematisch und steif gezeichnet, der Bewegung des Körpers. Diese
[* 66]
Figuren
leiten zu der Kunst von Chios über. Plinius nennt vier Generationen von dortigen Bildhauern: Melas, Mikkiades, Archermus und
dessen Söhne Vupalos und Athems, welche letztern in der zweiten Hälfte des 6. Jahrh.
v. Chr. lebten. Von Archermus sagt die Überlieferung, daß er zum erstenmal die Nike (Siegesgöttin) geflügelt dargestellt
habe; eine solche wurde mit einer allem Anschein nach zu ihr gehörigen Inschrift, die Mikkiades und seinen Sohn Archermus
als Künstler nennt, auf Delos gefunden.
Die
[* 66]
Figur ist mit großen Flügeln ausgestattet und mit langem Gewände bekleidet, das in breiter Masse auf die Basis herabfällt
und so der
[* 66]
Figur als Stütze und Träger dient, während die weit ausschreitenden Beinefrei in der Lust schweben. So ist bis
zu einem gewissen Grad der Eindruck eines wirklichen Fliegens. erreicht. Das Wagnis, dieses Motiv, das
schon im Bronzerelief und in der Vasenmalerei vorgebildet war, in die Rundplastik einzuführen, setzt eine bereits stark
entwickelte Beherrschung der Marmortechnik voraus.
Diese scheint für die chiotische Kunstschule charakteristisch zu sein. Unter der Herrschaft des Pisistratus war dieses in
Chios heimische rege Kunstleben in Athen eingezogen. Eine Reihe von Marmorfiguren, im Bauschutt der Akropolis
gefunden (s. Taf. II,
[* 66]
Fig. 8), sowie gleichartige aus Delos, zeigen eine
auffallend routinierte Behandlung des Marmors; in ihnen nimmt man Werke der chiotischen Schule an. Auf schwierige Unterschneidungen
des Marmors, elegante Glättung derOberfläche, auf eine komplizierte Behandlung der Gewandfalten scheinen
diese Künstler besonders ihr streben gerichtet zu haben und sie verstanden es, den Eindruck des Zierlichen, der ihren Werken
anhaftete, noch durch den Reiz feiner Bemalung zu steigern, die aber nicht die ganzen
[* 66]
Figuren bedeckte,
sondern nur leicht und an einzelnen Stellen aufgetragen die Schönheit des Marmortones erst recht zur
Geltung kommen ließ.
Allerdings gab es in Athen auch vor der Zeit des Pisistratus eine Kunstbildnerei. Man arbeitete in einheimischem Material, in
weichem Kalkstein und hymettischem Marmor, welche beide nicht eine so feine Durchbildung der Formen, auch nicht eine so feine
Farbenbehandlung zuließen, wie sie der bessere, durch die Künstler von den Inseln importierte parische
Marmor ermöglichte. Zahlreiche auf der athenischen Akropolis gefundene Bildwerke, wie namentlich die Reste einer kolossalen
Giebelkomposition, welche Herakles
[* 70] im Kampf mit dem Triton
[* 71] darstellte, geben Zeugnis von dieser einheimischen Kunstübung,
der eine gesunde und kräftige Einfachheit innewohnt. Sie bewahrte sich ihren Charakter auch nach dem
Eindringen der Kunst von den Inseln her bei allem, was sie dieser ablernte. Unter den athenischen Meistern, die unter dem Einfluß
¶
der neuen Strömung thätig waren, ist besonders Antenor (s. d.) zu nennen. In der archaischen Kunst herrschten zwei Haupttypen
ruhig stehender
[* 73]
Figuren vor. Der eine ist durch die besprochenen weiblichen Gewandstatuen vertreten,
der andere durch nackte männliche Jünglingsfiguren, wie der sog.Apollon von Tenea in der Glyptothek in München (s. Taf.
11,
[* 73]
Fig. 2). Man bringt die Ausbildung dieses Typus mit den kretischen Bildhauern Dipönos (s. d.) und Skyllis zusammen, die
ihre Kunst von Kreta nach dem Peloponnes verpflanzt haben sollen.
Wie für Apollon, find die
[* 73]
Figuren dieses Typus auch häufig sowohl für Jünglingsstatuen wie auch als statuarischer Schmuck
für Grabdenkmäler verwendet worden. Eine andere Art des Grabschmucks war die Stele, auf deren Vorderseite
das Bild des Verstorbenen in (farbigem) Relief angebracht wurde. Berühmt ist z. B. die Aristionstele (s. d. und Taf. II,
[* 73]
Fig.
11). In eine etwas jüngere Zeit, etwa in die letzten Jahrzehnte des 5. Jahrh., führen die
berühmten Giebelskulpturen vom Athenetempel auf Ägina (s. Äginetische Kunst, und Taf. II,
[* 73]
Fig. 1). Der
stilistische Fortschritt liegt bei ihnen in dem Streben, das anatom. Detail des nackten Körpers und der Bewegung wiederzugeben.
Hierin und durch den überlieferten Schulzusammenhang, indem der äginetische Bildhauer Kallon ein Schüler des Tektäus und
Angelion genannt wird, die ihrerseits wieder Schüler des Dipönos und Skyllis waren, knüpft diese Kunst
an jene durch die Apollonfiguren bezeichnete Richtung an. Schonzeit dem Ende des 8. Jahrh. v. Chr.
begannen die Griechen in Sicilien und Unteritalien festen Fuß zu fassen, plustere Zeugnisse ihrer Kultur sind in den imposanten
Tempelruinen geblieben.
Aber nur von den Tempeln in Selinus sind Reste des plastischen Schmucks, Metopenplatten (s. Taf. II,
[* 73]
Fig.
5), erhalten, die aus verschiedener Zeit stammen. Die des ältesten, von naturwüchsiger Derbheit der Ausführung, stellen
die Abenteuer des Herakles dar; kunstgerechter schon ist die Behandlung auf denen des zweiten Tempels, welche die Kämpfe der
Götter und Giganten schildern, während die des jüngsten, des Heraion, mit ihren freiern Formen bereits
in dem Anfang der auf die archaische Kunst folgenden Entwicklung stehen.
Nach dem Westen weisen auch die altertümlichen Giebelreliefs vom Schatzhaus der Megarer in Olympia. Größere zusammenhängende
Reliefkompositionen sind aus Kleinasien erhalten, in den Friesreliefs des Tempels von Assus und in denen
vom Harpyienmonument in Xanthos, die ebenso wie die in London aufbewahrten Reste der Reliefsäulen vom alten Tempel in Ephesus
in ihrem Stil auf einen Zusammenhang mit der auf den griech. Inseln geübten Kunst hinweisen. Nach den Perserkriegen gelangte
die Kunst in Athen, von dem Geiste der Perikleischen Zeit getragen, zu jenem idealen Ausdruck der Formen,
den Winckelmanns klassisches Wort als den «großen Stil» bezeichnet.
Eine in kräftigem Naturalismus sich ergehende Richtung bahnte diese Entwicklung an. Am Eingang steht die Gruppe der Tyrannenmörder
Harmodius (s. d.) und Aristogiton. Das von Antenor in Bronze
[* 74] gefertigte Werk war von Lerres hinweggeführt
worden; aber dieses Wahrzeichen athenischer Freiheit durfte nicht unersetzt bleiben, und so ließ man nach dem Abzüge der Perser
das Denkmal durch Kritios und Nesiotes neu bilden. Die in Neapel befindliche Marmorkopie der Gruppe steht stilistisch den
nicht
sehr viel später entstandenen Giebelskulpturen von Olympia nahe.
Was ihnen gemeinsam ist, die Kraft
[* 75] und Sicherheit des Bildens und das unmittelbar auf die Wiedergabe
des wirklichen Lebens gerichtete Streben, gelangt in ähnlicher Weise in einer Reihe von Werken zum Ausdruck, von denen der
Dornauszieher (s. d. und Taf. II,
[* 73]
Fig.
3), die Wettläuferin im Vatikan,
[* 76] die Hestia
[* 77] Giustiniani die bekanntesten sind. Es ist bisher nicht sicher
ermittelt, von wo diese Richtung ihren Ausgang nahm. Sie scheint sich schon in der äginetischen Kunst, insofern diese wesentlich
auf die Darstellung des nackten menschlichen Körpers ausging, vorzubereiten; vielleicht hat auch der Künstler Ageladas von
Argos, der um die Wende des 6. und 5. Jahrh. thätig war, bestimmten Anteil an ihrer
Ausbildung gehabt.
Gegenüber der archaischen Kunst, wie sie sich unter dem Einfluß der Künstler von den Inseln nach der Seite des Zierlichen
und Eleganten hin entwickelt hatte, setzt der naturalistische Stil neu und frisch ein. In Athen scheint aber neben ihm eine
mehr konservative Richtung, welche mehr an jene alte Kunstübung anschloß, fortbestanden zu haben. Während
jener als Material die Bronze bevorzugte, liegt ihre Stärke
[* 78] in der Bearbeitung des Marmors; während dort das Können sich
auf die anatom. Durchbildung des Körpers konzentrierte, bleibt hier das Hauptinteresse auf
eine kunstvolle Stilisierung des Gewandes gerichtet.
Aber diese Richtung ist nicht die der großen Meister, sondern die der weniger hervorragenden Werkstätten: nicht in den Kultbildern
und Athletenstatuen des Phidias und Myron, sondern in den anspruchslosern Tempelfriesen, in den Weih- und Grabreliefs setzt
sie sich fort. Die litterar. Tradition verbindet Myron und Phidias, die beiden bedeutendsten athenischen
Künstler zur Zeit des Perikles, mit jener naturalistischen Strömung, indem sie beide als Schüler des Ageladas aufführt.
Myron war berühmt als Bildner von Athletenfiguren. Man bewunderte im Altertum an seinen Werken die überraschende Naturwahrheit,
die aber nicht wie bei den olympischen Giebelskulpturen auf der einfachen derben Wiedergabe der wirklichen Erscheinung
beruhte, sondern durch das Streben nach einer harmonischen Durchbildung der Körper, nach Rhythmus und Gleichklang in Körperform
und Bewegung gehoben war. In der Wiedergabe des Körpers, wie er sich rührt und regt, war er Meister und selbst das schwierigste
Problem, den flüchtigsten Moment der Bewegung zu erhaschen und festzuhalten, brachte er zur vollendeten
Lösung, wie die Nachbildungen seines Diskoswerfers (s. die Textfigur beim Artikel Diskos)
[* 79] und des Marsyas
[* 80] zeigen.
Des Phidias Ruhm und Größe lag auf anderm Gebiete. Wenn seine Werke dem Altertum als das Höchste der Kunst galten, so war
es weniger das Einzelne und mehr Äußerliche der künstlerischen Ausführung, das man an ihnen bewunderte,
als der gewaltige Geist, der seine Schöpfungen durchdrang und übermächtig auf den Beschauer wirkte. Er schuf den Athenern
das Bild ihrer Göttin, den Griechen das Bild des olympischen Herrschers, und der Eindruck dieser beiden Kolossalstatuen aus
Gold
[* 81] und Elfenbein, der Athena Parthenos (s. die Textfigur 1 beim ArtikelAthena, Bd. 2, S. 27 b) und des Zeus
[* 82] in Olympia, war so stark, daß man bei ihrem Anblick die Nähe der Gottheit zu fühlen glaubte. Es waren ernste, heilige
Werke. Wie die freilich nur
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