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In der innern Politik suchte Goblet den Radikalen dadurch genug zu thun, daß er eine größere Anzahl Unterpräfekturen zu streichen empfahl, was übrigens im Senat nicht durchdrang. Dann versuchte das Kabinett auch dem steten Rufe nach Ersparungen zu folgen, ohne freilich an das Heeres- und Marinebudget rühren zu dürfen. Am ward das im Vorjahre beschlossene Gesetz über den Verkauf der Kronjuwelen verkündet und alsbald mit diesem begonnen. Der Erlös betrug 7 Mill. Finanziell wichtiger war die Erhöhung der Getreidezölle (von 3 auf 5 Frs.) und der Viehzölle, wozu die Deputierten schon sehr widerwillig im März ihre Zustimmung gaben. Als Goblet für die Hilfsbeamten des Finanzministeriums einen Nachtragskredit begehrte, erhielt er nur mit Schwierigkeit eine Majorität. Am 17. Mai, bei der Debatte über das Finanzgesetz für 1888, wurde jedoch der Antrag Rouviers, der die vorgeschlagenen Ersparnisse für ungenügend erklärte, mit 312 gegen 143 Stimmen angenommen, und schon nach der ersten Abstimmung dimissionierte das gesamte Kabinett.
Die Bildung neuer Ministerien war in letzter Zeit immer schwieriger geworden; vollends jetzt, wo die Opportunisten in ein Kabinett mit Boulanger nicht eintreten wollten, die Radikalen für sich allein aber keins zu bilden vermochten. So gelang es erst 29. Mai dem Opportunisten Rouvier, ein solches zu bilden, ohne Boulanger, wie es Grévy gewünscht und bewirkt hatte, und vorwiegend gemäßigt. Es gelang der neuen Regierung, durch ein Programm, das weitgehende Sparsamkeit, Vereinfachung der Verwaltungsauslagen, ernste Verfolgung jeder Unredlichkeit bei Erhebung der Steuern und eine vorsichtige, aber feste Politik versprach, die Mehrheit in der Kammer für sich zu gewinnen, sodaß Mißtrauensanträge der Radikalen weit in der Minderheit blieben.
In der Zwischenzeit hatte die Kammer der Errichtung von 4 neuen Kavallerie- und 18 Infanterieregimentern und der Erhöhung der Compagniestärke zugestimmt; desgleichen wurde vom Kabinett für die Probemobilisierung eines Armeekorps ein Kredit von 7 Mill. angesprochen und von beiden Kammern bewilligt. Ein noch von Boulanger als Kriegsminister eingebrachtes neues Militärgesetz, das durchgehends dreijährige Dienstpflicht statt fünfjähriger einführte und das Institut der Einjährig-Freiwilligen abschaffte, wurde gleichfalls im Princip gutgeheißen, aber jetzt noch nicht zum Beschluß erhoben. Angesichts der bedrängten finanziellen Lage mußte allerdings auch Rouvier zur Steuervermehrung greifen: die Zuckersteuer wurde erhöht und desgleichen der Eingangszoll auf fremden Alkohol. Beide Kammern stimmten zu, und als der Finanzminister 5. Juli ein neues Budget für 1888 vorlegte, fand sich, daß dasselbe vor demjenigen Goblets eine Ersparnis von etwa 130 Mill. voraus hatte.
Alle diese Vorlagen wurden in der Kammer genehmigt, aber unter den erbittertsten Kämpfen mit den Radikalen. Und so unheilbar schien die Spaltung unter den Republikanern, daß der Graf von Paris [* 2] den Zeitpunkt für günstig hielt, um «Weisungen an die Vertreter der monarchischen Partei» zu erlassen, in denen er auf die Unbeständigkeit des republikanischen Regiments hinwies, auf dessen Unfähigkeit, Ordnung in den Staatshaushalt zu bringen, und auf die Isolierung F.s in Europa. [* 3]
Dazu kam nun noch, daß auch Präsident Grévy viel von seinem Ansehen verlor, als im Okt. 1887 ein Skandal enthüllt wurde, der seinen Schwiegersohn Wilson, den langjährigen Vorsitzenden der Budgetkommission, aufs ärgste kompromittiert erscheinen ließ. Der General Caffarel, Generalstabschef im Kriegsministerium, wurde 7. Okt. angeklagt, mit dem Kreuze der Ehrenlegion Handel getrieben zu haben. Er ward verhaftet, während sein Helfer, der Senator und General Graf d'Andlau, entfloh.
Mittelsperson war eine Frau Limousin, mit der auch Boulanger, Paul Grévy, der Bruder des Präsidenten, General Thibaudin, insbesondere aber Wilson in Beziehung gestanden hatten. Wilson hatte sich nicht nur zur Vermittelung von Orden, [* 4] sondern auch von Ämtern, Konzessionen, Staatslieferungen u. dgl. gegen hohe Bestechungssummen hergegeben. Ganz besonders erschwerend aber wurde für ihn der Umstand, daß während der Untersuchung einzelne seiner Briefe an die Limousin, die besonders belastend waren, aus den Akten verschwanden und durch neugeschriebene ersetzt wurden, was kaum ohne behördliche Vorschubleistung möglich war.
Die Aufregung im Publikum erreichte den höchsten Grad; die Kammer genehmigte 17. Nov. die gerichtliche Verfolgung Wilsons mit 527 gegen 3 Stimmen, und man erwartete unter solchen Umständen Grévys Rücktritt; zunächst vergebens. Grévy fuhr fort, Wilson für unschuldig zu halten. Das war aber ein unhaltbarer Zustand, und das Ministerium entschloß sich, bei erster Gelegenheit zu dimissionieren, um dadurch Grévy, der sicher kein neues Kabinett fände, zur Abdankung zu nötigen.
Ein Anlaß fand sich, als 19. Nov. die Linke die Regierung über die Lage interpellierte. Rouvier antwortete mit dem Begehren, die Interpellation aufzuschieben, bis die schwebende Konversion der 4½prozentigen in eine 3prozentige Rente beendigt sei und stellte zugleich die Kabinettsfrage. Sein Antrag fiel mit 282 gegen 328 Stimmen, und das Ministerium gab seine Entlassung. Als nun Grévy in der That keine Regierung zu bilden vermochte, sah auch er sich zum Rücktritt genötigt und hatte schon der Kammer für den 1. Dez. eine bezügliche Botschaft in Aussicht gestellt, als er von einigen Radikalen, die ein Ministerium Ferry fürchteten, bewogen wurde, zu bleiben. Die Kammern bestanden jedoch auf seinem Abgang, indem sie 1. Dez. in Übereinstimmung beschlossen, sich nur für wenige Stunden zu vertagen und inzwischen die angekündigte Mitteilung des Präsidenten zu erwarten. Auf diese unzweideutige Aufforderung hin machte Grévy in einer Zuschrift die Kammer mit seinem Rücktritt bekannt.
18) Unter der Präsidentschaft Carnots (1887-94). Am 3. Dez. fand in Versailles [* 5] der Kongreß der beiden Kammern statt. Die Wahl Ferrys wurde durch die Radikalen und die Anhänger Boulangers hintertrieben, die mit einem Volksaufstande drohten, wenn er durchdringen sollte. Ferry selbst lenkte die im ersten Wahlgang auf ihn gefallenen Stimmen auf Carnot, der im zweiten Wahlgange 616 von 827 erhielt. Daß Republikaner aller Schattierungen für ihn gestimmt hatten, festigte von vornherein sein Ansehen und seine Würde, der er bald auch äußern Glanz zu verleihen wußte. Diese Übereinstimmung der Fraktionen war aber nur von kurzer Dauer. Bald wurden die seit Jahren wiederholten Rufe der Radikalen nach Revision der Verfassung im Sinne einer Art Konventsherrschaft ohne Präsident und Senat, nach endgültiger ¶
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Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche u. a. wieder laut und fanden innerhalb und außerhalb der Kammer Widerhall. Zunächst bei den Monarchisten (insbesondere den bonapartistischen), die darauf die Hoffnung auf den gänzlichen Verfall der Republik gründeten, und dann bei den Anhängern Boulangers, der die Auflösung der Kammer, Einberufung eines konstituierenden Parlaments und Verfassungsänderung als sein Programm aufstellte, um für seine Diktatur Boden zu gewinnen.
Einer seiner Anhänger, Laguerre, brachte denn auch das von Carnot 11. Dez. berufene, gemäßigt republikanische Ministerium Tirard bald zu Fall, indem er den Antrag auf Revision der Verfassung stellte, dessen Dringlichkeit gegen das abmahnende Votum der Regierung angenommen wurde. Dieser Antrag Laguerres war die Antwort darauf, daß Tirard wenig Tage zuvor Boulanger hatte in Ruhestand versetzen lassen. Das Ministerium dimissionierte und Carnot mußte nun ein vorwiegend radikales Kabinett berufen.
Floquet, der bisherige Kammerpräsident, übernahm 3. April dessen Führung nicht ohne Schwierigkeiten. Seine erste Regierungsmaßregel war von der Absicht diktiert, Boulanger in der öffentlichen Meinung dadurch matt zu setzen, daß er selbst die Verfassungsrevision in sein Programm aufnahm. Nur über den Zeitpunkt, wann er den betreffenden Entwurf einbringen würde, sprach er sich noch nicht deutlich aus. Aber Floquet erwarb durch diesen Schritt der Regierung kein größeres Vertrauen im Publikum, sondern erhöhte nur die Geltung des Generals, der 15. April im Depart. Nord bei der Wahl zur Deputiertenkammer siegreich hervorging.
Über sein Auftreten in der Kammer s. Boulanger. Als er sein Mandat niederlegte, «weil man ihm die Freiheit der Tribüne versage», wurde er in drei Departements zugleich wiedergewählt. Da beschlossen Ferry und die gemäßigten Republikaner überhaupt, energischer gegen ihn vorzugehen, während Floquet ihn durch Vorlegung der angekündigten Verfassungsrevision in demokratischem Sinne unschädlich zu machen suchte. Die Kommission der Kammer beschloß sogar, eine konstituierende Versammlung sollte eine neue Verfassung geben mit einer Kammer und ohne Präsidenten; und diese Verfassung sollte durch Volksabstimmung genehmigt werden.
Aber weder Radikalismus noch Opportunismus hatten Geltung genug in der öffentlichen Meinung, um Boulanger aus dem Sattel zu heben. Seine Volkstümlichkeit wurde noch gesteigert durch die Stellung, die er zu dem Panamakrach einnahm. Das von Ferdinand Lesseps angeregte Unternehmen des Panamakanals (s. d.), dessen Aktien sich fast ausschließlich in den Händen von Hunderttausenden kleinster Kapitalisten befanden, war nämlich am Scheitern. Nur durch die Bestechung einer Anzahl Abgeordneter erlangte die Gesellschaft von der Kammer die Erlaubnis zu einem neuen Lotterieanlehen von 600 und einer Garantieanleihe von 120 Millionen (28. April). Unter dem Hochdruck einer schwindelhaften Reklame wurden die Lose an den Mann gebracht. Da bemächtigte sich Boulanger, dem es nur um einen Popularitätserfolg für seine Person zu thun war, der Sache und verlangte, daß der Staat für die Panamaanleihen die Zinsgarantie übernehme. Dazu war aber weder die Regierung noch die Kammer zu bestimmen, da beide einem Konflikt mit Nordamerika [* 7] aus dem Wege gingen; ja die Kammer lehnte sogar 14. Dez. eine Vorlage des Finanzministers Peytral ab, wonach der Panamagesellschaft eine dreimonatige Zahlungsfrist eingeräumt werden sollte, was den Vorstand, Grafen Lesseps, zum Rücktritt nötigte. Sofort trat Boulanger für Lesseps und seine Aktionäre ein, und sein Freund Laguerre interpellierte die Regierung, die nur ablehnend antworten konnte. Am erklärte sich die Panamagesellschaft insolvent, am Tage darauf siegte Boulanger bei einer Nachwahl in Paris mit großer Mehrheit und konnte daran denken, bei den nächsten allgemeinen Wahlen in soviel andern Departements aufzutreten, daß er gleichsam ein Plebiscit für sich erlangte. Diesen Plan suchte Floquet durch Wiedereinführung der Arrondissementswahlen an Stelle der Listenwahlen zu durchkreuzen. Er legte 31. Jan. einen bezüglichen Entwurf vor, der von beiden Kammern angenommen wurde. Als er aber einen noch weiter gehenden Verfassungsrevisionsplan in Vorschlag brachte, nahm die Kammer in der Sitzung vom 14. Febr. den Antrag des radikalen Grafen Douville-Maillefeu mit 301 gegen 218 Stimmen an, die Verfassungsänderung bis nach den Neuwahlen zu vertagen, und Floquet gab seine Entlassung. Am 21. Febr. trat Tirard wieder an seine Stelle.
Es war ein Kabinett der Verlegenheit, meist aus Opportunisten bestehend, das anfangs wenig Sympathien genoß. Aber es erhielt sich doch länger, als man vermutet hatte, und zwar deshalb, weil der Kammerbeschluß vom 14. Febr. mit der Vertagung jeder Verfassungsrevision auch den Boulangismus empfindlich getroffen hatte. Als dieser trotzdem in seinem agitatorischen Treiben fortfuhr, konnte nur die durchgreifendste Energie helfen, die sich in dem Minister des Innern Constans gleichsam verkörperte.
Constans löste Anfang März 1889 die Patriotenliga, die in Boulangers Dienst arbeitete, auf und erhob gegen Déroulède, Laisant, Turquet, Laguerre, Richard, Gallian und den Senator Naquet die Anklage auf Staatsgefährlichkeit. Der Prozeß endigte zwar mit Freisprechung, jedoch als Gründer einer nicht erlaubten Gesellschaft wurden die Angeklagten verurteilt. Am stellte Constans Boulanger selbst unter Anklage wegen Verschwörung und Attentaten auf die Sicherheit des Staates, wozu die Kammer 6. April mit 318 gegen 205 Stimmen ihre Zustimmung gab. Aber der als Staatsgerichtshof fungierende Senat konnte nur in contumaciam verhandeln, da Boulanger 8. April nach Brüssel [* 8] entwichen war und damit der Regierung den denkbar größten Gefallen erwiesen hatte, die sich fortan mit größerer Ruhe und Sicherheit der Jahrhundertfeier der Revolution zuwenden konnte.
Der Erfolg der Pariser Weltausstellung war ein über alle Erwartung glänzender und kam der Regierung sehr zu statten. Sie brachte in der Kammer nicht nur ohne wesentliche Hindernisse das Budget von 1890 durch, sondern auch das Militärgesetz von 1887 und eine neue Vorlage, welche die mehrfachen Kandidaturen eines und desselben Mandatbewerbers bei den Deputiertenwahlen verbot. Hierdurch war die Hoffnung Boulangers auf eine Art Plebiscit bei den Neuwahlen im September endgültig illusorisch gemacht. Dieselben ergaben 22. Sept. sogar ein der Regierung günstiges Resultat; von 573 Sitzen fielen 366 den Republikanern zu, deren radikale Schattierung jetzt nicht mehr so stark vertreten war als bisher. Die Monarchisten verloren von 200 ¶
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Sitzen 42, die Boulangisten erhielten 49 Mandate. Die Untersuchung gegen Boulanger selbst hatte 13. Aug. mit seiner, Dillons und Rocheforts Verurteilung zur Deportation geendet und nebenbei die völlige Unfähigkeit des Generals zu der Mission zu Tage gefördert, die er sich in so viel hochtönenden Worten beigelegt hatte. Es zeigte sich auch bald, daß die «Boulange» gänzlich abgewirtschaftet hatte, als Ende April bei den Pariser Gemeindewahlen alle ihre Kandidaten bis auf einen einzigen durchfielen. Dies kam daher, weil auf eine Weisung des Grafen von Paris die Monarchisten nicht mehr für die Partei des diskreditierten Generals gestimmt hatten und die Bonapartisten ihn jetzt gleichfalls fallen ließen.
Diesen Zusammenbruch der Partei Boulangers hatte das Kabinett Tirard nicht mehr erlebt. Es hatte dem Präsidenten Carnot seine Entlassung überreicht. Schon 1. März war Constans daraus geschieden, wodurch Tirard seine wesentlichste Stütze in der öffentlichen Meinung verlor und sich beim ersten Anlasse zum Rücktritt bequemen mußte. Die Dimission Constans' hatte ihren Grund in einer Differenz mit dem Premierminister, der den Radikalen Zugeständnisse machte, die nur als Schwäche ausgelegt werden konnten.
Insbesondere zeigte sich dies bei der Gelegenheit, als der junge Prinz Louis Philipp Robert von Orléans, [* 10] ältester Sohn des Grafen von Paris, Anfang Februar in der Hauptstadt erschien und als Gemeiner in die Armee aufgenommen zu werden verlangte. Den Verbannungsgesetzen entsprechend ward er zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, und Tirard ließ dies Urteil aus Rücksicht auf die Radikalen auch vollziehen. Das Wesentlichste war aber doch, daß er, der sich als Freihändler bekannte, sich einer Kammer gegenüber befand, die seit den letzten Wahlen vorwiegend aus Schutzzöllnern und Agrariern bestand.
Als Tirard und der Minister des Auswärtigen Spuller den 13. März ablaufenden Handelsvertrag mit der Türkei, [* 11] dessen Verlängerung [* 12] von der Pforte nicht zu erlangen war, durch einen freien Verkehr auf der Grundlage der Meistbegünstigung ersetzen wollten, waren die Agrarier des Senats dagegen, weil sie die Weinbaugegenden durch die ungehinderte Einfuhr getrockneter türk. Beeren für geschädigt hielten. Sie interpellierten und erreichten, daß die von Tirard und Spuller beantragte einfache Tagesordnung mit 129 gegen 117 Stimmen abgelehnt wurde, worauf das Ministerium am folgenden Tage seine Entlassung nahm.
Nun berief Carnot Freycinet zur Bildung eines neuen Kabinetts, worin dieser nebst dem Vorsitz das schon unter Floquet übernommene Kriegsportefeuille beibehielt, Constans das Innere wieder übernahm. Dieses neue Ministerium wurde von allen republikanischen Parteien, mit alleiniger Ausnahme der Ultraradikalen, sympathisch begrüßt. Unter solchen Umständen hatte das Ministerium freie Hand, [* 13] nach seinem Ermessen zu schalten. Als sich die Anarchisten, von antisemit. und ultramonarchistischen Elementen angereizt, für den 1. Mai, den «Weltfeiertag», vorbereiteten, nahm die Regierung in Paris und Lyon [* 14] zahlreiche Verhaftungen vor, den Prinzen von Orléans dagegen gab sie nach einigen Wochen (3. Juni) frei. Auch der zunehmende Wohlstand und der hohe Kurs der Rente kam der Regierung zu statten. Der Finanzminister Rouvier konnte jetzt sein Programm entwickeln, ohne im Budgetausschuß Widerstand zu finden, Steuererhöhungen vorschlagen und dem Plane, die eben fälligen sechsjährigen Schatzobligationen im Betrage von 700 Millionen, die zur Deckung des außerordentlichen Kriegsbudgets gedient hatten, mittels einer Emission von Rente einzulösen, die Zustimmung des Budgetausschusses gewinnen.
Dieser allgemeine Wohlstand ließ auch das herrschende System der abwartenden Friedenspolitik als das richtige erscheinen, wie es Carnot bei jeder Gelegenheit betonte. Erst als seit dem Sturze Bismarcks der deutsche Hof [* 15] sich dem englischen näherte, wurde man in Frankreich besorgt, und zwar um so mehr, als zur selben Zeit die Kriegsminister im deutschen Reichstage und in den österr.-ungar. Delegationen außerordentliche Geldopfer für militär. Zwecke als in den nächsten Jahren unabwendbar ankündigten.
Man trachtete daraufhin in Frankreich, dem befreundeten Rußland nach Möglichkeit gefällig zu sein, um es völlig zu gewinnen. Am 29. Mai verhaftete man 15 Nihilisten, die Bomben und Sprengstoffe bereiteten und Attentate planten, stellte sie vor Gericht und verurteilte eine Anzahl derselben; man unterstützte die Politik des Zaren beim Vatikan [* 16] und in Bulgarien [* 17] und ließ es nicht an Demonstrationen fehlen, welche die Kampfbereitschaft F.s darthun sollten. Trotz dieser russenfreundlichen Kundgebungen wartete man in Paris dennoch lange vergeblich auf ein Zeichen der Gunst des Zaren.
Endlich fand diese einen bestimmtern Ausdruck, als im Juli ein vom Admiral Gervais befehligtes Geschwader auf seiner Reise ins Baltische Meer vor Kronstadt [* 18] vor Anker [* 19] ging. Der Zar selbst empfing die franz. Offiziere, besuchte die Flotte und duldete es, daß bei den Verbrüderungsfesten und in seiner Gegenwart die Marseillaise gespielt wurde. In Frankreich herrschte darüber heller Jubel. Ein russ. Anlehen von 500 Mill. Frs. wurde siebenfach überzeichnet, und das Selbstbewußtsein der franz. Machthaber war durch diese Annäherung Alexanders III. stark gehoben. Auch zu einer Erweiterung des afrik. Kolonialgebietes eröffnete in dieser Zeit ein Zwischenfall mit Dahome (s. d.) die Aussicht.
Unterdessen war es der opportunistischen Pariser Regierung gelungen, auch im Innern Erfolge zu erringen. In die Reihe der Souveräne, welche die Republik mit ihrer Neigung auszeichneten, stellte sich auch der Papst. Kardinal Lavigerie, der Erzbischof von Algier, hatte schon 1890 den Anschluß der franz. Geistlichkeit an die Republik für nützlich erachtet, um Einfluß auf die Regierung zu erlangen und das Interesse der Kirche zu fördern. Leo XIII. erklärte sich (aus Abneigung gegen den Dreibund) mit diesem Gedanken einverstanden und empfahl den Gläubigen F.s, die republikanische Staatsform und ihre Gesetze zu achten.
Damit sahen sich die franz. Monarchisten eines starken Rückhalts beraubt. Dazu kam, daß zwei der monarchischen Sache dienende Persönlichkeiten kurz nacheinander starben: Prinz Napoleon 17. März und Boulanger Ein weiteres Eingreifen des Heiligen Vaters zu Gunsten der Republik geschah in einem Schreiben des Staatssekretärs Kardinal Rampolla vom an den Erzbischof von Paris, das die Aufforderung enthielt, sich zur Wahrung der kirchlichen Interessen auf den Boden der republikanischen Verfassung zu stellen, worauf der Episkopat in einer Kundgebung vom 20. Jan. sich bereit erklärte, gegen die Staatsform keine Opposition machen zu wollen. ¶
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Das waren unleugbare Erfolge der Republik und ihrer opportunistischen Regierung. Diese erweckten denn auch sofort aufs neue die erbitterte Gegnerschaft der Radikalen. Ihre Unternehmungen blieben jedoch zunächst erfolglos, und zwar weil jetzt auch die Konservativen die Regierung stützten, die einen autonomen Schutzzolltarif vorgelegt hatte, worin jene ihre meist landwirtschaftlichen Interessen gewahrt sahen. Die Kammer entschied sich für die Doppelform eines Maximal- und eines Minimaltarifs, von denen der letztere jenen Staaten zu gute kommen sollte, die ihrerseits Frankreich Begünstigungen vor andern gewähren.
Da aber auch der Minimaltarif sehr hohe Sätze aufwies, so geriet die Republik im Laufe des J. 1892 in eine handelspolitisch immer mehr isolierte Stellung. Solange nun der neue Tarif nicht auch vom Senat genehmigt war, hatten die Konservativen keinerlei Grund, eine Veränderung im Ministerium herbeizuführen oder zuzulassen, und stimmten deshalb die Radikalen nieder. Vollends als dieselben im Dez. 1891 die Kündigung des Konkordates forderten, welchen Antrag die Regierung für unnütz und schädlich zugleich erklärte. So war das Kabinett neuerdings befestigt.
Aber dennoch waren seine Tage gezählt. Ein im Februar vorgelegtes Genossenschaftsgesetz verstimmte die Konservativen, die darin eine Waffe der Regierung gegen die religiösen Körperschaften erblickten. Als dann das Ministerium dies öffentlich in Abrede stellte, erregte es andererseits den Zorn der Radikalen, die es des Einverständnisses mit dem Papste beschuldigten. So blieb, von rechts und links angefochten, eine von der Regierung gebilligte Tagesordnung mit 212 gegen 304 Stimmen in der Minderheit, und Freycinet nahm 19. Febr. seine Entlassung.
Da aber gerade zur selben Zeit eine päpstl. Encyklika (vom 16. Febr.) alle Franzosen aufforderte, die herrschende Regierungsform anzuerkennen und die Regierung zu unterstützen, und da Carnot ein radikales Kabinett aus Rücksicht für den Zaren nicht berufen wollte, wurde das System nicht geändert. Die Präsidentschaft ging auf Loubet über, Freycinet behielt das Kriegsportefeuille, doch Constans trat aus. Die päpstl. Encyklika hatte zur weitern Folge, daß etwa 40 monarchistische Deputierte, sog. Ralliierte, unter Führung des Abgeordneten Piou die Gruppe der Konstitutionellen Rechten (s. d.) bildeten und sich mit Aufgebung ihres polit. Ideals auf den Boden der bestehenden Verfassung stellten. Daß sich im Mai auch der «Verein des christl. Frankreichs» auflöste, der bis dahin den Mittelpunkt der antirepublikanischen Elemente gebildet hatte, hatten die Machthaber ebenfalls den päpstl. Erlassen zu verdanken.
In den Monaten Februar, März und April wurden die Bewohner von Paris durch häufige Dynamitattentate der Anarchisten beunruhigt. Nur einen der Verbrecher, Ravachol, gelang es zunächst zu ergreifen. Er wurde 11. Juli hingerichtet. In ihren Grundfesten wurde die Republik jedoch erschüttert durch eine Katastrophe, die am Schluß des Jahres über sie hereinbrach. Nach 18monatiger Voruntersuchung beschloß der Ministerrat 15. Nov. das Kriminalverfahren gegen die Leiter des Panamakanalunternehmens eröffnen zu lassen, und wenige Tage darauf (21. Nov.) beschuldigte der Boulangist Delahaye in der Kammer 150 Deputierte, darunter frühere Minister und hohe Beamte, daß sie ihr Votum zu Gunsten der Pamamaanleihe für hohe Summen hätten erkaufen lassen, und beantragte die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Seinem Antrag wurde stattgegeben und Brisson zum Vorsitzenden der aus 33 Mitgliedern bestehenden Kommission ernannt. Die allgemeine Beunruhigung wurde noch erhöht durch den Tod des Bankiers Reinach (20. Nov.), der die Finanzoperationen der Panamagesellschaft zum größten Teil geleitet hatte. Man behauptete, daß er sich vergiftet habe, um sich der Verantwortung zu entziehen, oder gar daß er noch lebe und seine Beerdigung nur ein Scheinmanöver gewesen sei. Am 28. Nov. wurde in der Kammer die Exhumierung der Leiche verlangt, und als das Haus trotz des Widerspruchs des Justizministers Ricard demgemäß beschloß, reichte das Ministerium seine Entlassung ein. Das neue Kabinett, das unter Ribot 6. Dez. zusammentrat, umfaßte alle Mitglieder des alten mit Ausnahme von Ricard, an dessen Stelle Bourgeois Justizminister wurde, und Roche, für den Sarrien den Handel übernahm. Jedoch nur wenige Tage darauf (13. Dez.) mußte der Finanzminister Rouvier, der nicht leugnen konnte, daß er zu Wahlzwecken Gelder von der Panamagesellschaft angenommen hatte, dem Senator Tirard seinen Platz räumen. Neue Angriffe, die sich namentlich gegen Loubet, Freycinet und Burdeau richteten, zwangen auch das so rekonstruierte Ministerium, seine Entlassung einzureichen. In dem neuen «purifizierten» Kabinett, das Ribot am folgenden Tage bildete, fanden sie keine Stelle. Als 10. Jan. die Kammer wieder zusammentrat, wurde der langjährige Präsident Floquet, der ebenfalls seine Beteiligung an der Verteilung der Panamagelder an die Presse [* 21] hatte zugeben müssen, nicht wiedergewählt; an seine Stelle trat Casimir-Perier. Ebenfalls 10. Jan. begann vor dem Pariser Zuchtpolizeigericht der Prozeß gegen die Verwaltungsräte der Panamagesellschaft, die beiden Lesseps, Fontane, Cottu und Eiffel, die 9. Febr. wegen Betrugs und Vertrauensmißbrauchs zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, doch wurde das Urteil wegen Verjährung durch den Kassationshof im Juni aufgehoben. Weit sensationeller gestaltete sich ein zweiter Panamaprozeß, der 8. bis 21. März gegen die oben genannten Direktoren der Panamagesellschaft als Bestecher, und den frühern Minister Baïhaut, einige Senatoren und Deputierte als Bestochene vor dem Geschworenengericht in Paris geführt wurde. Die meisten der Angeklagten wurden allerdings freigesprochen, doch wurden Lesseps, Blondin und Baïhaut verurteilt, und zwar zu 1, 2 und 5 Jahren Gefängnis.
Durch dieses Urteil schien der Panamaskandal in einer für das herrschende parlamentarisch-republikanische System möglichst günstigen Weise beigelegt zu sein, und die Kammer, die, solange diese Angelegenheit im Vordergrunde gestanden, die Regierung energisch unterstützt hatte, entzog ihr plötzlich dieses Vertrauen. Der Senat hatte die von der Kammer beschlossene Verbindung der Reform der Getränkesteuer mit dem Budget abgelehnt, das Ministerium stellte sich auf die Seite des Senats und nahm, da es 30. März mit seinem Antrag, den Senatsbeschluß zu acceptieren, in der Minderheit blieb, seine Entlassung. An Stelle Ribots übernahm Dupuy 4. April das Präsidium, und ihm bewilligte die Kammer 28. April, was sie dem vorigen Ministerium versagt hatte, sodaß das Budget mit vier Monaten Verspätung endlich zu stande kam. ¶
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Ein Handelsvertrag mit Rußland, in dem Frankreich die Zölle auf Naphthaprodukte (Petroleum) auf die Hälfte des bisherigen Betrages herabsetzte und von Rußland wesentliche Zollermäßigungen für feinere Industrieerzeugnisse und Ackerbaugeräte erlangte, legte von neuem Zeugnis ab von den freundschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen beiden Mächten entwickelt hatten. Grenzstreitigkeiten mit Siam spitzten sich im Juli zu einem Konflikt zu, als den Menam hinauffahrende franz. Kanonenboote von den Siamesen beschossen wurden. Frankreich forderte 20. Juli in einem Ultimatum Anerkennung des Mekong als Grenze und besetzte, als Siam mit der Annahme zögerte, Tschantabon. Erst 3. Okt. kam ein Vertrag zu stande, worin Siam auf das linke Mekongufer verzichtete.
Inzwischen fanden 20. Aug. die Neuwahlen zur Deputiertenkammer statt und ergaben mit den Stichwahlen 3. Sept. wieder eine Verstärkung [* 23] der Republikaner, aber auch der Socialisten, während die Hoffnungen der Ralliierten sich nicht erfüllten. Es wurden gewählt 409 Republikaner und Radikale, 79 socialistische Radikale und Socialisten, 29 Ralliierte und 64 Konservative. Kurz vorher (16. und 17. Aug.) war es zwischen franz. und ital. Arbeitern in Aiguesmortes zu blutigen Zusammenstößen gekommen, wobei eine Anzahl Italiener getötet und verwundet worden waren, ein Ereignis, das nicht dazu beitrug, das ohnehin gespannte Verhältnis zu Italien [* 24] zu verbessern. Dagegen feierte die Republik einen großen Triumph, als Rußland endlich den Kronstadter Flottenbesuch erwiderte. Am 13. Okt. traf ein auf der Heimreise von Amerika [* 25] begriffenes russ. Geschwader unter Admiral Avellan im Hafen von Toulon [* 26] ein, wo es bis 29. Okt. verweilte. Auf das überschwenglichste wurden die russ. Offiziere und Seeleute gefeiert, namentlich auch in Paris, wohin sich ein Teil zum Besuch begab; ein Taumel der Begeisterung ergriff die franz. Bevölkerung [* 27] und erreichte seinen Gipfel, als Kaiser Alexander in einem Telegramm an Carnot von den «Banden, welche unsere beiden Länder vereinigen», sprach, in welchen Worten man die Existenz eines franko-russ. Bündnisses bestätigt zu finden glaubte.
Dieser Erfolg hinderte aber nicht, daß das Ministerium Dupuy bald darauf bei dem Versuch, sich einheitlicher zu gestalten und seine radikalen Mitglieder abzustoßen, zu Falle kam (25. Nov.). Erst nach langem Bemühen kam 3. Dez. ein neues Kabinett mit Ausschluß der Radikalen unter dem bisherigen Kammerpräsidenten Casimir-Perier zu stande, der zugleich das Auswärtige übernahm. Kammerpräsident an seiner Stelle wurde Dupuy, der gleich darauf Gelegenheit hatte, sich in dieser Stellung durch seine Kaltblütigkeit auszuzeichnen. In der Sitzung der Deputiertenkammer, 9. Dez., wurde von der Galerie eine Dynamitbombe in den Saal geschleudert, die über 20 Abgeordnete verletzte. Der Thäter, der Anarchist Vaillant, wurde alsbald ergriffen. Dies Attentat rief eine große Erbitterung gegen die Anarchisten hervor, und bereits 11. Dez. wurde eine Preßgesetznovelle in der Kammer angenommen, die die Verherrlichung von Verbrechen und auch die indirekte Aufreizung dazu unter Strafe stellte, und 15. Dez. drei weitere Gesetzentwürfe über den Verkehr mit Sprengstoffen, über Vereinigungen mit verbrecherischen Zwecken und wegen Bewilligung eines Kredits zur Verstärkung der Polizei. Trotzdem fanden nach der Hinrichtung Vaillants während der nächsten Monate noch mehrere anarchistische Bombenanschläge in Paris statt. Aber Casimir-Perier fuhr fort, nachdem durch die Konversion der 4½ prozentigen Rente in 3½ prozentige auch das Gleichgewicht [* 28] im Budget hergestellt worden war, die Regierung mit fester Hand zu führen, und unterstützt von der Rechten, einen mehr konservativen Zug in die Politik zu bringen.
Dies sollte sich auch in dem Verhältnis zur Kirche geltend machen. Der Kultusminister Spuller erklärte 3. März in der Kammer, daß die Regierung in religiösen Fragen das Princip der Toleranz vertrete und dem «neuen Geist» der Versöhnung Rechnung tragen wolle. Aber die dadurch nur gesteigerten Machtgelüste der Kirche machten diese Versöhnlichkeit bald zu Schanden. Verordnungen betreffend die Rechnunglegung über die Kirchengüter fanden bei vielen Bischöfen und Geistlichen heftigen Widerstand, der durch ein, vom Papst allerdings später desavouiertes Rundschreiben des päpstlichen Nuntius Ferrata noch bestärkt wurde.
Die Regierung konnte nicht umhin, zur Wahrung der staatlichen Autorität gegen mehrere renitente Bischöfe, namentlich den Erzbischof von Lyon, mit Maßregelungen einzuschreiten. Nun hatte sie auch die Rechte gegen sich, ohne darum doch die Radikalen für sich gewonnen zu haben, und so kam sie bei der nächsten Gelegenheit zu Falle. Als die Kammer 22. Mai das Verbot, daß Angestellte der Staatsbahnen [* 29] an Arbeiterkongressen teil nähmen, mißbilligte, nahm das Ministerium seine Entlassung.
Dupuy bildete nun wieder ein Kabinett (30. Mai). Eine hervorragende Stellung nahm darin der Minister des Auswärtigen, Hanoteaux, ein, der sogleich mit Energie gegen das zwischen England und dem Kongostaat [* 30] 20. Mai geschlossene Abkommen vorging, durch das man F.s Vorzugsrechte im Kongobecken mißachtet und auch die Rechte der Pforte im äquatorialen Sudan geschmälert glaubte. Dieser Aktion ging parallel eine ähnliche Deutschlands, [* 31] mit welchem Staat Frankreich schon unter dem vorigen Ministerium 18. März ein sehr günstiges Abkommen über die Abgrenzung der beiderseitigen Machtsphären in Westafrika getroffen hatte, wodurch Frankreich der Zugang zum Tsadsee gesichert war. Inzwischen wurde die Aufmerksamkeit von diesen Dingen abgelenkt durch die Ermordung des Präsidenten Carnot. Als dieser bei einem Besuch in Lyon 24. Juni abends nach dem Theater [* 32] fuhr, wurde er von dem ital. Anarchisten Caserio, der sich auf das Trittbrett des Wagens schwang, durch einen Dolchstoß schwer verwundet und starb wenige Stunden danach. In der durch diese That hervorgerufenen Erregung machte namentlich die Teilnahme des Deutschen Kaisers und die damit verbundene Begnadigung zweier in Deutschland [* 33] wegen Spionage verurteilten franz. Marineoffiziere einen tiefen Eindruck.
19) Unter der Präsidentschaft Casimir-Periers und Faures (seit 1894). In dem am 27. Juni Versailles zusammengetretenen Kongreß wurde gleich im ersten Wahlgang Casimir-Perier, der nach dem Sturz seines Ministeriums wieder Kammerpräsident geworden war, mit 451 von 851 Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt. In ihm sah man in der Furcht vor der anarchistischen und socialistischen Gefahr den Retter des republikanischen Staatswesens. Die meisten Stimmen nach Casimir-Perier hatte der Radikale Brisson (191), der dann in der Deputiertenkammer zum Präsidenten ¶
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gewählt wurde, wo ihm die Regierungspartei nicht einmal einen Kandidaten entgegensetzte. Das Kabinett Dupuy reichte seine Entlassung ein, wurde aber vom Präsidenten der Republik wiederberufen. Ein neues Gesetz gegen die anarchistische Propaganda gelangte darauf schon 26. Juli in der Kammer, 27. Juli im Senat zur Annahme. Einen bedeutenden Erfolg hatte die Regierung durch den am 14. Aug. zu Paris mit dem Kongostaat abgeschlossenen Vertrag. Darin verzichtete der Kongostaat auf die Besetzung nördlich vom 5. Breitengrade und östlich über den 30.° östl. L. hinaus, wodurch die in dem Vertrag mit England von diesem an den Kongostaat erfolgte «Verpachtung» von Gebiet am obern Nil nichtig wurde und hier der Rivalität F.s mit England freies Feld gelassen wurde. War hier eine der kolonialen Bestrebungen drohende Gefahr durch geschickte Diplomatie rasch beseitigt worden, so führte das Verhalten Madagaskars, das sich den Konsequenzen des franz. Protektorats zu entziehen suchte, zum Kriege. Als ein franz. Ultimatum im Oktober unbeantwortet blieb, wurde ein Expeditionskorps nach Madagaskar [* 35] eingeschifft, wo es zunächst 12. Dez. Tamatave besetzte.
Im Innern war die größte Sorge der Steuerreform zur endgültigen Deckung des Deficits zugewendet. Es sollte die Erbschaftssteuer einträglicher gestaltet und eine progressive Einkommensteuer eingeführt werden. Doch kam es nicht zu einem Abschluß dieser Reform, da das Ministerium Dupuy zuvor durch geschicktes Operieren der Radikalen und Socialisten gestürzt wurde. In einer Streitfrage wegen der Dauer der vom Staat vor 12 Jahren der Orléans- und Südbahn geleisteten Zinsgarantie hatte der Staatsrat zu Gunsten der Bahnen entschieden und der Arbeitsminister Barthou daraus die Konsequenz gezogen, seine Entlassung zu nehmen, während das Ministerium im übrigen sich der Entscheidung des Staatsrates unterwerfen zu wollen erklärte.
Hierdurch wurde der Staat mit bedeutenden Mehrausgaben belastet. Diesen Umstand benutzte die Opposition, eine nicht von der Regierung gebilligte Tagesordnung zur Annahme zu bringen, worauf Dupuy die Demission des Ministeriums einreichte. Dies Entlassungsgesuch hatte aber eine ganz unerwartete Folge: der Präsident der Republik selbst legte sein Amt nieder. Die innern Gründe dieses überraschenden Schrittes darzulegen behielt er sich für eine spätere passende Zeit vor.
Jedenfalls glaubte er sich in seinem Bestreben, der Republik ehrlich zu dienen, durch den Mangel an aufrichtiger Unterstützung selbst in seiner nächsten polit. Umgebung gehindert zu sehen. Angeekelt durch das interessierte Parteitreiben und die persönlichen Verunglimpfungen, denen er schutzlos preisgegeben war, zog er sich von einem Amte zurück, worin er nicht, wie er gehofft hatte, einen entscheidenden Einfluß auf die Regierung auszuüben vermochte.
Der Kongreß zur Wahl eines neuen Präsidenten trat 17. Jan. zusammen. Im ersten Wahlgang erhielten von 794 abgegebenen Stimmen Brisson 338, Faure 244 und Waldeck-Rousseau 184; da letzterer zu Gunsten Faures verzichtete, wurde dieser, der im letzten Kabinett Dupuy Marineminister gewesen war, im zweiten Wahlgang mit 430 Stimmen gewählt, während Brisson 361 erhielt. In der verworrenen Lage gelang es dem neugewählten Präsidenten erst nach langen Verhandlungen 27. Jan. ein neues Ministerium von gemäßigter Färbung unter Ribot einzusetzen.
Seine erste Amtshandlung war die Einbringung einer 28. Jan. in der Kammer angenommenen Amnestie für die wegen Komplotts gegen die innere Sicherheit des Staates und wegen Preß- und Streikvergehen Verurteilten. Dadurch erhielt auch Rochefort die Erlaubnis zur Rückkehr nach Frankreich. Der wichtigste Minister im neuen Kabinett war Hanoteaux, der das Auswärtige behalten hatte und noch weiter mit Entschiedenheit leitete. Als der engl. Unterstaatssekretär Sir Edward Grey im Unterhause es als eine «Unfreundlichkeit» gegen England bezeichnete, wenn Frankreich im Gebiete des obern Nils weitere Fortschritte zu machen suchen sollte, wies er dies in einer Rede im Senat 5. April geschickt zurück. Er scheute sich auch nicht, obwohl schon die Annahme der Einladung Deutschlands zur Eröffnung des Nordostseekanals von einem Teil der franz. Presse wütend bekämpft worden war, eine gemeinsame Aktion nicht nur mit Rußland, sondern auch mit Deutschland gegen den zwischen China [* 36] und Japan 17. April geschlossenen Friedensvertrag von Shimonoseki einzuleiten. Die schwierige Reform der direkten Steuern, bei der die demokratischen Wünsche der Radikalen den Anschauungen der Gemäßigten gegenüber standen, schob die Regierung auf, und so kam endlich ohne diese 13. April das Budget für 1895 zu stande, worauf sich die Kammern bis Mitte Mai vertagten.
Litteratur zur französischen Geschichte. Über die Quellen zur franz. Geschichte und deren Bearbeitungen orientiert am zuverlässigsten G. Monod, Bibliographie de l'histoire de France, depuis les origines jusqu'en 1789 (Par. 1888) und der Catalogue de l'histoire de France de la Bibliothèque nationale (Bd. 1-11, ebd. 1855-79).
Von allgemeinen Werken über das ganze Gebiet der franz. Geschichte verdienen Erwähnung: Guizot, Essai sur l'histoire de France (Par. 1823; 14. Aufl. 1877);
Michelet, Histoire de France (neue Aufl., 19 Bde., ebd. 1878-79) nebst dem Abrégé d'histoire de France (2 Bde., ebd. 1881);
Martin, Histoire de France (4. Aufl., 17 Bde., ebd. 1856-60);
Dareste de la Chavanne, Histoire de France, depuis les origines jusqu'à nos jours (3. Aufl., 9 Bde., 1885);
E. A. Schmidt, Geschichte von Frankreich (4 Bde., Hamb. u. Gotha [* 37] 1835-48);
Guizot, Histoire de la civilisation en France (15. Aufl., 4 Bde., Par. 1890);
Rambaud, Histoire de la civilisation française (3 Bde., ebd. 1885-88);
Warnkönig, Franz. Staats- und Rechtsgeschichte (3 Bde., Bas. 1846-48);
Viollet, Précis de l'histoire du droit français (Par. 1885);
ders., Histoire des institutions politiques et administratives de la France (2 Bde., ebd. 1889 fg.);
Glasson, Histoire du droit et des institutions de la France (Bd. 1-5, ebd. 1887-93);
Chéruel, Dictionnaire historique des institutions, mœurs et coutumes de la France (6. Aufl., 2 Bde., ebd. 1884);
ders., Histoire de l'administration monarchique en France depuis l'avènement de Philippe Auguste jusqu'à la mort de Louis XIV (2 Bde., ebd. 1855);
Picot, Histoire des États généraux, 1365-1614 (5 Bde., ebd. 1888);
Thierry, Essai sur l'histoire du tiers-état (ebd. 1853);
Bailly, Histoire financière de la France (2 Bde., ebd. 1830);
Clamageran, Histoire de l'impôt en France (3 Bde., ebd. 1867-76);
Granier de Cassagnac, Histoire des classes nobles et des classes anoblies (ebd. 1840);
Levasseur, Histoire des classes ouvrières en France (bis 1789; 2 Bde., ¶