Dramen im franz. und antikisierenden
Geschmack einführen. Eine wertvolle Verbündete fand er dabei an der tüchtigen Karoline
Neuberin (1697‒1760), deren
Truppe ihren
Stammbaum über die
Banden Hoffmanns, Haakes und Elensohns bis auf
Velten zurückführte
und in Kohlhardt, Suppig u. a. treffliche Acteure besaß.
Wenngleich die Neuberin der improvisierten
Stücke noch nicht ganz entbehren konnte, so verbannte sie
doch, auf Gottscheds Anraten, die typische
Maske des Possenreißers und seine privilegierte Entartung 1737 auf ^[korrekt:
aus] ihrem
LeipzigerTheater
[* 2] in einem von ihr gedichteten Gelegenheitsspiel öffentlich von der
Bühne. Ihr
Beispiel bewirkte,
wenigstens für Norddeutschland, daß hinfort fast nur aufgeschriebene
Stücke aufgeführt wurden und
daß der
Harlekin, dessen sich Lessing und Just.
Möser annahmen, wenigstens dem
Namen nach verschwand, nicht in seinem Wesen, das auf die ständigen komischen Bedienten- und
Soubrettenrollen
(Johann, Lisette) überging. Viel zäher schützte
Wien
[* 3] seinen Liebling, der ebenso in der Zauber- und Maschinenkomödie
wie in der Liederposse unentbehrlich war. Der erste Versuch, der 1747 mit einem regelmäßigen
Stück
gemacht wurde, entzündete einen heftigen Widerstreit der Stegreifspieler gegen diese Neuerung, der 23 Jahre lang, an ein
und derselben
Bühne, mit allen Waffen
[* 4] der Erfindungskraft und der
Intrigue geführt wurde, bis Maria
Theresia sich des regelmäßigen
Geschmacks mit Entschiedenheit annahm, Jos. von
Sonnenfels leitenden Einfluß gewann und die
Improvisation
durch die von ihm gehandhabte Censur auch vom
WienerTheater verbannt wurde.
In Norddeutschland hatte indes die einseitige Nachahmung der franz. Kunst bei der Schönemannschen
und Kochschen
Truppe fortgewirkt, während
Schuch den ältern
Geschmack noch nicht aufgab und in
Leipzig
[* 5] selbstWeißes
[* 6] komische
Opern stärker waren als Gottscheds Einfluß. Die Schwäche der Gottschedschen
Reform lag in dem
Mangel deutscher Originalstücke.
Das besserte sich etwa seit Lessings
«Miß Sara Sampson» (1756); wie hier durch ein praktisches
Beispiel, führte der große
Kritiker auch theoretisch von dem konventionellen Pathos der franz. Alexandrinerstücke ab
und lenkte die
Aufmerksamkeit auf die rührende Komödie der
Franzosen, namentlich aber auf das
Drama der
Engländer.
Auch auf die gesunde natürliche
Entwicklung der Schauspielkunst wirkte er nach Kräften hin; mit dem
Theaterstand er sein
Leben lang in nächster Fühlung. Dieses hob sich sichtlich. Die Gesellschaften Kochs,
Ackermanns, Seylers, Döbbelins, Schröders
wechselten zwar noch oft den Spielort, doch blieb z.B. Döbbelin von 1775 bis 1787 fest in
Berlin.
[* 7]
Große schauspielerische
Talente, wie die Heroinen Frau Hensel-Seyler, die Liebhaberinnen Frau
Starke und Frau
Brandes, der
KomikerBrückner tauchten
auf und wurden gesucht. 1767 versuchte ein
Konsortium, in
Hamburg
[* 8] ein
Deutsches Nationaltheater (s. d.) zu
gründen, und gewann Lessing zum Dramaturgen; an dieser
Bühne trat der große Schauspieler Konr. Ekhof (1720‒78) auf, «der
Vater der deutschen Schauspielkunst», der den
Kothurn des alten franz.
Stils ganz in Lessings
Sinne zu Gunsten echter und doch
künstlerischer Natürlichkeit abstreifte und dadurch epochemachend wirkte.
Das «Nationaltheater» ging ein, in Lessings
«Hamburger Dramaturgie» eine wertvolle
Frucht hinterlassend;
aber auch noch unter, Friedr. Ludw.
Schröder (1744‒1816),
dem trefflichen
Mimen und Bühnendichter, der die
HamburgerBühne 1771‒80 leitete, besaß diese
an den
HeldenBrockmann und
Reinecke, an Borchers und
Christ, an den Schwestern
Ackermann Kräfte hohen Ranges. Schröder erwarb
sich das bleibende Verdienst,
Shakespeare auf der deutschen
Bühne heimisch gemacht zu haben; aber auch
Goethes «Götz» führte er auf, und ein von ihm ausgeschriebener Preis
wurde Klingers
«Zwillingen» zu teil. Sein Auftreten auf dem
WienerBurgtheater (1781‒85) half auch dort die ältere, unwahr
gespreizte und übertriebene Art des
Spiels beseitigen. In gleichem
Sinne war Ekhof, der inzwischen Mitglied
der Seylerschen
Truppe gewesen war, an dem 1775 gegründeten Hoftheater zu Gotha
[* 9] thätig, dessen Direktion er bis zu seinem
Tode führte. ^[]
Um diese Zeit vollzog sich eine große
Veränderung der Theaterverhältnisse. Bis dahin waren es Schauspielerprinzipale, die
alten Komödiantenmeister, selten andere Privatunternehmer, unter ihnen auch
Kavaliere, wie in
Wien und
München,
[* 10] die an der
Spitze der Theaterunternehmungen standen; von jetzt an begannen die Fürsten ital.
Oper und franz. Komödie
abzuschaffen und deutsche Theater in ihrem unmittelbaren Schutze zu unterhalten. Diese
Veränderung wirkte um so vorteilhafter,
als die Kunst dadurch vom Erwerb unabhängig gemacht wurde, ohne doch der kunstverständigen Leitung
entzogen zu sein.
KaiserJoseph Ⅱ., der 1776 das
Wiener Schauspiel übernahm und ihm den
Titel eines Nationaltheaters mit der musterhaften Bestimmung
gab, es solle nur zur
Verbreitung des guten
Geschmacks und zur
Veredelung der
Sitten wirken, machte die Einsetzung der künstlerischen
Vorstände von der
Wahl der Theatermitglieder abhängig, sodaß bald ein
Ausschuß von Schauspielern, bald
einzelne, wie
Stephanie, dann
Brockmann, die Direktion führten. Dalberg, der 1779 in
Mannheim
[* 11] ein kurfürstl. Nationaltheater
gründete, adoptierte die Josephinische Organisation, und diese junge
Bühne, der die besten
Talente des bald nach Ekhofs
Tode
wieder aufgelösten Gothaer Hoftheaters, unter ihnen
Beil, Iffland,
Beck, beitraten, wurde zur
Stätte einer
neuen schauspielerischen Schule, als deren Haupt Iffland zu betrachten ist.
Dieser Aufschwung der
Bühne geht mit dem Aufschwung der dramat.
DichtungHand
[* 12] in
Hand.
Goethes «Götz von
Berlichingen» gab der
durch
Shakespeare genährten
Richtung auf Natürlichkeit einen solchenNachdruck, daß dadurch bei den Aufführungen
in
Hamburg und
Berlin 1773 eine
Reform des Theaterapparats, besonders des Kostüms, zu Gunsten der histor.
Treue herbeigeführt
wurde. Die
MannheimerBühne bahnte dem jungen
Schiller durch die Aufführung seiner Jugenddramen 1781‒84 den
Weg in die Öffentlichkeit.
Während
Goethes «Götz» und
Schillers«Räuber» ein langes Gefolge von Ritter- und Räuberstücken nach
sich zogen, als deren Verfasser u.a. Törring,
Babo und Maier hervortreten, wurde das bürgerliche
Drama, nach Lessings Vorbild,
besonders von den Schauspielern Iffland, Schröder, Großmann,
Brandes, in zweiter Linie von
Gotter, Gemmingen und
Bretzner
kultiviert; ergiebiger als je war die dichterische Produktion. Blieben diese meist platt alltäglichen
bürgerlichen Schau- und
Lustspiele an poet. Wert weit hinter Lessings «Minna» zurück, so fehlte
es ihnen selten an Bühnenwirksamkeit und
Routine.
Alle frühern
Poeten dieser Art überbot in der Gunst
¶
mehr
des Publikums der talentvolle und witzige Aug. von Kotzebue durch seine mit falscher Empfindsamkeit, mit rührseliger Charakterlosigkeit
gefährlich versetzte Schriftstellerei, die wohl ein Vierteljahrhundert lang das Repertoire beherrschte.
Gegen diese ganze Gattung wandte sich die idealistische Reform, durch die Weimars große Dichter dem Theater eine völlig veränderte
Richtung zu geben suchten. Goethe hatte die Direktion des 1791 errichteten weimarischen Hoftheaters übernommen.
Bald wandte auch Schiller demselben seine belebende produktive Teilnahme zu, und von Weimar
[* 14] ging nunmehr eine neue Schule der
Dicht- und Schauspielkunst aus, die ein entscheidendes Ansehen mit der Aufführung von SchillersWallenstein-Trilogie (Okt.
1798, Jan. und April 1799) gewann.
Erst durch sie lernten die deutschen Schauspieler Dramen vornehmen Stils in ruhig schöner Würde darstellen, durch sie lernte
das Publikum, im Theater nicht nur Vergnügen oder Aufregung, sondern auch tiefen künstlerischen Genuß suchen, durch sie
endlich lernten die Theaterleiter, das Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch zu edlerer Kost erziehen.
Von Weimar aus eroberten sich Schillers hinreißende Dramen ganz Deutschland.
[* 15] Es ist wohl richtig, daß der Weimarer Kunststil,
der mehr auf Schönheit als auf Naturwahrheit ausging, für minder begabte Schauspieler die Gefahr der Manieriertheit und
Hohlheit mit sich brachte, eine Gefahr, vergleichbar jener, die Schillers Nachahmer im Drama liefen. Es
ist ferner unleugbar, daß sich die Weimarer Dichter zu allerlei technischen und litterar.
Experimenten verleiten ließen (man denke an die Chöre in der «Braut von Messina»,
[* 16] die Dramen «Jon» und «Alarkos»
der Brüder Schlegel), die der Bühne wenig praktischen Nutzen brachten. Ebenso sicher aber ist es, daß sie mit
geringen Mitteln und mäßigen Kräften, unter denen Vohs, Graff, die Jagemann, die Schröter, das Ehepaar Wolff hervorragten,
Wunderbares erreichten, daß sie durch ihr Beispiel großen Einfluß übten, daß sie das Deutsches Theater und Drama erst auf die Höhe
des künstlerischen Ernstes und der künstlerischen Leistungsfähigkeit erhoben.
Ähnliches ist nirgends wieder geglückt; der verwandte Versuch einer idealen Musterbühne, den Karl Immermann
1834‒37 in Düsseldorf
[* 17] mit Hingabe und Geschick wagte, mußte bald aufgegeben werden. Ein Hauptgrund war freilich, daß die
Folgezeit keinen zweiten Schiller hervorbrachte, der edelste Kunst mit unmittelbarer populärer Bühnenwirkung verband; die
großen Dramatiker des 19. Jahrh., Heinr. von Kleist, Grillparzer, Hebbel haben sämtlich erst späte
Erfolge gehabt und nie eigentliche Zugstücke geschrieben, und die Mehrzahl der nachschillerschen Jambendramatiker verdiente
kein besseres Schicksal, als ihnen wurde.
Wächst die Zahl der stehenden Bühnen seit Anfang des Jahrhunderts ins Große, so spielt sich die Entwicklung des Theaters doch
mehr und mehr in den beiden Hauptstädten Berlin und Wien ab; nur die DresdenerBühne hat unter Ludw. Tiecks
und Gutzkows Einfluß, durch die Schauspieler Eduard und Emil Devrient, Dawison, wie durch Wilhelmine Schröder-Devrient,
die Münchener durch den idealistischen Heldenspieler Eßlair zeitweilig eine Rolle gespielt. In Berlin wurde 1786 das Komödienhaus
auf dem Gendarmenmarkt zum «Nationaltheater» erhoben
und von J. J. Engels, später sehr glücklich von Iffland geleitet, der mit den Weimarer Dichtern
enge Fühlung hatte und klassische
Aufführungen sehr begünstigte; für Schiller zumal hatte er an Fleck, Mattausch und Frau Unzelmann-Bethmann vorzügliche
Kräfte.
Aber mit dem GrafenBrühl wurde die Theaterleitung ein Hofamt, dessen Träger
[* 20] höchstens ein gebildeter Dilettant war, mit
ihm drängte sich bureaukratische Verwaltung ein und erzeugte Übelstände, die sich unter den folgenden Intendanzen Rederns,
Küstners, Hülsens, Hochbergs nur gesteigert und das Berliner Schauspielhaus um seinen alten Ruhm gebracht haben, trotzdem
es ihm an glänzenden Kräften (früher der geistvolle Seydelmann, später Dessoir, Hendrichs, Döring, die Frieb-Blumauer)
nie gefehlt hat.
Leider ist dieselbe wenig bewährte Einrichtung, die einen Kavalier als wirklichen Leiter an die Spitze stellt, einen sachverständigen
Schauspieler oder Dichter höchstens an zweiter Stelle duldet und damit den innern Zusammenhang, die künstlerische Einheit
löst, auch bei andern Hoftheatern Regel geworden, doch war die Wahl der vornehmen Intendanten nicht selten
glücklich; auch hat es immer zahlreiche Ausnahmen gegeben, so früher Klingemann in Braunschweig,
[* 21] Franz von Holbein
[* 22] in Hannover,
[* 23] später Dingelstedt in München, Weimar und Wien, Ed. Devrient in Karlsruhe,
[* 24] Wehl in Stuttgart
[* 25] u. a.
Die guten Erfolge wirklich künstlerischer Leitung, die das Ganze mit ihrem einheitlichen Geiste durchdringt, belegt glänzend
das Burgtheater in Wien, unstreitig die erste deutsche Bühne. Hier haben seit dem trefflichen Dramaturgen
Schreyvogel (1768‒1832), wenn nicht formell, so thatsächlich, mit geringen Unterbrechungen ausgezeichnete Männer die Direktion
in Händen gehabt, so Deinhardstein, Holbein, vor allen Laube (1849‒67), dann Halm, Dingelstedt, Wilbrandt, und sie haben
der Bühne ein treffliches Ensemble zu erhalten gewußt, von Sophie Schröder, Anschütz, La Roche, Amalie
Haizinger, Julie Rettich, Marie Seebach, Fichtner, Löwe bis auf Charlotte Wolter, Friederike Goßmann, Sonnenthal, Baumeister,
Mitterwurzer u. a. War Wien früher eine Hochschule der WeimarerRichtung, so ist jetzt längst eine recht realistische Darstellung
dort Tradition. Das WienerBurgtheaterwar in der Auswahl seines Repertoires lange durch Censur und Rücksicht
behindert; dafür erfreute es sich von je einer warmen Teilnahme des Publikums wie keine andere Bühne und hatte an Grillparzer,
Halm, Hebbel einheimische starke Dramatiker, an Ziegler, Frau von Weißenthurn, Bauernfeld, Mosenthal wenigstens höchst zugkräftige
Autoren.
Im Wiener Theaterleben spielten immer die Vorstadtbühnen eine große Rolle. Auf ihnen pflanzte sich
neben allerlei Lokalpossen und den sehr beliebten Parodien das alte Zauberstück fort, das in
¶
mehr
Schikaneders auf dem Theater an der Wien aufgeführter «Zauberflöte» (1791) dank MozartsMusik ihr berühmtestes Werk erlebt
hatte, das dann aber in den Dichtungen Hafners, Perinets, Henslers, Gleichs, Bäuerles, Carls, Meisls u. a. noch lange fortdauerte
und schließlich in Ferd. Raimund seine herzerfreuende, hochbedeutende Höhe erreichte. Raimund errang seine Erfolge zumeist
auf dem Leopoldstädter und Josephstädter Theater, während der zersetzende, nergelnde Humor seines spätern Konkurrenten Nestroy
besonders im Theater an der Wien und im Carl-Theater zu Worte kam. Einen vergleichbaren Reichtum hatte Berlin in seinem Theaterleben
nicht aufzuweisen auf dem 1822 gegründeten Königstädtischen Theater blühten die harmlosen Holteischen Liederspiele; die
bessere Berliner Lokalposse hatte später am Wallner-Theater eine Stätte.
Gegenwärtig übertrifft Berlin an Zahl seiner TheaterWien beträchtlich; doch dient die Mehrzahl dieser Nebenbühnen einem
niedern Genre, der Operette, der Gesangsposse, dem Ausstattungsstück, wohl gar Specialitäten. Stätten einer ernsten Kunst
sind von den neuen Gründungen in Wien das Deutsche
[* 27] Volkstheater und das Raimund-Theater, in Berlin das Deutsche Theater
und das Lessing-Theater; an ihnen allen hat die Schauspielkunst mehr und mehr der naturalistischen Seite sich zugeneigt.
Die Schwäche unserer Bühnen ist das Ensemble, das eine konsequente überlegene Leitung voraussetzt. Musteraufführungen,
wie man sie z. B. in München aus hervorragenden Kräften verschiedener Bühnen zusammengebracht hat, werden
in dieser Hinsicht sogar besonders mangelhaft sein. Die Neigung zum Virtuosentum beherrscht unsere Schauspieler so, daß
viele hervorragende Männer, wie der elegante Virtuos der Detailmalerei, Fr. Haase, der glänzende Bonvivant Mitterwurzer, der
feurige Naturalist Kainz u. a. lange Zeit überhaupt keiner Bühne fest angehörten, sondern herumgastierten.
Das lehrreiche und fördernde Muster eines vortrefflichen Ensembles, sorgfältiger und liebevoller Einstudierung
und Ausstattung gewährten lange die (1890 ausgegebenen) Gesamtgastspiele des herzoglichen meining. Hoftheaters; auch das
Ensemble des Münchener königl. Theaters am Gärtnerplatz, dessen Specialität dialektische Volksstücke sind, ist in Berlin,
Leipzig und andern Städten erfolgreich aufgetreten. Die sociale Wertschätzung des Schauspielerstandes läßt
nichts mehr zu wünschen übrig; für seine materiellen und Standesinteressen wirkt die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger.
Ob eine Hebung
[* 28] der künstlerischen Leistungen durch Theaterschulen, wie sie z. B. in Wien existieren, zu erreichen ist, macht
die Erfahrung mindestes zweifelhaft.
Mit der schnellen Zunahme der Bühnen, mit ihrer wachsenden Freiheit, hat die dramatische Produktion in
unserm Jahrhundert nicht gleichen Schritt gehalten (s. Deutsche Litteratur). Der größere Bedarf hat in erster Linie die
Massenfabrikation minderwertiger, aber gewinnbringender Eintagsfliegen veranlaßt. Seitdem den dramat.
Dichtern durch die Tantième auch ein materieller Lohn gesichert ist (seit 1845), über den seit 1871 die Deutsche Genossenschaft
dramat. Autoren und Komponisten im Interesse der Autoren genaue Kontrolle übt, ist ein theatralischer Erfolg
kein nur ideeller Gewinn mehr.
Trotzdem ist die Zahl der bessern bühnenfähigen Dramen schon seit Jahrzehnten erschreckend gering. Die übliche Klage über
die
Gleichgültigkeit des Publikums erklärt nichts, da dasselbe Publikum noch heute seinen Schiller und Goethe, seinen
Lessing und Shakespeare dankbar hört, da es sich für Experimente wie die Aufführung des zweiten Teils des «Faust» lebhaft
interessiert und sich z. B. für Kleist und Grillparzer immer mehr erwärmt. Auch die vielen Preisausschreiben für Schau-
und Lustspiele, der Schillerpreis, der ernsten Dramen zu teil wird u. s. w., haben nicht viel geholfen.
So wird ein großer Teil des Repertoires unserer Bühnen aus fremden Litteraturen bestritten, von jeher vorzugsweise aus der
französischen: es werden Scribe und Dumas, Augier, Sardou, Pailleron u. a. aufgeführt, eine nicht immer den deutschen Sitten
und Anschauungen entsprechende und zuträgliche Kost;
dazu treten etwa die Norweger Ibsen, Björnson, der
SchwedeStrindberg, der Spanier Echegaray, der Russe Tolstoi u. s. w., von geringern ganz abgesehen.
Stücken, die auf den stehenden
Bühnen nicht unterkommen, bieten neuerdings in Berlin die FreienBühnen (s. d.) eine Zuflucht, zumal denen der modernsten Naturalisten.
Luthers 400jähriger Geburtstag hat verschiedene Festspiele gezeitigt (von Devrient, Herrig, Trümpelmann u. a.),
die unter Beteiligung zahlreicher Dilettanten an verschiedenen Orten aufgeführt worden sind; derartige
histor. oder religiöse Festspiele wurden auch an andern Orten, besonders in Jena
[* 29] und Worms
[* 30] durch Dilettanten zur Aufführung
gebracht. Reste aus vergangener Zeit sind die religiösen Spiele in Oberammergau, Brixlegg u. s. w., die Volksschauspiele der
Schweiz;
[* 31] auch die Schulkomödie ist mit Recht als Mittel geistiger Übung und Anregung vielfach beibehalten
worden. Über dasStatistische des gegenwärtigen s. Deutsches Theater Deutschland und Deutsches Reich (Theaterwesen, S. 158).
Vgl. Das Drama des Mittelalters, hg. von Froning, und Das Drama der klassischen Periode, hg. von Hauffen (beide in Kürschners
«Deutscher Nationallitteratur»);
Prutz, Vorlesungen über die Geschichte des Deutsches Theater (Berl.
1847);
Ed. Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst (5 Bde.,
Lpz. 1848-74);
Genée, Lehr- und Wanderjahre des deutschen Schauspiels (Berl. 1882);
Prölß, Geschichte des neueren Dramas,
Bd. 3 (Lpz. 1883).
1) Die Einigung der einzelnen Stämme zum deutschen Volk. Innerhalb der westgerman. Gruppe der german.
Völker (s. Germanen) bildet das seit nunmehr anderthalb Jahrtausenden eine besondere ethnische Einheit. Die westgerman.
Stämme zerfielen um 500 n. Chr. in zwei Hauptgruppen, in die Anglofriesen auf
der einen und in die Deutschen auf der andern Seite. Diese Einteilung erschließen wir aus sprachlichen Gründen.
Bewußt ist sie den Westgermanen nicht gewesen.
Erst nachdem um 600 die Übersiedelung der Angelsachsen nach Britannien abgeschlossen war, war durch die geogr. Zusammengehörigkeit
der festländischen Westgermanen ihr polit. näherer Zusammenschluß für die Folge gegeben. Allein die Friesen in dem Marschlande
der Nordseeküste, die den Deutschen ferner standen und dieselbe Mundart sprachen wie ihre angelsächs.
Brüder, haben sich durch ihre abgeschlossene Lage (Moore trennten das Land von Deutschland) von den festländischen Westgermanen
ferngehalten und sind zum Teil bis auf die Gegenwart den Deutschen nur bedingt zuzuzählen. Auch die Sachsen
[* 32] nahmen ursprünglich
eine gesonderte Stellung ein. Ein Teil¶
mehr
von ihnen hatte den Angelsachsen, als diese noch in Schleswig-Holstein
[* 34] saßen, zugehört, und noch heute stehen die Niedersachsen,
zumal die Küstenbewohner, den Engländern in gewisser Beziehung näher als den Hochdeutschen. Nach der Auswanderung der Angelsachsen
bildeten die festländischen Sachsen mit den ihnen unterworfenen fränk. und thüring. Grenzstämmen ein besonderes
Volk für sich, mit eigenen staatlichen Einrichtungen. Erst ihre polit. und religiöse Unterjochung durch
Karl d. Gr. führte sie seit 797 dem deutschen (damals fränk.)
Staatsverbande zu. Die andern deutschen Stämme, Franken und Hessen
[* 35] einerseits, Thüringer, Alemannen, Bayern
[* 36] und Langobarden
andererseits, hatten sich von Hause aus näher gestanden, aber doch auch besondere staatliche Verbände
für sich gebildet und fühlten sich als selbständige Völker.
Auf der fränk. Eroberungslust und der organisatorischen Fähigkeit Karls d. Gr. beruht die polit. Einigung Deutschlands.
[* 37] Die
Hessen hatten sich schon seit alters den Franken politisch angeschlossen. Die Alamannen wurden zum Teil 496, endgültig 536 unterworfen,
die Thüringer 531, die Bayern 788, die Langobarden 774 und 787. Die Friesen mußten sich zwar auch unterwerfen,
bewahrten aber eine unabhängigere Stellung als die deutschen Stämme. Auch die gar nicht zu den Westgermanen gehörenden Burgunden
an der Rhône, die 534 unterworfen wurden, würden voraussichtlich im Laufe der Zeit zu Deutschen geworden sein, wenn
sie nicht, wie die Langobarden in Italien,
[* 38] bald romanisiert worden wären.
Karl d. Gr. schmiedete das Frankenreich durch die Verfassung fest zusammen, indem er die fränk. Verwaltung über sein ganzes
Reich ausdehnte. Wenn auch die einzelnen deutschen Stämme ihre Eigenart bewahrten, so einte sie doch alle ein polit. Band,
[* 39] und erst jetzt, zumal nach der polit. Abtrennung des roman. Frankreich (843 und 870), konnte sich ein
deutsch-nationales Bewußtsein herausbilden (das Wort «deutsch» kommt zum erstenmal Ende
des 8. Jahrh. vor, der Volksname «Deutsche»
im 9. Jahrh., wird jedoch noch bis ins 13. Jahrh. selten gebraucht).
In diesem Sinne darf man sagen, daß ein erst seit Karl d. Gr. besteht, also seit ungefähr 1100 Jahren.
Nur mittels der Sprachgeschichte kann man für die vorhergehenden Jahrhunderte in den nachmals deutschen Stämmen der Germanen
schon Deutsche erkennen.
Die alten deutschen Stämme nebst ihren Unterstämmen bestehen innerhalb der Grenzen,
[* 40] die etwa seit dem Ende
des 6. Jahrh. ihre Gebiete abschlossen, bis auf den heutigen Tag fort (s. die Karte der Deutschen Mundarten).
[* 41] Noch heute ist
das schwäb., bayr., niedersächs. Stammesbewußtsein lebendig.
Wesentlich ist für die Überbrückung der Stammesgegensätze die kolonisatorische Fähigkeit der Franken gewesen. Die Alamannen
hatten bis 496 das ganze westl. Maingebiet und den mittlern Rhein nördlich
bis etwa zur Mosel besessen. In diesem Gebiet nördlich des Neckar siedelten sich seit 496 Franken an, die dem Lande den Namen
gaben. Es entstand so durch Mischung der sitzen gebliebenen Alamannen mit den fränk. Kolonisten der neue deutsche Stamm der
Rheinfranken.
Ebenso erwuchs aus den im obern Maingebiet neben den einheimischen Thüringern ansässigen Franken der
neue Stamm der Ostfranken. Fränk. Dörfer wurden im alamann. Elsaß gegründet. Karl d. Gr. legte im Sachsenlande fränk. Kolonien
an und siedelte große Scharen von Sachsen innerhalb des fränk. Gebietes
an. Sachsen hatten sich schon 531 in den thüring.
Landesteilen zwischen Elbe und Unstrut niedergelassen. Nachmals, im 13. Jahrh., mischten sich östlich
der Saale bis zur Oder Ostfranken und Thüringer, in der Mark Brandenburg, in Hinterpommern, in West- und Ostpreußen
[* 42] Niederfranken
und Niedersachsen. Franken haben am Rhein und am Main, an der Elbe und östlich der Saale und Elbe die Deutschen
zusammengekittet.
Die Stammesunterschiede bestanden indes seit Karl d. Gr. nicht nur fort, sondern verschärften sich in den folgenden Jahrhunderten.
Jeder Stamm bildete noch bis ins 13. Jahrh. ein besonderes Herzogtum, und die Kreiseinteilung
Maximilians (1495) trug wenigstens zum Teil noch den Stammesgrenzen Rechnung. Aber die Stämme fühlten sich jetzt nicht nur
als Franken, Bayern u. s. w., sondern auch als Deutsche. Das Bewußtsein der nationalen Einheit ist wohl später durch die polit.
Ereignisse gehemmt und gestört worden, aber nicht wieder verloren gegangen, wenn es auch erst durch die Gründung des neuen
DeutschenReichs seine wirkliche Vollendung erfahren hat. Die religiöse Einigung des wurde ebenfalls
durch Karl d. Gr. vollzogen, der die Sachsen zwangsweise zum Christentum bekehrte. Aufgehoben wurde sie erst wieder durch die
Folgen der Reformation. In anderer Hinsicht hat die geistige Einheit des in Frage gestanden, als es galt, eine einheitliche,
über den Mundarten stehende deutsche Gemeinsprache zu erringen. (S. Deutsche Sprache, I, 2.) Damals haben
sich die Niederfranken Belgiens und der Niederlande
[* 43] und die Niedersachsen östlich von dem Zuidersee von dem dadurch getrennt,
daß sie, gestützt auf eine eigene bedeutende litterar. Vergangenheit, nicht die deutsche Schriftsprache angenommen haben:
sie fühlten sich fortan nur als Niederländer, nicht mehr als Deutsche. Für die andern deutschen Stämme
aber bedeutet die zum Teil unter schweren geistigen Kämpfen errungene Spracheinigung in hervorragendem Sinne eine nationale
Einigung.
Das alte Deutsche Reich hatte seit dem 9. Jahrh. im Westen die Romanen an der obern Maas und Mosel mit umfaßt, Slawen im Südosten,
in Böhmen
[* 44] und Mähren und nachmals östlich von der Saale und Elbe und an der Oder; dazu zeitweise die
savoyischen und nordital. Romanen. Die polit. Lostrennung der roman. Landesteile kann nur als ein nationaler Gewinn
angesehen werden. Aber eine Einbuße erlitt das durch den Verlust der Niederlande (1581) und der deutschen
Schweiz (1495), den der Westfälische Friede 1648 bestätigt hat, durch den Verlust des in seiner nördl. Hälfte deutschen
Belgiens 1797 (bestätigt 1815) und das Ausscheiden (1866) des in seinen Hauptteilen deutsch redenden Österreichs aus dem
polit. Verbande des Elsaß und Deutsch-Lothringen wurden 1871 wieder gewonnen.
Vgl. Wachsmuth, Geschichte deutscher Nationalität (2 Bde., Braunschw.
1860);
J. ^[Julius] Tietz, Die geschichtliche Entwicklung des Deutschen Nationalbewußtseins (Hannov. 1880);
K. Lamprecht, Geschichte
des deutschen Nationalbewußtseins (in seiner «Deutschen Geschichte», Bd. 1, Berl.
1891);
Schultheiß, Geschichte des deutschen Nationalgefühls (Bd. 1,
Münch. und Lpz. 1893).
2) Merkmale des deutschen Volks und der deutschen Stämme. Durchgehende körperliche Merkmale des giebt
es nicht, sondern nur solche der Germanen (s. d.) überhaupt. Der
¶
mehr
Norddeutsche ist im allgemeinen größer und kräftiger gebaut als der Mittel- und Süddeutsche. Der blonde Typus überwiegt
in Norddeutschland, der Kurzschädel (brachykephaler Typus) in Süddeutschland. Diese und andere Unterschiede beruhen in erster
Reihe auf der Mischung der eingewanderten Deutschen mit der eingesessenen vordeutschen Bevölkerung.
[* 46]
Eine Charakteristik der deutschen Stämme giebt E. M. Arndt, «Versuch in vergleichenden Völkergeschichten»
(Lpz. 1843). Reichhaltig ist auch Wachsmuths «Geschichte
deutscher Nationalität» (2 Bde., Braunschw.
1860) undL.Diefenbachs «Vorschule der Völkerkunde und der Bildungsgeschichte» (Frankf. 1864).
3) Mischung der Deutschen mit andern Völkern. Das Deutsche Reich ist ein Nationalstaat, wenn auch unter seinen Staatsangehörigen
über 7 Proz. Nichtdeutsche sind, nämlich Polen, Sorben (Wenden), Czechen, Litauer, Franzosen, Dänen. Auch
Friesen und Nordfriesen sprechen nicht die deutsche Sprache als Muttersprache. Die Friesen und Nordfriesen, die Sorben und
die Litauer sind meist zweisprachig und fühlen sich bereits oder sind im Begriff sich als Deutsche zu fühlen.
Auch unter den Polen und Czechen ist ein großer Teil der deutschen Sprache
[* 47] mächtig. Im Deutschtum ist bereits
ein großer Teil der über 600000 Juden aufgegangen. Die Juden sind am stärksten in Posen,
[* 48] in Hessen, Baden
[* 49] und im Elsaß verbreitet.
Die Nordfriesen bewohnen das Marschland der schlesw. Westküste, die Halligen und die InselnSylt, Föhr,
Amrum und Helgoland.
[* 50] Die Nordfriesen von Eiderstedt, Nordstrand und Pelworm haben seit dem 17. Jahrh.
die deutsche Sprache angenommen.
Das gleiche gilt von den Ostfriesen; nur noch 2500 Saterländer bewahren ihre alte Sprache; auf Wangeroog ist dieselbe im Aussterben
begriffen. Erst im 19. Jahrh. lernten die Friesen sich als Deutsche fühlen.
Noch 1828 konnte ein Emdener Dichter in plattdeutscher Sprache singen: «De dütsche Taal is wall wat finer, Dach
[* 51] Düütschers
sünd wi naet». Das dän. Sprachgebiet reichte früher südwärts bis Schleswig.
[* 52] Im 19. Jahrh. ist die Landschaft Angeln (zwischen
Schleswig und Flensburg)
[* 53] deutsch geworden und die Sprachgrenze beginnt jetzt westlich und nördlich
von Flensburg.
Das Deutschtum macht in Nordschleswig neuerdings rasche Fortschritte. Französisch wird in 265 Gemeinden an der Südwestgrenze
Deutsch-Lothringens gesprochen, nordwestlich von Metz
[* 54] bis gegen Saarburg hin, desgleichen in über 150 Gemeinden in den
Vogesen nördlich und südlich von Markirch.
[* 55] Wallonische Mundart sprechen an der Westgrenze der Rheinprovinz
[* 56] Einwohner von Malmedy und Umgegend. Von den Sorben der Lausitz, deren Sprachgebiet im 16. Jahrh. noch westlich bis Ortrand, Luckau
und Buchholz, nördlich bis Storkow, Beeskow und Fürstenberg, östlich bis Guben,
[* 57] Triebel und Priebus reichte, ist ein großer
Teil deutsch geworben.
Gute Preußen
[* 58] sind auch die wenigen Litauer an der Memel,
[* 59] die wie ihre südl.
Stammesgenossen (in den KreisenStallupönen, Goldapp, Gumbinnen,
[* 60] Darkehmen und Insterburg)
[* 61] es gethan haben, die deutsche Sprache
immer mehr annehmen. Dagegen beherbergt das Deutsche Reich in den Polen noch immer ein Element, das sich seines Volkstums kräftig
bewußt ist. Das poln. Nationalbewußtsein ist eher in der Zunahme als in der
Abnahme begriffen. Zwar die prot. Masuren am Südrande Ostpreußens sind im Begriff Deutsche zu werden, und auch die
kath. Kassuben
Westpreußens können sich diesem Prozeß schließlich nicht entziehen. Aber in der ProvinzPosen ist das Polentum noch sehr
kräftig. Seine Kraft
[* 62] wird verstärkt durch den religiösen Gegensatz: die Polen sind katholisch und in
Posen und Westpreußen deckt sich nahezu katholisch mit polnischer, protestantisch mit deutscher Sprache und Gesinnung. Hier
die Polen zu germanisieren ist zur Zeit keine Aussicht vorhanden.
Seit der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. beginnenden deutschen Kolonisation östlich der Elbe und
Saale haben die dort einheimischen Slawen (Wenden) allmählich die deutsche Kultur und Sprache, Sitte und Anschauung, Denkweise
und Empfindung angenommen, das dortige Deutschtum ist also nicht frei von slaw. Beimischung.
Weniger bekannt aber dürfte es sein, daß auch die Deutschen der Stammlande keine reine german. Rasse sind; verhältnismäßig
am unvermischtesten sind die Deutschen in der Provinz Hannover.
Ganz Süd- und Westdeutschland bewohnten in vorchristl. Zeit kelt. Stämme und ihre romanisierten Reste lassen sich noch das
ganze erste Jahrtausend n. Chr. in den Rheinlanden und nördlich der Alpen
[* 63] verfolgen. Diese Kelten und Keltoromanen sind zwar
den Deutschen gegenüber in der Minderzahl gewesen (sonst wären sie nicht germanisiert worden), haben
aber doch den deutschen Typus stärker beeinflußt als im Osten die den Deutschen anthropologisch näher stehenden Slawen.
Die alamann. und frank. Gräber aus der Zeit der Völkerwanderung zeigen alle den langköpfigen (dolichokephalen) Schädel
der german. Rasse. Später aber hat die Mischung mit den kurzschädeligen
(brachykephalen) Kelten bewirkt, daß in Süddeutschland, zumal im südl. Bayern und Tirol,
[* 64] die Bevölkerung zum weitaus größten
Teile kurzköpfig ist. Die Kurzköpfe überwiegen jetzt in ganz Deutschland. Selbst in Norddeutschland ist ein mittelköpfiger,
freilich zur Langköpfigkeit neigender Typus der vorherrschende. In Tirol kommen auf 90 Kurzköpfe 10 Mittelköpfe
und kein Langkopf, in Mitteldeutschland auf 66 Kurzköpfe und 22 Mittelköpfe nur 12 Langköpfe.
Vergleicht man die anthropologisch reinern Dänen, so weisen diese neben 57 Langköpfen und 37 Mittelköpfen nur 6 Kurzköpfe
unter 100 Schädeln auf. Nicht ganz in demselben Maße zeigt sich der anthropol. Schlag der germanisierten südländischen
Rasse bei der Haarfarbe. Der Urgermane war blond. Heute zählt man in Norddeutschland 33-43 Proz.
Blonde und 7-12 Proz. Brünette, in Mitteldeutschland 25-32 Proz. Blonde und 13-18 Proz. Brünette, in Süddeutschland 18½-24½
Proz. Blonde und 19-25 Proz. Brünette, in der Schweiz gar nur 11 Proz. Blonde und 25¾ Proz. Brünette. Zu
blondem Haar
[* 65] gehören blaue Augen, zu braunem Haar dunkle Augen. Ob alle diese Veränderungen auf Mischung zweier Rassen zurückzuführen
sind, ist fraglich, um so mehr, als die Urgermanen selbst aller Wahrscheinlichkeit nach keine völlig reine Rasse gewesen
sind. Aber unter Umständen vermag der Ethnologe neben den Mischtypen noch jetzt den kelt.
Typus herauszuerkennen. Es ist schwerlich ein Zufall, daß gerade in den Gegenden, in denen man eine stärkere kelt.
(oder roman.) Urbevölkerung nachweisen kann, der dunkle und kurzköpfige Typus entschieden vorherrscht. Wie man in Mecklenburg
[* 66] noch den blonden Deutschen von dem dunkeln, deutsch gewordenen Slawen scheiden kann, so findet man auch
z. B.
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mehr
in Hessen oder in Schwaben strichweise in ganzen Dörfern fast nur dunkle Haare
[* 68] und dicht daneben wieder Gegenden mit lauter
Flachsköpfen. Es ist keine Frage, daß die Kelten und Keltoromanen im Westen und Süden, die Slawen im Osten nicht nur äußerlich
den deutschen Typus, sondern auch die Individualität der einzelnen deutschen Stämme beeinflußt haben.
(Vgl. A. Kirchhoff, Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung, Stuttg. 1890.)
Die Mischung der Deutschen mit andern Völkern hat außerhalb des jetzigen deutschen Sprachgebietes größtenteils eine Entdeutschung
auch der Sprache, des Geisteslebens, der Kultur zur Folge gehabt. Schon im 1. Jahrh. n. Chr. sind zahlreiche german.
Stämme am Rhein romanisiert worden. Als die Germanen die Erben der röm. Weltherrschaft wurden, beugten
sie sich vor der weit überlegenen Macht der Bildung der Alten Welt und wurden, wo sie nicht in geschlossener Masse beisammen
saßen, romanisiert. So sind die im nördl. Frankreich sporadisch angesiedelten FrankenFranzosen geworden, die Langobarden
Italiener. KleinereVerluste haben in neuester Zeit die deutschen Sprachinseln östlich vom geschlossenen Sprachgebiete zu verzeichnen.
Die größte, nach vielen Millionen zählende Einbuße hat das Deutschtum in Amerika
[* 69] erlitten. Schon die Kinder der meisten
deutschen Einwanderer haben die engl. Sprache angenommen.
4) Ausbreitung des deutschen Volks. Nachdem
Rom 300. Jahre lang die nach Westen und Süden drängenden german.
Stämme auf die Rhein-, Neckar- und Donaugrenze beschränkt hatte (die Germanen jenseit dieser Grenze wurden romanisiert),
gelang es im 3. Jahrh. n. Chr. den Franken den Niederrhein, den Alamannen den Oberrhein dauernd zu gewinnen und im 4. Jahrh.
zu überschreiten, im 6. Jahrh. den Bayern die Donauländer bis zu den Alpen einzunehmen und den Langobarden
Italien zu erobern, das sie freilich schon wegen ihrer zu geringen Volkszahl nicht zu germanisieren vermochten.
Seitdem haben hier nur geringere Verschiebungen stattgefunden; die wichtigste ist das allmähliche Vordringen der Alamannen
und Bayern in die Alpenthäler seit dem 6. Jahrh. und besonders in der
Hohenstaufenzeit. Nach Osten zu hatten deutsche Stämme etwa bis zur Wasserscheide der Elbe und Oder und in Böhmen und Mähren
gesessen. Der Zug
dieser Elbgermanen nach Süddeutschland sowie die Auswanderung der an der Oder und Weichsel einheimischen Ostgermanen
entvölkerte die Gegenden östlich von der Elbe und Saale und vom Böhmerwalde, und seit dem 5. und 6. Jahrh.
nahmen dies Land slaw. Stämme in Besitz. Ostgrenze der Deutschen wurde nunmehr eine Linie, die man ungefähr von Kiel
[* 70] über
Halle
[* 71] und Bamberg
[* 72] nach dem Böhmerwald und der Enns ziehen kann.
An der Wiedergewinnung dieses vormals german. Gebietes haben sich alle
deutschen Stämme beteiligt, schon unter Karl d. Gr. wurde Österreich unter der Enns
[* 73] den Avaren abgenommen und mit bayr. Kolonisten
besetzt, die sich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. auch nördlich von der Donau ausbreiteten
und um die Mitte des 11. Jahrh. Steiermark
[* 74] und Kärnten, im 12. Jahrh. die heutige Sprachgrenze in
den Ostalpen erreichten. Karls Slawenkriege setzten nicht nur dem Vordringen der Slawen ein Ziel, sondern bahnten auch ein
Abhängigkeitsverhältnis der Elbslawen zum DeutschenReiche an. Das damals rein czech.
Böhmen und Mähren hat während eines Jahrtausends zum
Reich gehört, seit dem 10. Jahrh. das damals ebenfalls
rein slaw. Elbgebiet und die Lausitz, seit dem 13. Jahrh. auch Pommern
[* 75] und das untere Weichselgebiet, Schlesien
[* 76] seit dem 14. Jahrh.
Das Gebiet des DeutschenOrdens (Preußen, Kurland,
[* 77] Semgallen, Livland und Esthland) rechnete man noch im 16. Jahrh. zum deutschen
Reichslande; nur Preußen mußte in dem zweiten Thorner Frieden 1466 die deutsche Reichsangehörigkeit mit
der polnischen vertauschen.
Die deutsche Kolonisation des eroberten Wendenlandes begann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh.,
nachdem die fast 400jährigen Kämpfe die zähe Kraft der slaw. (sog.
polabischen) Stämme gebrochen hatte. Vorher schon, mit der zweiten Hälfte des 11. Jahrh., hatte die
Germanisierung der Czechen am obern Main und an der Rednitz im Vogtland begonnen. Auch die deutschen Ansiedelungen
zwischen Saale und Elbe reichen bis ins 10. Jahrh. zurück, wenn sie auch erst in der ersten Hälfte des 12. Jahrh.
eine größere Ausdehnung
[* 78] erlangten.
Die Germanisierung dieses Landes ging von den Städten aus. Eine massenhafte Einwanderung deutscher Bauern
fand hier nicht statt, wohl aber in den nördlichern und östlichern Landschaften. Noch im 12. Jahrh.
machten niedersächs. Bauern das östl. Holstein und westl. Mecklenburg zu einem deutschen Lande. Die Mark Brandenburg wurde
im 13. Jahrh. von Niedersachsen und besonders von Niederfranken kolonisiert. Thüringer und Ostfranken
besiedelten seit dem 12. Jahrh. den Nord- und Südabhang des Erzgebirges und der Sudeten.
Die Zahl der deutschen Dörfer, die in Schlesien im 12. und 13. Jahrh. gegründet wurden, hat man auf 1500, die Zahl der Einwanderer
auf 150-180000 Seelen berechnet. Besonders seit dem Mongoleneinfall 1241 wurden deutsche Anbauer in Schlesien,
Böhmen, Mähren und Ungarn
[* 79] begehrt. Die Přemyslidenfürsten (besonders Ottokar II., 1253-1278) begünstigten im 13. Jahrh.
die Einwanderung deutscher Bürger und Bauern in Böhmen. Diese Deutschböhmen baben viele Czechen germanisiert.
Damals ist auch die GrafschaftGlatz
[* 80] deutsch geworden. Die nationale religiöse Bewegung der Hussiten that der Germanisierung
Böhmens nicht nur Einhalt, sie verdrängte die Deutschen. Viele großenteils deutsche Ortschaften wurden
wieder czechisch. Diese Reaktion dauerte bis zum Dreißigjährigen Kriege. Nachdem derselbe mehr als die Hälfte der Bevölkerung
vernichtet hatte, begann aufs neue die deutsche Einwanderung in das verwüstete Land.
Weit über die Grenzen des heutigen Deutschland hinaus ergoß sich diese deutsche Völkerwanderung. Ostmitteldeutsche
Bergleute haben in der zweiten Hälfte des 12. und im 13. Jahrh. den Bergbau
[* 81] Nordungarns erschlossen; ihre Ansiedelungen sind
jetzt zum größeren Teile slowakisch geworden. Weiter südöstlich, in Siebenbürgen ließen sich Franken aus dem Mosellande
nieder. Diese, Sachsen genannt, sind gleichfalls im 12. und 13. Jahrh. eingewandert
(1141-1211). Fast schien es damals, als sollte von den Sudeten bis zu den Karpaten alles ohne Unterbrechung deutsches Land
werden. Die deutschen Kolonien innerhalb des magyar. Gebietes stammen teils aus dem Ende des 17., teils aus dem
Anfang des 18. Jahrh. Jene sind am Bakonywald bis zur Donau hin gelegen, diese bei Arad und an der Kraszna.
1230 beginnt die blutige Eroberung Ostpreußens durch den DeutschenOrden.
[* 82] Das Land wurde durch
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