Arbeiter; b. für die
Unfallversicherung die über das ganze
Reich sich erstreckenden
Berufsgenossenschaften (s. d.); c. für
die Invaliditäts- und
Altersversicherung die Versicherungsanstalten, territorial gegliederte Verwaltungskörper. Neben diesen
erscheinen als weitere
Träger
[* 2] der Arbeiterversicherung, insbesondere der
Unfallversicherung, auch das
Reich, die
Bundesstaaten und die größern
Gemeindeverbände
(Provinzen,
Kreise)
[* 3] für die von ihnen betriebenen wirtschaftlichen Unternehmungen und
Verwaltungszweige. Auch sind einige große Eisenbahn-Pensionskassen und ähnliche Kasseneinrichtungen neben der Invaliditäts-
und
Altersversicherung zugelassen.
Der
Kreis
[* 4] der Versicherungspflichtigen
Personen ist für die einzelnen Zweige der Arbeiterversicherung verschieden gezogen. Die
Kranken- undUnfallversicherung
wurde zunächst
nur für die
Masse der industriellen
Arbeiter eingeführt, später nach und nach auf Transportbetriebe,
Land- und Forstwirtschaft,
Banken und
Reederei ausgedehnt; gewisse Arbeitergruppen, insbesondere die
land- und forstwirtschaftlichen,
können durch ortsstatutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weitern Gemeindeverbandes dem Krankenversicherungszwang
unterworfen werden.
Die Invaliditäts- und
Altersversicherung hingegen hat die gesamte männliche und weibliche Arbeiterbevölkerung einschließlich
der Dienstboten ergriffen. Den Gegenstand der Arbeiterversicherung bilden: arbeiterversicherung bei
der
Kranken- und Begräbnisversicherung die Gewährung freier ärztlicher Behandlung und Arznei, unter Umständen
Verpflegung
in einem
Krankenhause, ferner von Krankengeld an die durch Erkrankung erwerbsunfähigen Mitglieder und an Wöchnerinnen, und
von Sterbegeld an die Hinterbliebenen derselben; die Leistungen können auch auf
Angehörige der Kassenmitglieder erstreckt
werden.
Die Unterstützungsdauer beträgt mindestens 13 Wochen; b. bei der
Unfallversicherung die Fürsorge für die durch Betriebsunfälle
Verletzten und deren Hinterbliebene, und zwar Ersatz der Kosten des Heilverfahrens von der 14. Woche an (bis dahin fallen
dieselben der
Krankenversicherung zur Last) und Gewährung einer
Rente an den Verunglückten nach Maßgabe
der durch den
Unfall verursachten Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit, im Sterbefall Ersatz der Beerdigungskosten und Gewährung
einer in Prozenten des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten abgestuften
Rente an die
Witwe, die Waisen und unter Umständen
die
Angehörigen desselben; c. bei der Invaliditäts- und
Altersversicherung Gewährung einer Invalidenrente bei dauernder
Erwerbsunfähigkeit und einerAltersrente nach zurückgelegtem 70. Lebensjahre, über die Höhe der zu
leistenden Beiträge und der zu gewährenden
Renten s.
Arbeitgeber, Invalidenrente,
Altersrente.
Die Auszahlung der
Renten erfolgt durch Vermittelung der Post. An der Durchführung und
Beaufsichtigung
der Versicherungseinrichtungen sind
zahlreiche Verwaltungsbehörden beteiligt, insbesondere das Reichsversicherungsamt und
die für einzelne
Staaten
(Bayern,
[* 5]
Baden,
[* 6] Hessen
[* 7] u. s. w.) errichteten Landesversicherungsämter. Mit ersterm ist ein besonderes,
namentlich der Invaliditäts- und
Altersversicherung und statist. Zwecken gewidmetes Rechnungsbureau verbunden.
Dies ist in großen Zügen das
Bild des heutigen
Standes der Arbeiterversicherung im
DeutschenReich. Mit der Invaliditäts-
und
Altersversicherung hat sie ihren vorläufigen
Abschluß gefunden. Die
Witwen- und Waisenversicherung, für welche vielfach
die Priorität wegen größerer Dringlichkeit des Bedürfnisses beansprucht wurde, ist allerdings nur zum
Teil in den Unfallversicherungsgesetzen
verwirklicht und steht im übrigen noch aus. Auch der
Ausbau der
Unfallversicherung ist noch nicht vollendet.
Immerhin bildet die «socialpolitische» Gesetzgebung schon jetzt ein großartiges,
einheitliches Werk von gewaltigem
Umfange und einschneidenden Wirkungen, von denen viele Millionen
Arbeiter und
Arbeitgeber
betroffen werden.
Ihre Beurteilung ist natürlich je nach dem wirtschaftlichen und polit. Standpunkt, den man
einnimmt, sehr verschieden.
Teils begegnet sie principiellem
Widerspruch, namentlich wird der Versicherungszwang als unzulässig,
unnötig und unwirksam bekämpft; teils werden die Ziele gebilligt, aber die zu ihrer Erreichung eingeschlagenen Wege getadelt.
Während ihr auf der einen Seite zum Vorwurf gemacht wird, daß sie durch teilweise Realisierung des socialistischen Programms
der
Socialdemokratie Vorschub leiste, bemängelt diese umgekehrt das den
Arbeitern Gebotene als unzureichend.
Für die Arbeiterversicherung läßt sich namentlich Folgendes anführen: Sie befriedigt, wo nicht das dringlichste
so doch eines der wichtigsten Bedürfnisse des
Arbeiters, die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Sie entlastet nicht
nur die öffentliche und private Armenpflege, sondern setzt an die
Stelle des mit einem Makel behafteten
Almosens einen durch eigene Vorsorge erworbenen Rechtsanspruch.
Allerdings ist diese Vorsorge eine erzwungene, aber sie hört darum nicht auf, Selbsthilfe zu sein, und entbehrt nicht der
ethischen Bedeutung und erziehlichen Kraft.
[* 8] Und nur durch den Zwang ist es erfahrungsmäßig zu erreichen, daß
diese Vorsorge allgemein, gleichmäßig, rationell stattfindet. Bliebe
sie der freiwilligen
Initiative überlassen, so würde
sie nie von der gesamten Arbeiterbevölkerung geübt werden. Diejenigen, welche sie übten, wären den Übrigen gegenüber
im Nachteil, insbesondere die
Unternehmer, welche Zuschüsse gäben, würden unter ungünstigern
Bedingungen produzieren als
ihre Konkurrenten.
Die Last der Invaliditäts- und
Altersversicherung wird überhaupt nur erschwinglich, wenn die gesamten
Arbeitermassen zusammengefaßt werden. Nur der allgemeine Versicherungszwang ermöglicht die stetige Kontinuität der und
die volle Freizügigkeit unter den versicherten
Arbeitern. Mit dem Grundsatz des Zwanges rechtfertigt sich auch seine Konsequenz,
die Herstellung von Anstalten, welche die Durchführung der in der vom Gesetz beabsichtigten
Weise garantieren,
übrigens verbleibt der freien Vereinsthätigkeit auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung immer noch ein weites Feld
der Bethätigung. Die Zwangsversicherung beschränkt sich selbstredend nur auf das Allernotwendigste, die
Renten erreichen
z. B. nie den vollen Lohn der Versicherten. Es können also freie
¶
1. 2. Handwerkerkaserne der «Victoria-Dwellings-Association, Limited» beim
Battersea-Park in London.
[* 10]
Organisationen sowie Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber ergänzend eintreten, und alle Lücken ausfüllen, welche die
Zwangsversicherung gelassen hat.
Die Lasten, welche die der deutschen Industrie und Landwirtschaft auferlegt, sind schwer und werden in der Folgezeit immer
höher anwachsen. Wie sie sich im einzelnen verteilen, bleibt abzuwarten. Das Gesetz bestimmt nur, wen
sie in erster Linie treffen; ob und inwieweit eine Überwälzung vom Arbeiter auf den Arbeitgeber oder umgekehrt, durch Hinderungen
der Lohnhöhe, oder vom Produzenten auf den Konsumenten, durch Änderungen der Warenpreise, vor sich gehen kann, wird sich
nach den wechselnden wirtschaftlichen Machtverhältnissen regeln.
die von der Privatspekulation, von Fabrikanten, wohlthätigen Vereinen oder öffentlichen Behörden
errichteten Wohnstätten für Arbeiter. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es für die Hebung der untern Klassen außerordentlich
wichtig ist, ihnen gesunde und billige Wohnungen zu verschaffen. Schlechte, feuchte Wohnungen mit mangelhafter
Heizung,
[* 26] Lüftung und Beleuchtung
[* 27] schädigen die Gesundheit. Übervölkerte Wohnungen werden niemals ein behagliches Heim sein,
wo nach harter Arbeit ein glückliches Familienleben gedeihen kann.
Die heutigen Wohnungszustände, namentlich in den Großstädten und heranwachsenden Fabrikstädten, aber auch in Mittel- und
Kleinstädten zeigen uns dagegen mehr überfüllte und mehr ungesunde Wohnungen. Die Ursachen der Wohnungsnot
aber liegen in dem Mißverhältnis zwischen Einkommen und Miete. Die Arbeiter verdienen nicht genug, um eine angemessene Wohnung
bezahlen zu können, die Mieten aber steigen, weil die Bodenpreise alljährlich in die Höhe gehen. Da eine andere Einkommensverteilung
anzubahnen nicht leicht möglich ist, muß denjenigen Faktoren entgegengewirkt werden, die eine Verteurung
der Mieten bedingen.
Arbeitgeber, gemeinnützige Gesellschaften und die Gesetzgebung müssen Hand
[* 28] in Hand gehen, um die schlimmsten Wohnungsmißstände
zu beseitigen. Einzelne große Arbeitgeber haben Anerkennenswertes geleistet. So hat die königl. Bergwerksdirektion in
Saarbrücken
[* 29] seit 1842 an Bergleute zur Erbauung von Wohnhäusern Darlehen (bis 1891 im ganzen 4 268 735 M.
seitens des Staates, 2 062 117 M. seitens der Knappschaftskasse), die, anfangs mit 4 Proz. verzinslich,
später unverzinslich, in 10 Jahren in Monatsraten zurückzuzahlen sind, und außerdem Bauprämien (bis 1891: 3 875 595 M.)
gewährt.
Krupp in Essen hatte bis 1891 3720 Arbeiterfamilienwohnungen hergerichtet, in denen 24 193 Personen wohnten.
Die Mietpreise schwankten zwischen 60-200 M. Ferner stellte Krupp 1889 500000 M. zu Darlehen an Bedienstete und Arbeiter seiner
Werke, die sich ein eigenes Wohnhaus erwerben wollen, zur Verfügung gegen 3 Proz. Zinsen und gegen Rückzahlung in Raten, welche
die üblichen Mietpreise nicht wesentlich überschreiten. Mit diesem Kapital waren bis Ende 1891 über 3700 Arbeiterwohnungen gebaut,
die von etwa 26000 Personen bewohnt sind. Auch andere große Unternehmungen haben für die Herrichtung gesunder Arbeiterwohnungen gesorgt,
so die königl. Munitionsfabrik Spandau
[* 30] (s. Mädchenheim), die Höchster Farbwerke, D.Peters & Co. in Neviges bei
Elberfeld.
[* 31] Der preuß. Regierung wurden Mai 1895 vom Landtag 4 Mill. M. bewilligt zur Verbesserung
der Wohnungsverhältnisse von Arbeitern in Staatsbetrieben und gering besoldeten Beamten.
Weniger empfehlenswert sind Baugesellschaften auf spekulativer Grundlage, deren Wirksamkeit übrigens nicht nur dem Arbeiter,
sondern auch kleinen Beamten, Handwerkern u. s. w. zu gute kommt. Unter ihnen sind zu
nennen: die Gladbacher Aktien-Baugesellschaft (1869-90 387 Häuser erbaut), BarmerBaugesellschaft für Arbeiterwohnungen (1872-90 242 Häuser
erbaut), der Dresdener Bauverein für Arbeiterwohnungen (bis 1891 16 villenartige Häuser [8 Doppelhäuser] erbaut und Bauland für etwa 60 Häuser
gekauft).
Zweckentsprechender sind zur Beschaffung von Arbeiterwohnungen die gemeinnützigen Gesellschaften mit Wohlthätigkeitscharakter,
wie sie nach dem Vorgange Englands seit den sechziger Jahren häufiger in Deutschland
[* 32] begründet wurden.
Die älteste derartige ist die 1848 in Berlin
[* 33] gegründete. Frankfurt
[* 34] a. M., Stuttgart,
[* 35] Hamburg,
[* 36] Pforzheim
[* 37] folgten diesem Beispiel.
Auch gehören hierher Stiftungen, wie sie der Amerikaner Peabody in London, Professor vom Rath 1889 in Wilhelmsruhe bei Köln
[* 38] gemacht haben, die Reesche Stiftung zu Hamburg, die Mayersche in Dresden,
[* 39] der vom Pastor von Bodelschwingh zu Bielefeld begründete
Verein. Desgleichen ist der von Arbeitern (nach dem Vorbild der Building Societies in England) begründeten Arbeiterbaugenossenschaften
zu gedenken, wie sie in Berlin, Hannover,
[* 40] Flensburg,
[* 41] Naumburg,
[* 42] München,
[* 43] Halle
[* 44] mit ungleichem und im ganzen
nicht bedeutendem Erfolge bestehen.
Am meisten Abhilfe läßt sich von der Gesetzgebung erwarten, weniger in der Richtung eines Erlasses von Wohnungsgesetzen,
obwohl diese nicht ganz ohne Wert sein können. Als neuere Beispiele können die Verordnungen von Arnsberg
[* 45] und Düsseldorf
[* 46] von
1879, von Chemnitz
[* 47] aus dem J. 1885 genannt werden. Sofern sie darauf herauskommen, ein gewisses Mindestmaß
von Luftraum für jede Wohnung festzusetzen, wird ihre Durchführung mit Zwangsmitteln fraglich. Besser sind allgemeine Normalvorschriften
für den Mietvertrag, Verbote, ungesunde Wohnungen zu vermieten, sanitäre Kontrollen¶
mehr
u. dgl. m. In dieser Richtung ist das Großherzogtum Hessen mit einem beachtenswerten Gesetze vom vorangegangen.
Wirksamer aber als diese Anordnungen werden diejenigen sein, die eine weiträumige, freie Bebauung sichern und eine übertriebene
Ausnutzung des Grund und Bodens zu hindern suchen. Es muß Verallgemeinerung der Zwangsbauordnung angestrebt
werden, wie sie schon jetzt in mehrern deutschen Städten, z. B. Frankfurt a. M., besteht.
Unter den Arbeiterwohnungen unterscheidet man: arbeiterwohnungen Großstädtische Mietshäuser. Während in
Kasernen sich die Wohnungen an lange gemeinschaftliche Flure, also in wagerechtem Sinne aneinanderreihen, gruppieren sie sich
im großstädtischen Mietshause um möglichst zahlreiche Treppenhäuser, also im lotrechten Sinne übereinander.
Kasernenartiger Bau eignet sich daher nur zu Herbergen, wie eine solche das Arbeiterkost- und Logierhaus des «BochumerVereins
für Bergbau und Gußstahlfabrikation» (s. Tafel: Arbeiterwohnungen I,
[* 48]
Fig. 9) zur Hälfte darstellt.
Das Mietshaus dagegen eignet sich wegen der schärfern Absonderung der Zugänge zu Familienwohnungen.
[* 48]
Fig. 1 u. 2 zeigen Aufriß
und Grundriß eines berühmten Londoner Arbeiterhauses, das zwar als Kaserne bezeichnet ist, dem Mietshause aber näher steht.
b. Kleinere Mietshäuser. Diese empfehlen sich als Reihenhäuser in Industriestädten, wo der Baugrund schon zu teuer geworden
ist, um noch eine offene Bebauungsweise zulassen zu können; bei diesen werden in jedes Stockwerk eine
oder mehrere Wohnungen gelegt, die aus Stube, Küche und Abort oder noch aus einem weitern, event. zur Abgabe an Aftermieter
bestimmten Schlafraum bestehen. (S. die Beispiele aus Essen, Taf. I,
[* 48]
Fig. 5-8, und aus «Adlershof»
bei Berlin, Taf. I,
[* 48]
Fig. 3 u. 4.) c. Familienwohnhäuser.
Diese stellen das Ideal des Arbeiterhauses dar und sind zur Erwerbung durch den Arbeiter bestimmt; sie
werden auf städtischem Bebauungsgebiete ebenfalls in geschlossenen Reihen, in ländlichen Gegenden als Einzelhaus errichtet.
Zwei derartige Häuser mit den Giebelwänden aneinander gesetzt bilden ein Doppelhaus, welches mehr Schutz gegen Wind und
Wetter
[* 49] gewährt. Das eine Zeit lang sehr beliebt gewesene sog. Vierfamilienhaus,
über einem rechteckigen, gevierteilten Grundrisse errichtet, hat sich nicht bewährt, da es Licht
[* 50] und Schatten
[* 51] zu ungleich
verteilt.
Das Familienhaus ist entweder derart angeordnet, daß die Wohnstube im Erdgeschoß, die Schlafstuben im Obergeschoß sind
(so in Plaue, s. Taf. II,
[* 48]
Fig. 1-3; in
[* 48]
Fig. 3 bezeichnen
dd Flure mit Sommerfeuerung, in
[* 48]
Fig. 2 gg Abort mit Oberlicht), wobei dann zwei Bauten unter einem Dach
[* 52] vereint werden; oder beide Wohnungen verschränken sich im Erdgeschoß so ineinander, daß sie ein Gebäude bilden, dessen
Obergeschoß für Aftermieter bestimmt ist (so in Hamburg-Schiffbek, mit jenseits der Straße liegendem Garten und
Stall, Taf. II,
[* 48]
Fig. 7-9); oder die Anordnung ist so, daß zwei Wohnungen im Erdgeschoß, eine im Dachgeschoß sich befinden
(so in Bielefeld, Taf. II,
[* 48]
Fig. 4-6). Wichtig ist für alle derartige Häuser
die Zugabe eines kleinen Gartens.
Mehrfach hat man auch versucht, der Arbeiterkolonie durch künstlerische Anlage der Gärten ein schmuckes
Ansehen zu geben. So im Agnetapark zu Delft (Taf. II,
[* 48]
Fig. 10, worin A
ein Kosthaus, B Verkaufshaus mit Bäckerei, C die Wohnung des Direktors, D die Gemeindeschule, E ein Vereinshaus, F Kinderspielplatz,
G Musikzelt, H Bootsschuppen,
I noch verfügbare Bauplätze bezeichnet). Wo aber der Raum hierfür nicht
vorhanden ist, wie bei den großstädtischen Mietshäusern, müssen durch Zusammenlegung mehrerer Baustellen große, Luft
und Licht spendende Höfe geschaffen werden.
Litteratur. Ein reiches Material an Zeichnungen ausgeführter Arbeiterwohnhäuser bieten die Schriften des Vereins Concordia
in Mainz.
[* 53]
Vgl. ferner Penot, Les cités ouvrières de Mulhouse (Mülhausen
[* 54] 1867);
Staub, Das Arbeiterquartier in
Kuchen bei Geislingen (Stuttg. 1868);
Manega, Die Anlage von Arbeiterwohnungen (3. Aufl., von Gründling, Weim.
1895);
ist derjenige, welcher einen oder mehrere Arbeiter gegen Lohn beschäftigt. Insoweit die Arbeitergesetzgebung
sich auf bestimmte Klassen von Arbeitern (gewerbliche, landwirtschaftliche u. s. w.) und ihr Verhältnis zu dem Arbeitgeber erstreckt,
ist der, welcher Arbeiter jener Klassen gegen Lohn beschäftigt. Die Arbeitgeber haben aus ethischen und rechtlichen
Gründen für das Wohl ihrer Arbeiter zu sorgen. Die Deutsche
[* 59] Gewerbeordnung enthält im 7. Titel Vorschriften über die Verpflichtungen
des Arbeitgeber bezüglich Sicherstellung des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter, Rücksicht auf Sittlichkeit u. s. w. Nur das
Verhältnis zu dem Gesinde sind in dieser Beziehung die landesgesetzlichen Gesindeordnungen (s. d.) maßgebend
und für die Klassen von Arbeitern, auf welche die Gesindeordnung keine Anwendung findet, das bürgerliche Recht in seinen Bestimmungen
über Dienstmiete (s. d.). Die Arbeitgeber haben Wohlfahrtseinrichtungen
(Hilfskassen, Wohnungen u. s. w.) bereits früher errichtet. Neuerdings sind sie durch
die socialpolit. Gesetze verpflichtet worden, die Versicherung der von ihnen beschäftigten Versicherungspflichtigen
Personen gegen die wirtschaftlichen Folgen
¶
mehr
von Krankheit, der Betriebsunfälle und der Invalidität oder des Alters zu vermitteln und zum Teil auf eigene Kosten durchzuführen.
Für die Krankenversicherung liegt ihnen die Pflicht ob, die von ihnen beschäftigten versicherungspflichtigen Personen, welche
nicht etwa Mitglieder einer Hilfskasse ohne Beitrittszwang sind, bei den Krankenkassen rechtzeitig an- und abzumelden, die
Krankenkassenbeiträge für sie rechtzeitig im vollen Betrage zur Kasse abzuführen und zu einem Drittel aus eigenen Mitteln
zu tragen (§§. 49-52 des Krankenversicherungsgesetzes vom sie haben dafür das Recht, zwei Drittel der gezahlten
Beiträge bei der Lohnzahlung, jedoch nur insoweit, als der Betrag auf die Lohnzahlungsperiode anteilig
entfällt, abzuziehen (§. 53 des Gesetzes) und an der Verwaltung der Kasse durch Mitwirkung im Vorstand und in der Generalversammlung
teilzunehmen (§. 38 desselben Gesetzes).
Unternehmer größerer Betriebe sind berechtigt und unter Umstanden verpflichtet, für ihre Arbeiter besondere Betriebs-(Fabriks-)Krankenkassen
zu errichten (§§. 60 fg.); ähnliches gilt für Bauherren oder Unternehmer größerer Bauarbeiten (Bau-Krankenkassen,
§§. 69 fg.). Bei der Unfallversicherung haben die Betriebsunternehmer diejenigen Personen, für deren Rechnung der Betrieb
erfolgt, also im allgemeinen die Arbeitgeber, die Unfallversicherung ihrer Arbeiter ausschließlich auf eigene Kosten durchzuführen
(Z. 1 des Gesetzes vom und zu dem Zweck Berufsgenossenschaften mit Selbstverwaltung zu bilden.
An den Schiedsgerichten und im Reichs-(Landes-)Versicherungsamt sind die in gleichem Umfang beteiligt wie die Arbeitnehmer.
Die von der Berufsgenossenschaft erlassenen besondern Unfallsverhütungsvorschriften haben die Arbeitgeber sorgfältig zu
befolgen (§§. 78 fg.). Bei der Invaliditäts- und Altersversicherung haben die Arbeitgeber ans eigenen Mitteln für ihre Arbeiter,
Dienstboten u. s. w. Marken zu kaufen und dieselben bei der Lohnzahlung in die Quittungskarten der Versicherten
einzukleben (§. 109 des Gesetzes vom sofern die Beibringung der Marken den Krankenkassen oder besondern Hebestellen
übertragen worden ist (§. 112), haben die Arbeitgeber an die letztern die zum Ankauf der Marken für ihre Arbeiter
erforderlichen Beträge bar abzuführen.
Die Arbeitgeber sind berechtigt, die Hälfte dieser zum Ankauf der Marken verwendeten oder den Krankenkassen, Hebestellen u. s. w. eingezahlten
Beträge ihren Arbeitern bei der Lohnzahlung abzuziehen, doch dürfen sich die Abzüge nur auf die für die beiden letzten
Lohnzahlungsperioden entrichteten Beiträge erstrecken (§. 109). An den Organen der Versicherungsanstalten,
an den Schiedsgerichten und an dem Reichs-(Landes-)Versicherungsamt sind die in gleichem Umfange beteiligt wie die Arbeitnehmer.
Die Arbeitgeber sind verpflichtet, etwaige besondere Kontrollmaßregeln der Versicherungsanstalten zu beachten (§§. 126 fg.).
Hiernach erfolgt die Krankenversicherung zu einem Drittel, die Unfallversicherung ganz, die Invaliditäts- und Altersversicherung
zur Hälfte auf Kosten der Arbeitgeber; die von ihnen insgesamt für diese Zwecke aufzuwendenden
Mittel sind zur Zeit auf mindestens 100 Mill. M. jährlich zu veranschlagen. Bei der Unfallversicherung werden sich die Beiträge
noch für lange Jahre hinaus alljährlich steigern, weil infolge des Umlageverfahrens nur die thatsächlich gezahlten Jahresbeträge
an Renten, nicht der Kapitalbetrag der letztern aufgebracht werden; es
muß also in jedem Jahre außer
den eigenen Lasten des letztern auch ein erheblicher Teil der aus den Vorjahren erwachsenen und noch nicht gedeckten Last
aufgebracht werden.
Abgesehen von diesen Geldaufwendungen sind die der Gesamtheit gegenüber dafür verantwortlich, daß ihre Arbeiter thunlichst
moralisch gehoben werden. Dies geschieht am besten durch Herstellung und Erhaltung personlicher Beziehungen
zu den Arbeitern, durch Eingehen auf ihre besondern Interessen, durch Belehrung und gutes Beispiel; hierzu können auch die
Ehefrauen der Arbeitgeber wesentlich beitragen. Die thunlichste Ausgleichung wirtschaftlicher und socialer Gegensätze
ist die Hauptaufgabe der Gegenwart, und bei ihrer Lösung fällt dem der Hauptanteil zu.
Anstalten zur Pflege der Statistik ver Arbeiterverhältnisse, nicht zu verwechseln mit den seit einiger
Zeit in mehrern deutschen Städten unter derselben Bezeichnung begründeten Arbeitsnachweisungsbureaus (s. d.). Sie wollen
Massenbeobachtungen über die gesamte Lage des Arbeiterstandes nach verschiedenen Richtungen, in socialer,
ethischer, materieller, geistiger Beziehung anstellen, um Material für eine richtige Beurteilung der Zustände in der Arbeiterbevölkerung
zu sammeln.
Sie suchen im einzelnen zu erforschen die Zahl der in den verschiedenen Unternehmungen beschäftigten Arbeiterkategorien
(männliche, weibliche, verheiratete, ledige, Kinder), die Arbeitszeit (ihre Dauer am Tage, Sonntags-, Nachtarbeit, Pausen),
die Lohnverhältnisse (Höhe und Art, Schwankungen, Verbesserungen des Systems, wie Tantieme und Gewinnbeteiligung),
die Wohnungszustände, das Familienleben (Zahl der Kinder, Sterblichkeit, Erziehung, Hauswirtschaft) u. dgl. m. Die Vielseitigkeit
erfordert, daß der Staat die Errichtung solcher Ämter in die Hand nehmen muß; er zunächst bedarf des von denselben gesammelten
Materials für die socialpolit.
Gesetzgebung. Auch kann er allein die Arbeitsämter mit der erforderlichen Machtstellung zum Eindringen
in die bezüglichen Verhältnisse versehen. Sie sind zuerst in den Vereinigten Staaten
[* 61] von Amerika
[* 62] und zwar in Massachusetts
1869, hiernach in andern Staaten ins Leben getreten. Außerdem ist seit 1884 in Washington
[* 63] bei dem Departement des Innern ein
Arbeitsamt für die ganze Union errichtet worden, welches durch Gesetz vom in ein selbständiges Arbeitsdepartement
verwandelt wurde.
In der Schweiz besteht seit 1887 das Arbeitssekretariat als Organ des in dem genannten Jahre neu gegründeten Arbeiterbundes,
der alle Arbeitervereine ohne Unterschied der Richtung zur gemeinsamen Vertretung der wirtschaftlichen
Interessen der Arbeiterklasse vereinigt. Die Regierung hat demselben eine jährliche Unterstützung von 10000 Frs. bewilligt.
In England ist seit 1893 im Handelsministerium eine besondere Abteilung (Labour Department) mit einem Arbeitskommissar an der
Spitze der Arbeitsstatistik gewidmet und giebt eine eigene Zeitschrift («Labour
Gazette») in Monatsheften heraus. Frankreich hat ebenfalls seit 1893 ein Office du travail, das seit 1894 allmonatlich
ein «Bulletin» veröffentlicht. In Osterreich wurde 1894 dem Abgeordnetenhaus ein Entwurf zur Errichtung eines arbeitsstatist.
Amtes vorgelegt. In Deutschland besteht seit 1892 eine Reichskommission für Arbeiterstatik (s. d.). -
ein von den Behörden ausgestellter schriftlicher Ausweis über die Arbeitsverhältnisse, die ein Arbeiter
nacheinander eingegangen ist. Das Arbeitsbuch enthält Namen, Tag und Jahr der Geburt, Religion und Personalbeschreibung seines Besitzers,
sowie Angaben über den Beginn, die etwa verabredete Dauer und das Ende des Arbeitsvertrages. Die Vorzüge
des Arbeitsbuch liegen darin, daß es über die Persönlichkeit des Arbeiters Aufschluß giebt. Der Arbeitgeber ersieht sofort, ob er
es mit einem ordentlichen Manne zu thun hat, und der Arbeiter hat es leichter, eine neue Stellung zu finden, wenn die Umstände
einen Wechsel nötig machen. Es dient ferner bei Streitigkeiten über den Arbeitsvertrag als unangreifbare
Grundlage und erschwert den Vertragsbruch.
Dagegen ist die Gewähr für die gute Führung des Arbeiters nur gering, da Urteile über Fleiß, Fähigkeit, Leistungen u. s. w.
im A. nicht enthalten sind. Durch Verlust des Arbeitsbuch kann der Arbeiter in empfindliche Verlegenheit geraten. Die große Abneigung
der Arbeiter gegen das Arbeitsbuch erklärt sich daraus, daß sie in der Verpflichtung zu seiner Führung eine Bevormundung
erblicken. Die Deutsche Reichsgewerbeordnung hat deshalb davon abgesehen, den Gebrauch des Arbeitsbuch allgemein vorzuschreiben;
nur für junge Leute unter 21 Jahren besteht die Vorschrift der Führung eines Arbeitsbuch (§§. 107-114).
Den Arbeitsbuch gleichartig sind die Abkehrscheine, die in Preußen
[* 65] nach dem allgemeinen preuß. Berggesetz vom für
alle Bergarbeiter vorgesehen sind. Im 18. Jahrh. vertraten die durch das Reichsgesetz von 1731 eingeführten
sog. Kundschaften die Stelle der Arbeitsbuch, aber mit dem Unterschiede, daß sie wirkliche Sittenzeugnisse darstellten. Aus den Kundschaften
gingen die Wanderbücher (s. d.) hervor. In der Rheinprovinz
[* 66] galt bis zum das franz. Recht in Bezug auf Arbeits- und Quittungsbücher; in Elsaß-Lothringen
[* 67] bis 1889. In dem größten
Teile von Deutschland hat aber ein Kontrollzwang für das Arbeitsbuch niemals bestanden; dort, wo er eingeführt war, wie
im Königreich Sachsen,
[* 68] zu allgemeiner Unzufriedenheit.
Trotzdem begann bald nach Erlaß der Gewerbeordnung von 1869 in Handwerkerkreisen eine lebhafte Bewegung für die Wiedereinführung
von Arbeitsbuch oder Neueinführung sog. Arbeitskontrollbücher, die angeblich mit den
frühern nichts gemein haben sollten. Obwohl dieses Verlangen von mehrern Seiten, von Fabrikaufsichtsbeamten, Gewerbekammern
u. a. unterstützt wurde, auch im Reichstage (1877) ein Antrag auf obligatorische Einführung des Arbeitsbuch für
Gesellen und Fabrikarbeiter beraten wurde, so hat die Reichsregierung ihren bisherigen Standpunkt nicht verlassen.
Dasjenige Land, in welchem die Arbeitsbuch lange bestanden haben, ist Frankreich. 1791 aufgehoben, wurden sie durch das allgemeine
Fabrik- und Werkstättengesetz vom 27. April, und die Konsularverfügung vom wieder eingeführt.
Erst ist ein Gesetz erlassen worden, welches das amtliche, wenn auch nur fakultative
Arbeitsbuch beseitigt,
dem Arbeiter aber das Recht gelassen hat, von dem Arbeitgeber eine Bescheinigung über seine Thätigkeit zu verlangen. Fakultativ
ist die Anwendung des in Italien
[* 69] (Gesetz vom Art. 48, 49); obligatorisch in Österreich (Gewerbeordnung
vom §§.80-80i) und in Ungarn
[* 70] (Gesetz vom Daneben werden in Österreich auch Führungs- und Beschäftigungszeugnisse
ausgestellt.
Vgl. Meißner, Vier Gesetze für das deutsche Gewerbewesen (Lpz. 1848), S. 104-119; Joh.
Jacobi, Die Organisation des Gewerbes (Cass. 1879), S. 20-23; Schriften des Vereins für Socialpolitik, Heft 7 (Lpz.
1874);
Anstalten, welche den Zweck haben, ihre Insassen zu beschäftigen. Dieselben zerfallen in zwei Klassen:
1) Arbeitshäuser für Arme, welche für den Empfang von Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln als Gegenleistung
Arbeiten in besonders dafür eingerichteten Anstalten zu verrichten haben. In England spielen solche Arbeitshäuser als
Basis der Armenpflege eine bedeutende Rolle (s. Workhouse). Ihre Einrichtung ist wesentlich auf Abschreckung in der Richtung
bemessen, daß die Furcht vor dem Aufenthalt in von der Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung abhalten
soll. Vom Standpunkte der Humanität sind deswegen die englischen Arbeitshäuser vielfach angefochten worden.
2) Korrektions- und Strafanstalten. Derartige Anstalten entstanden zuerst im 16. Jahrh. in England und Holland. Die Arbeitshausstrafe,
welche vor 1871 in vielen deutschen Staaten (z. B. Sachsen, Bayern u. s. w.) bestand, ist durch das Reichsstrafgesetzbuch
beseitigt; dagegen können auf Grund des §. 362 dieses Strafgesetzbuches gewisse liederliche Personen (Arbeitsscheue, Bettler,
Landstreicher, Prostituierte) nach verbüßter Strafe durch die Landespolizeibehörde in ein Arbeitshaus geschafft und dort
bis zu zwei Jahren untergebracht und mit gemeinnützigen Arbeiten beschäftigt werden. Die erfahrungsgemäß unwirksame Haftstrafe
(s. d.) führte zu dieser ergänzenden Bestimmung des Gesetzes.
An Stelle der Arbeitshausstrafe kann gegen Ausländer Landesverweisung von der Polizei verfügt werden. (S. Strafanstalten.)
nach §. 137 der Reichsgewerbeordnung in der Redaktion vor 1891 die von der Ortspolizeibehörde auszustellende
schriftliche Erlaubnis zur Beschäftigung eines Kindes (unter 14 Jahren) und der noch zum Besuche der
Volksschule Verpflichteten jungen Leute zwischen 14 und 16 Jahren in Fabriken.
Durch die Novelle vom ist §. 137 in
seinem frühern Inhalt beseitigt und die Verpflichtung zur Fübrung besonderer Arbeitskarte aufgehoben worden. (S. Arbeitsbuch.)
Die Eigentümlichkeit der wirtschaftlichen Stellung der Arbeiter liegt darin, daß sie ihre Arbeit wie eine
Ware verkaufen, indem sie, ohne Ansprüche auf das Erzeugnis, den Arbeitslohn als endgültige Abfindung und Vergütung für ihre Leistung
annehmen. Der Lohn bestimmt sich unabhängig von dem Werte des Erzeugnisses nach den jeweilig bestehenden
Verhältnissen des
¶
mehr
Arbeitsmarktes durch Angebot und Nachfrage und stellt somit den Preis der Ware Arbeit dar. Gleichwohl ist die Arbeit nicht eine
Ware wie jede andere. Sie ist vielmehr von allen andern dadurch wesentlich unterschieden, daß sie in einem untrennbaren
Zusammenhange mit der Persönlichkeit steht. Seitdem die Arbeiter (s. d.) der Sklaverei und Leibeigenschaft
entwachsen sind, ist es eine socialpolit. Notwendigkeit, Vorkehrungen zu treffen, daß die Warennatur der Arbeit die freie
Persönlichkeit des Trägers der Arbeitskraft nicht schädige.
Diese Rücksichten haben dahin geführt, durch gesetzliche Bestimmungen über die Frauenarbeit (s. d.)
und Kinderarbeit (s. d.), aber auch durch anderweitige Vorschriften vor allem
die in Fabriken beschäftigten Arbeiter da zu schützen, wo sie als besonders schutzbedürftig sich erwiesen,
sowie der Freiheit des Arbeitervertrages gewisse Grenzen
[* 72] zu ziehen (s. Fabrikgesetzgebung). Außerdem
wurde durch Aufhebung des Koalitionsverbots (s. Streik) den Arbeitern die Möglichkeit gegeben, bei der Bemessung des Lohns
der Macht des Kapitals die Macht ihrer Vereinigung entgegenzusetzen.
Wie es verschiedene Arbeiterklassen (s. Arbeiter) giebt, so giebt es auch verschiedene Lohnklassen; jede Arbeiterklasse hat
ihre besondere durchschnittliche Lohnhöhe. Die unterste Grenze des Lohns findet man bei den «ungelernten»
Arbeitern, den Tagelöhnern, und diese fällt in der Regel zusammen mit dem notdürftigen Unterhaltsbedarf des Arbeiters und
seiner Familie. Wird dieses Existenzminimum (s. d.) nicht
gewährt, so tritt allmählich eine solche Verminderung der Arbeitskräfte (durch Auswanderung und erhebliche Sterblichkeit,
namentlich der Kinder) ein, daß der Lohn wegen des günstigern Verhältnisses von Angebot und Nachfrage sich hebt.
Nach dem «ehernen Lohngesetze» Ricardos (Lassalles) soll aber der Lohn sich niemals dauernd über dem
Minimum erhalten können, weil durch die Vermehrung der Bevölkerung
[* 73] bald wieder ein vermehrtes Angebot eintrete. Indes widerspricht
dieser Ansicht schon die von Ricardo zugegebene Thatsache, daß das Existenzminimum, die Lebens Haltung (standard of life) des
Durchschnittsarbeiters, nicht nur in dem einen Lande höher steht als in dem andern, sondern auch in demselben
Lande mit der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich steigt.
Der organisierte Widerstand der Arbeiter und ihr natürliches Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber einer willkürlichen
Lohnherabsetzung seitens der Unternehmer haben den Erfolg gehabt, daß die Schwankungen der Löhne nicht mehr so stark sind.
Immerhin können sie aber nicht ganz verhindert werden, und der Ausstand als Waffe gegen solche Maßregeln
fordert große Opfer und legt den Beteiligten oft harte Entbehrungen auf. Vor allem ist zu beachten, daß den Arbeitern, die
in den gedrücktesten Verhältnissen leben, das Koalitionsrecht bisher fast nichts genützt hat. So bei den Webern und den
Arbeitern und Arbeiterinnen der Konfektionsbranchen, wo die hausindustrielle Vetriebsform eine Zusammenfassung
der Arbeitermasse sehr erschwert. Auch die Unternehmerverbände können leicht die Arbeitslohn ungünstig beeinflussen,
da sie Aussperrungsmaßregeln für alle Betriebe eines Industriezweiges ermöglichen.
Auch die ältere engl. Lehre
[* 74] vom Lohnfonds ist unhaltbar. Nach derselben wäre die Zahl der beschäftigten Arbeiter und die
Durchschnittshöhe des Lohns abhängig von dem für die Lohnzahlung verfügbaren Kapital in den Händen
dcr Unternehmer. In Wirklichkeit aber ist die Nachfrage nach
dem Produkt der Arbeit seitens der zahlungsfähigen Konsumenten
das entscheidende Moment für die Ausdehnung
[* 75] der Produktion und die Beschäftigung von Arbeitern. Es geht hieraus hervor, daß
die Unternehmer nur eine vermittelnde Rolle spielen; sie können bei genügender Organisation des Kredits
stets die Verfügung über so viel Produktionsmittel erhalten, als zur Befriedigung der Konsumtionsnachfrage erforderlich
ist.
Jedenfalls aber hat der Lohn auch eine obere Grenze: sie ist bestimmt durch den Wert, den die Arbeit für den Unternehmer hat.
Dieser verlangt berechtigterweise Kapitalgewinn, Vergütung seiner eigenen Thätigkeit und eine Prämie
für das Risiko, dem er sich durch die Abfindung der Arbeiter und die Übernahme des Produkts auf seine Rechnung ausgesetzt
hat. Muß der Unternehmer eine Lohnerhöhung bewilligen, so sucht er sich durch Preissteigerung des Erzeugnisses schadlos zu
halten; vermindert sich aber dadurch der Verbrauch, so wird er seinen Betrieb beschränken oder einstellen
oder vielleicht ruiniert werden, die Nachfrage nach Arbeit sich also vermindern.
Diese Wendung kann in ungünstigen Zeiten schon eintreten, ehe der Lohn die Höhe erreicht hat, die man als die normale betrachten
muß, bei welcher er nämlich die Selbstkosten der Arbeit deckt. Diese bestehen nicht nur in dem oben
erwähnten Unterhaltsbedarf, sondern schließen auch Versicherungskosten ein für den Fall, daß der Arbeiter durch Alter,
Krankheit oder Unfall erwerbsunfähig wird oder daß er mit Hinterlassung einer hilflosen Familie stirbt. Wenn in solchen Fällen
die Armenpflege helfen muß, so ist das einBeweis, daß die Industrie ihre Kosten nicht vollständig deckt.
Man hat vielfach nach dem «gerechten», nach dem «naturgemäßen»
Lohn gesucht und damit die Lösung eines Problems angestrebt, welches nicht gelöst werden kann. Alle Verteilung der Güter
beruht auf dem entgeltlichen Austausch derselben. Es fehlt aber ein Maßstab,
[* 76] an welchem und mit welchem
man messen könnte, ob die thatsächlichen Preise gerechte sind oder nicht. Es ist unmöglich, den Anteil der persönlichen
Leistung der einzelnen erzeugenden Kräfte an dem Gesamterzeugnis zu ermitteln.
Alle Versuche nach dieser Richtung (s. Thünen) sind erfolglos geblieben. So kann man auch nicht daran denken, durch staatliche
Lohnfeststellungen den Arbeitslohn zu bestimmen. (S. Socialismus.) Wohl aber ist es Aufgabe des Staates, durch eine
rationelle Socialpolitik, Gewährung des Koalitionsrechts (s. d.), Einrichtung von Einigungsämtern
(s. d.) u. s. w. dahin zu wirken, daß auch
die Arbeiter ihre Interessen gegenüber den kapitalkräftigen Unternehmern vertreten können.
Daß die Einigungsämter thatsächlich die Lohnbewegung beeinflussen können, hat man immer bezweifelt,
und in Deutschland wandte man sich bisher bei Lohnstreitigkeiten allgemeiner Natur nicht an sie. Es ist daher bemerkenswert,
daß 1895 zum erstenmal bei dem Leipziger Maurerstreik das Gewerbegericht als Einigungsamt angerufen worden ist und nach kurzer
Thätigkeit den Streik beigelegt hat. Die Fabrikgesetzgebung (s. d.) beeinflußt mittelbar
die Lohnhöhe (durch Verbot der Kinderarbeit u. s. w.) in einer für die Arbeiter günstigen Weise, die Arbeiterversicherung
(s. d.) sichert dem Arbeiter seine Existenz auch in der Zeit, wenn seine Arbeitskraft versiegt. Alle diese Maßnahmen beeinflussen
die Lohnbildung und führen die umstrittene Frage nach dem gerechten Arbeitslohn ihrer praktischen Lösung so nahe,
wie es möglich ist.
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