Dasein; die moderne Fabrikindustrie nahm ihren Anfang.
Der Sturz der Mediation nach dem Einrücken der Alliierten 1813 weckte wieder die Kräfte der alten Zeit; aber gegenüber
einer extremen Reaktionspartei, die das
Alte von vor 1798 herbeiwünschte, wusste eine gemässigte Richtung die Oberhand zu
behaupten und 1814 eine Verfassung zu begründen, die zwar ein stärkeres Uebergewicht der Stadt brachte,
aber manche liberale Errungenschaft zu retten vermochte. Die Landschaft fühlte sich freilich in Manchem wieder in die Zeit
der «gnädigen
Herren und
Obern» von vor 1798 erinnert, bis 1830 die Folgen der Julirevolution auch im Kanton Zürich
dem Liberalismus zu
völligemSiege verhalfen.
Der «Ustertag» stürzte für immer die aristokratischen Einrichtungen
und rief einer Regeneration des Kantons auf repräsentativ-demokratischer Grundlage mit Gewerbs- und Handelsfreiheit, Volksrechten
und Kulturzwecken des Staates. Eine Zeit schöpferischer Reformen brach an, gekrönt durch Organisation einer obligatorischen
Volksschule, Schöpfung des Lehrerseminars in
Küsnacht, der Kantonsschule und Universität in Zürich.
Der Kanton
wurde ein Führer liberaler Politik in der Eidgenossenschaft.
Je mehr indes die Liberalen in ein radikales
Stürmen und Drängen hinein kamen, desto mehr wurden die konservativen Elemente
zu Stadt und Land verbittert. Als die letzten Vorrechte der Hauptstadt fielen (1837 und 1838), erreichte die Spannung
den höchsten Grad. In dieser Lage tat die Regierung den unbesonnenen Schritt, auf eine erledigte Professur der Theologie
an der Hochschule den radikalen Kritiker
David Friedrich
Strauss zu berufen. Da erfolgte, scheinbar bloss wegen «Religionsgefahr»,
ein von der Stadt aus veranlasster Volksaufbruch aus dem
Oberlande, («Straussenhandel», «Septemberputsch»);
die liberale Regierung wurde gestürzt und machte einer konservativen
Platz.
Unter dem Drucke dieser reaktionären Septemberregierung stand der Zürcher Freistaat bis 1845, wo nach dem Scheitern der
Freischarenzüge, im Gegensatz zu dem reaktionären Wüten
Luzerns die liberale Partei wieder die Oberhand gewann. Zürich
arbeitete
kräftig mit bei der Bundesreform von 1847-1848 und wurde hernach (da es seit 1803 stets einer der Vororte
gewesen war und jetzt den
Rang eines Hauptortes an Bern
hatte abtreten müssen) zum Sitze des eidgenössischen Polytechnikums erkoren
(1854). Begabte liberale Staatsmänner vertraten Zürich
in glänzender Weise nach innen und aussen, wie
Jonas Furrer, Alfred
Escher,
Jakob Dubs; der Liberalismus feierte eine zweite Blütezeit. Da er jedoch sich zu verknöchern begann
und gegen Volkswünsche und demokratische Forderungen sich verschloss, bildete sich eine demokratische Oppositionspartei
mit Hauptsitz in
Winterthur (J. J.
Sulzer,
Sal. Bleuler, G. Ziegler u. a.) gegen Alfred
Escher und sein «System». 1867-1869 erfolgte
der Uebergang zur reinen Demokratie mit obligatorischem Referendum, mit Initiative, Volkswahl der Regierung,
Sorge für die Arbeiter, Kantonalbank etc. Die neue demokratische Verfassung von 1869 gab den Anstoss zu einer Reihe
wichtiger politischer wirtschaftlicher und sozialer Reformen und wurde Vorbild für andre Kantone, teilweise sogar für die
Bundesverfassung von 1874.
In raschem Tempo entwickelten sich Stadt und Kanton. Jene, schon in den 30er Jahren ihrer sie beengenden
Schanzen und Befestigungen entledigt, wurde seit den 50er und 60er Jahren verschönert, erweitert und gänzlich erneuert
(Bahnhofstrasse, Quaibauten, Niederreissen des Kratzquartiers, neuer Bahnhof, Bahnhofbrücke, Quaibrücke etc.); sie wurde
Sitz wichtiger Bankinstitute und ein Eisenbahnzentrum für die ganze Nordostschweiz; durch Vereinigung
mit den 11 Ausgemeinden
(Wollishofen,
Enge,
Wiedikon,
Aussersihl, Ober- und
Unterstrass,
Fluntern,
Hottingen,
Hirslanden,
Riesbach
und
Wipkingen) gestaltete sie sich seit 1893 zur Grossstadt, und 1898 wurde sie Sitz des eidg.
Landesmuseums. Die kantonale Volksschule wurde 1899 ausgebaut, und auch die Zürcher Kirche erhielt 1895 eine Neugestaltung
im Sinne grösserer
Freiheit und Selbstregierung, sowie der Beteiligung von
Laien an der Kirchenordnung. Die unerwartet glänzende
Volksabstimmung vom April 1908 über Errichtung eines
neuen Universitätsgebäudes und Verstaatlichung der Blinden- und Taubstummenanstalt
offenbarte den idealen und opfermutigen Sinn des Volkes zu Stadt und Land. Keime frischen, neuen Lebens, die
erst noch aufgehen müssen, sind in all diesen Erscheinungen einbeschlossen.
Wichtigste, historische Literatur. Urkundenbuch der Stadt und LandschaftZürich
(bis jetzt 6 Bde). - Zürcherische Neujahrsblätter.- Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft inZürich
(bis jetzt 25 Bde). - Zürcher Taschenbuch (1858-1862 und seit 1878). -
Gerold Meyer v.
Knonau. DerKanton Zürich
(2 Bde. 2. Aufl. 1844 und 1846). - J. J. Hottinger und G. v.
Escher. Dasalte und das neueZürich.
1859. - Vögelin,
Sal. Das alteZürich.
2. Aufl. 2 Bde. Zür. 1879 und 1890. -
Arter. Sammlung Zürcherischer Altertümer. 1837. -
Vogel, J. Die altenChroniken oder Denkwürdigkeiten der Stadt und LandschaftZürich.
1845. - MemorabiliaTigurina, 1820-1840, 1840-1850, 1850-1860. - Leuthy, J. J. Geschichte desKant. Zürichvon 1794-1830. 2 Bde. 1843. - Leuthy, J. J. GeschichtedesKant. Zürichvon 1831 bis 1840.Zürich
1845. - Bluntschli, J. C. Staats- und Rechtsgeschichte derStadt und LandschaftZürich.
2 Bde. 1838 und 1839. - Bluntschli, J. C., und J. J. Hottinger. Geschichte der RepublikZürich.
3 Bde. Zürich
1847-1856. - Die StadtZürichIllustrierte Chronik. Preuss 1896. - Die bauliche Entwicklung der StadtZürich(Jubiläumsschrift des Polytechnikums. Bd.
II 1905). - K. Dändliker, Geschichteder Stadt und desKantons Zürich.
Bd. I. 1908, Bd. II. 1910.
Der Bezirk
Zürich liegt in der Hauptsache zwischen den Ausläufern des
Albis einerseits und des
Zürichberges
andrerseits. Er greift nur wenig ins Glatthal
(Œrlikon,
Schwamendingen,
Seebach) und ins
Reppischthal
(Urdorf,
Uitikon, Birmenstorf)
hinüber. Er umfasst also das untere Ende des
Zürichsees und das im Mittel 2 km breite Limmatthal. Die
Berge zu beiden
Seiten
bestehen aus horizontalen Molasseschichten, die mit Moränen unregelmässig überstreut sind. Mächtige
bogenförmige Endmoränen markieren das Seeende. Das Limmatthal ist von mächtigen Glazialschottern erfüllt.
Ausser Acker- und Gartenbau und Viehzucht ist die Industrie von grosser Bedeutung. Abgesehen von der Stadt
Zürich (siehe dies. Art.) finden wir z. B. Maschinenbau in Œrlikon, Albisrieden, Altstetten, Schlieren; eine Waggonfabrik in
Schlieren, Baumwollindustrie in Dietikon etc.
Der grosse Eisenbahnknotenpunkt Zürich
beherrscht die Verkehrslinien des Bezirks. Der natürlichen Bodenform entsprechend haben
wir die beiden Uferbahnen längs des Sees, die den Verkehr, mit Chur und mit dem Arlberg vermitteln; dann
die Linie nach Baden,
die nach der Westschweiz und nach Basel
führt. Eine Abzweigung davon ist die Linie nach Affoltern-Zug. Quer durch
den nördl. Höhenzug gehen in gemeinsamem Tunnel die Linien nach Schaffhausen,
nach Romanshorn und St. Gallen
und ins Glattthal. Sekundäre Linien
sind die Sihlthalbahn, die Limmatthal-Strassenbahn mit Abzweigung nach Weiningen, die Tramlinien Zürich-Höngg,
Zürich-Œerlikon-Seebach und die Bergbahn (mit Adhäsion) auf den Uetliberg.
Gem. und Hauptstadt des Kantons und Bezirks Zürich, grösste Stadt der Schweiz. Die geographischen Koordinaten der eidg. Sternwarte
am Zürichberg (nach freundlicher Mitteilung der Sternwarte) sind: 47° 22' 38" NBr. und 8° 33' 3,9"
OL. von Greenwich. Die magnetische Deklination betrug pro 1908: 11½° W. Die Höhe beträgt für die Sternwarte 470 m, für
den Seespiegel im Mittel 408,6 m. Die Limmat fällt im Stadtgebiet bis zur Kote 400 m (vor Höngg) auf
eine Strecke von 6 km, also durchschnittlich 1½‰. Das Stadtgebiet reicht westl.
bis an den Kamm des Uetlibergs, dessen Gipfelsignal
mit 874 m Meerhöhe auf der Stadtgrenze liegt.
Nach S. verfolgt die Grenze den Grat bis zur Baldern, steigt dann, die ehemalige Gemeinde Leimbach einschliessend, zur Sihl und
südl. vom Etlisberg vorbei zwischen Wollishofen und Mönchhof zum See ab. Am rechten Ufer zieht sie südl.
der Irrenheilanstalt Burghölzli zur Realp hinauf, kreuzt den Wehrenbach, folgt ein Stück weit dem mittleren Lauf des Elefantenbaches,
umschlingt den Loorenkopf, und von da in ziemlich regelmässigem Zug
von SO. nach NW. der Glattthalseite des
Zürichberges und erreicht über die Einsattelung des Milchbuckes den N.-Abhang des Käferberges.
Beim Hardturm berührt sie die Limmat, welche bis unterhalb der Hönggerbrücke die Gemeindegrenze bildet. Von da an sind unregelmässige
Gräben im breiten Limmatthal als Grenzlinien benutzt. Das Triemli wird südöstl. umgangen. Vom Döltschi steigt die Linie
wiederum am Uto hinan und schliesst, dessen O.-Rampe folgend, nordöstl. vom Hôtel Uetliberg vorbei, am
Gipfelsignal. So legt sich das Gebiet der mit ihren Aussengemeinden vereinigten Stadt Zürich auf der Landkarte einem Hufeisen
gleich um das unterste Seebecken und steigt mit beiden Rändern bis auf die Gipfelhöhen des Uetliberges im W.,
des Zürichberges und Käferberges im O. Der Flächeninhalt beträgt 44,17 km2.
Wer Zürich
zum erstenmal besucht, sollte an einen lauen Sommerabend zu Schiff seeabwärts der Stadt langsam sich nähern. Liebliche
Gestade mit hablichen Dörfern geben ihm links und rechts das Geleite. Reiche Landhäuser recken ihre Erker und Türmchen
aus wohlgepflegten Gärten heraus. Immer spärlicher werden die
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mehr
grünen Weiden mit den langgezogenen Abendschatten der Obstbäume am linken, die erdigen, vitriolblaufleckigen Reben am rechten
Ufer. Wohnsitz reiht sich an Wohnsitz. Wir fahren am büschereichen Zürichhorn vorbei, wo der Hornbach ein breites, dicht
besiedeltes Delta in den See gefüllt hat. Der See wird enger. Zu beiden Seiten dehnt sich künstlich dem
Wasser abgerungenes Siedelungsgebiet. Darüber ragen links der altehrwürdige Belvoirpark und die reichen Villenquartiere
auf den Moränenhügeln von Enge, der Zürichberg rechts, eine einzige luftige Gartenstadt vom Hirslanderberg bis hinab zum
Rigiquartier.
Noch blendet der See. Schwarzblau düster steigt der Mischwald, von dunklen Eiben durchsetzt, jenseits der Sihl
zum gradlinigen Uetlibergkamm, dessen nackter Sandstein da und dort in ausgefressenen Nischen zu Tage tritt. Vom Gipfel grüssen
wohnliche Gasthäuser. Die letzten goldenen Strahlen der Abendsonne fliehen über den Zürichberg hinauf. In scharfzackigen
Profillinien sperren die beiden Grossmünstertürme, die schlanke Fraumünsterspitze und die wienerisch zierliche neue Tonhalle
den Weg.
Links reihen sich Rotes und Weisses Schloss, Rentenanstalt und «Unfall Zürich"
an, rechts Stadttheater und Utoschloss,
alle auf ehemaligen Seegrund gebaut, als ob die alten Pfahlbauten wieder erstanden wären. Im Grunde zieht die Limmat unter
den Bögen der monumentalen Quaibrücke ab, und der St. Peterturm mit der grossen Uhr schliesst in mehrfachem
Sinne als Zeichen der Zeit die charakteristische Silhouette in der Tiefe ab. Allmählich verstummt das fröhliche Geplätscher
von den Badanstalten. Ein Lichtlein nach dem andern taucht bergwärts im Häusergewirr auf. Abendstern und Scheinwerfer vom
Uto und vom originellen Urania-Turm, oder von der Tonhalle herab, blinzeln um die Wette über die Stadt,
und wie mit einem Zauberschlage legt sich an die Stirn des Bildes, vorn am See-Rande, ein gleissendes Diadem: Ufer und Brücken
haben ihren Lichterkranz umgelegt, auf dass auch bei Nacht die Stadt eine Leuchte sei dem Lande.
So zieht das Bild sich zusammen von beiden Seegestaden her. Wie der See zum Ausfluss des Stromes, so konzentriert
die menschliche Siedelung sich an dieser Stelle, wo ein Kranz
von niedrigen Gletscherschutthügeln Wasser und Verkehr stauen
musste.
Die Lage für eine grössere Niederlassung ist somit von der Natur gegeben: Ueber den See hinauf und thalabwärts war durch
das Wasser der Verkehr erleichtert;
der See selber, an der Ausmündungsstelle leicht sperrbar, diente gleichzeitig
zur Abwehr, und der Moränenwall konnte zur Anlage einer innern Verteidigungslinie benutzt werden, während die höheren
Berge östl. und westl. gleichsam äussere Schutzwälle bilden.
Lag einmal eine Ortschaft hier, so musste sie der Zielpunkt
für die über die zentralen und östl. Schweizeralpen führenden Handelsstrassen werden, während nördl.
Verkehrswege vom Rhein her hier zusammenliefen: Zürich
wurde das Niederlagshaus für die Warenvermittlung zwischen Italien und Deutschland.
Eigene, früh schon entwickelte Industrie benutzte expansiv diese günstige Situation. Es ist bezeichnend, dass von Zürich
aus
die erste schweizerische Eisenbahn fuhr.
Dieser «Spanischbrötlibahn» nach Baden folgten rasch die weiteren Hauptlinien. Heute ist Zürich
der Knotenpunkt
der Eisenbahnlinien von Schaffhausen,
von Winterthur und damit von Romanshorn-Frauenfeld, Singen-Etzwilen und von St. Gallen,
vom Glattthal, vom rechten
und linken Seeufer, (Verkehr vom Glarnerland und aus dem Kanton Graubünden,
vom Arlberg, sowie Wädenswil-Einsiedeln und demnächst Ricken-Toggenburg),
von Luzern-Zug (Gotthard) und von Basel-Brugg und Westschweiz-Aarau-Brugg her; von zahlreichen, mehr lokalen
Linien und von Dampfschiffverbindungen nicht zu reden. Das alles hat zur heutigen hohen Bedeutung unserer grössten Schweizerstadt
beigetragen, ein Moment das andere bedingend oder fördernd, wie Elektrizität und Magnetismus im Getriebe einer modernen
Kraftmaschine.
2. Topographische Beschreibung.
Deutlich scheidet sich im Stadtplan oder im Anblick von den Höhen des Uetlibergs die höckerige, winklige
Altstadt mit ihren düstern, altersgrauen Sandsteinhäusern und geschwärzten Ziegelfirsten ab von dem weitmaschigen,
geregelten Strassennetz der Aussenzone, deren Häuserblöcke allmählig bergwärts zu beiden Seiten von See und Limmat in gesunde
Villenquartiere mit offener Ueberbauung sich
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auflösen. Noch verrät die winklige Figur des Schanzengrabens den Umfang der ehemaligen «kleinen
Stadt» auf dem linken Limmatufer, während Seilergraben-Hirschengraben die«grosse»
(rechtsufrige) Stadt bergwärts umschliessen. Innerhalb dieses alten Festungsrahmens wollen wir unsere Wanderung durch die
Stadt beginnen. Ein Schiff führte uns zum Landungssteg am Bürkliplatz, früher Stadthausplatz geheissen.
Welch hübsche Parkanlagen links hinaus gegen die Enge und vor uns nach der Bahnhofstrasse! Wir überschreiten die Quaibrücke.
1882/83 aus grobem Schwarzwälder Granit erbaut, überbrückt sie mit 165 m Länge die Ausflussstelle der Limmat aus dem See.
Von hier geniesst man bei klarer, insbesondre föhniger Witterung einen herrlichen Ausblick auf See und
Gebirge. Da erhebt sich zur Linken, hinter dem spitzen Kirchturm von Zollikon, das prachtvolle Schichtenmassiv des Glärnisch
mit dem Vrenelisgärtli und dem Bächistock hinter der grossen Firnschulter. Nach rechts folgt der Kalkklotz des Faulen, in
der vorderen Kulisse der schiefgebänderte Drusberg im obersten Sihlthal, dann Bifertenstock, Tödi, Klariden,
Scheerhorn, die elegante Firnpyramide des Düssistockes; im Mittelgrund, oft in düsterm Blaugrau sich abhebend, der Mythen,
weiter rechts hinten die mächtige Windgällenwand mit dem Porphyrgipfel der Kleinen Windgälle rechts unten, und über der
Lücke von Kaiserstock und Rossberg hinaufragend der gratreiche Bristenstock.
Bis zu den westl. Urschweizern (Urirotstock, Schlossstock und Wissig) reicht der Firnenkranz, vor dem die
waldigen Molasseberge des Hohen Ronen und Gottschalkenberges und der Sihlwald am Albisabhang, sowie der niedrige Moränenzug
des Zimmerberges bis gen Hütten und Schindellegi hinauf wie ein grüner Teppich ausgebreitet erscheinen, seewärts übersät
mit sonnbeglänzten Dörfern. Schmucke Kirchtürme ragen auf, neben Schulhäusern, und dem See entlang
zeugen Fabrikschlote in grosser Zahl von reicher industrieller Tätigkeit. An beiden Ufern raucht die Lokomotive, und kleine
Dampferchen eilen geschäftig herüber und hinüber und ziehen Guirlanden-Linien den Ufern entlang: ein unvergessliches,
unvergleichlich schönes Bild, gemischt aus majestätischer Hochgebirgsruhe, lieblichem Landleben und geschäftigem Verkehr
- getrennt und doch verbunden durch die weite blaue Seefläche.
Wenden wir uns von der Quaibrücke limmatabwärts der Altstadt zu. Ueber den Platz der ehemaligen Schifflände, jetzt zu einem
prächtigen Quai verbreitert, erreichen wir das 1885 erbaute Zwinglidenkmal, ein hohes Bronzestandbild des grossen Reformators,
von dunkeln Baumgruppen umrahmt, vor der alten Wasserkirche, in der heute die Stadtbibliothek untergebracht
ist. Nördlich schliesst das Helmhaus an. Von der Münsterbrücke bietet sich ein charaktervolles Stadtbild dar rechts, erhöht,
das Grossmünster mit seinen zwei gotischen Türmen - früher in Spitzhelme auslaufend, jetzt von Holzkuppeln gekrönt. Es
ist die Kirche des ehemaligen Chorherrenstiftes, die Stelle der Wirksamkeit Zwinglis 1519-1531, in roman.
Stil im Jahre 1078 erbaut an Stelle einer älteren, abgebrannten
Kirche. Am südl. Turm hoch oben in einer Nische sitzt, in
Stein gemeisselt, Kaiser Karl der Grosse mit dem Schwert auf den Knien und goldener Krone auf dem Haupt. Im sehenswerten Kreuzgang
(höhere Töchterschule) steht ein Brunnen mit dem Standbild des Kaisers in Sandstein.
Limmatquaiabwärts folgen einige Zunfthäuser, dann das altehrwürdige Rathaus, über die Limmat hinausgebaut. Es ist das
dritte Gebäude an dieser Stelle. Das erste war ganz aus Holz gebaut, das weite (1400) wenigstens gegen die kleine (linksufrige)
Stadt hinüber bis 1502 hölzern; 1504 bekam es gläserne Fenster, die vorher nur mit Tuch bespannt waren,
und wurde 1694 abgebrochen. Der heutige Bau ist in edlem deutschem Renaissancestil gehalten. Im Vestibül die Büste des
Dichters und zürcherischen Staatsschreibers Gottfried Keller. Im obern Stock der Kantonsratssaal, der auch vom grossen Stadtrat
als Sitzungslokal benützt wird.
«Die Tribüne für die Zuhörer ist wohl angebracht»,
schreibt 1846 Meyer von Knonau, «doch würde sie etwas beengt sein, wenn immer wichtige Gegenstände
behandelt und Redner vom ersten Range auftreten würden.» Vom Rathaus leitet die breite Gemüsebrücke mit ihren blau
beschirmten Marktständen das Auge hinüber zum grünen Hügel des Lindenhofs mit der Freimaurerloge und zum
Turm der St. Peterskirche mit den mächtigen Zifferblättern (bis gegen Mitte des 16. Jahrhunderts die einzige öffentliche
Uhr in Zürich),
hinab über die kleinfensterigen, schmalen und hohen Häuser der Schipfe und zurück an der Wühre vorbei zu dem in
reichem Barokstil erbauten Zunfthause «zur Meise» das mit seinem schmiedeisernen
Hofgitter die bürgerliche Noblesse in Sandstein verkörpert. Es folgt am linken Ufer aufwärts die schlank
getürmte Fraumünsterkirche, von Ludwig dem Deutschen 853 gestiftet, mit dem Grabmal Hans Waldmanns. Daran angebaut und
in stilvoller Weise mit dem alten Kreuzgang verbunden (Architekt Gull) das freundliche Stadthaus, die Zentralstelle der städtischen
Verwaltung, und das eidg.
Postgebäude. Alle diese Bauten sind in Molassesandstein aus den Brüchen von Bäch und Bollingen aufgeführt, dessen dunkle
Verwitterungsfarbe dem sonst lieblichen Stadtbild einen leicht melancholischen Zug
verleiht. Wie tröstend überragt der neue
Predigerturm und die einfache Basilika der römisch-katholischen Liebfrauenkirche mit ihrem stumpf zugekanteten Campanile
aus blendend weissem Kalktuff das engere Stadtbild. Die Limmat erscheint durch die auf Pfählen stehenden
industriellen Gebäude der beiden Mühlestege abgeschlossen, und eine fast komische Note bringt der in eine Rundgalerie ausgeladene
Uraniaturm mit der Kuppel der Volkssternwarte in das Bild.
Die Münsterbrücke, von der aus wir diese Einsicht in die Altstadt gewannen, wurde 1838 eingeweiht. In
vier leichtgewölbten Bogen überspannt sie den Fluss. «Gewölbe und Einkleidung sind von schwarzem
Marmor aus den Brüchen vom Wallenstadtersee, das Hauptgesims aus weisslichtem Gotthardgranit, der bei Mellingen aus mächtigen,
dort liegenden Fündlingen genommen ist... Dieses schöne Bauwerk liess die zürcherische
¶
mehr
Kaufmannschalt unter Leitung des Ingenieur Negrelli durch Konrad Stadler und zwei andere zürcherische Baumeister aufführen."
Wir folgen dem Quai an der lustigen Schwanenkolonie vorbei und «unter den Bögen»
hindurch bis zum Rathaus und steigen gegenüber Fleischhalle und Gemüsebrücke die Marktgasse hinauf. Unbegreiflich, dass
dieser enge Durchpass einmal der wichtigste Verkehrskanal sein musste, durch den die Posten aus der Ostschweiz
über Zürich
der Westschweiz zurollten. Bald biegen wir links ab, am hohen Zunfthaus zur Schmieden und am Rindermarkt vorbei zur
Stüssihofstatt. Da sieht es mittelalterlich aus: schmale, winklige Gassen, abschüssige Plätze. Gravitätisch mustert Ritter
Stüssi auf dem Brunnen den engen Umkreis. Durchs Wirtschaften-Gewimmel des Niederdorfs gelangen wir, verstohlene
Blicke in schattige Quergässchen werfend, zum Leonhardplatz und auf die Bahnhofbrücke. Da ist regster Verkehr. Mehrere
Tramlinien münden hier zusammen, und die Brücke vermag zeitweise den Strom von Gefährten und Fussgängern kaum zu fassen.
Im Winkel zwischen Limmat und Sihl ist der Hauptbahnhof als Kopfbahnhof erbaut, eine hübsche Anlage der
ehemaligen Nordostbahngesellschaft, mit allegorischen Figuren über dem Mittelbau, Kunst, Wissenschaft, Handel und Gewerbe
darstellend. Die weite Personenhalle hat lange für eine der grössten und schönsten der Welt gegolten, und auf die prunkvollen
Wartsäle machten die Reisehandbücher besonders aufmerksam. Heute sind sie baulich längst übertroffen,
dafür imponiert stramme Ordnung und Sauberkeit im Zürcher Bahnhof, insbesondre an verkehrsreichen Festtagen.
In der Platzpromenade hinter dem Bahnhof steht das nach den Plänen des Architekten Gull 1892-98 von der Stadt Zürich erbaute
schweizerische Landesmuseum, ein vortreffliches Beispiel der Anschmiegung der Architektur (mittelalterlicher Stil) an die
kompliziertesten Erfordernisse der einzelnen Museumsabteilungen. Besonders berühmt
sind die früher
im Helmhaus aufbewahrten Ferdinand Keller'schen Pfahlbautenfunde und der Waffensaal mit Hodlerschem Wandgemälde (Rückzug
der Schweizer von der Schlacht bei Marignano).
Ferner zahlreiche Originalzimmer, darunter drei gotische aus der Fraumünsterabtei Zürich
von 1489 und 1507, die Schatzkammer mit
Münzkabinet im Souterrain, eine grosse Porzellansammlung etc. Das Landesmuseum wurde 1891 durch die
Eidgenossenschaft gegründet, am festlich eingeweiht. In den hübschen Anlagen vor dem Stromzusammenfluss Limmat-Sihl
erfreuen uns die einfachsinnigen Denkmäler für den Minnesänger Hadlaub, den Idyllendichter Gessner und für Wilhelm Baumgartner,
den Schöpfer der unvergleichlichen Sangesweise zu Gottfried Kellers O mein Heimatland.
Vor dem Bahnhof bewundern wir den grossen Monumental-Brunnen aus rotem Granit, mit dem von Richard Kisling geschaffenen Standbild
Alfred Eschers, das an Stelle eines hohen Springbrunnens 1889 errichtet wurde, und wenden uns jetzt der Bahnhofstrasse zu.
Welcher Gegensatz zu den engen, hochgiebeligen Gassen des rechten Ufers! Mit wohltuender Breite zieht
sich ihre Lindenallee, zweimal in stumpfem Winkel links abbiegend, gegen den Paradeplatz und nach dem See. Sie umgeht das Moränenhügelquartier
des Oetenbachs (früher Zuchthausbauten, aus den Ueberresten des alten Oetenbachklosters erstellt, jetzt abgebrochen und
künstlich durchschnitten in der Uraniastrasse), des Rennweges, Lindenhofes, Strohhofes und lässt die isolierten
Gletscherschutthügel zu St. Anna und die Katz (botanischer Garten) rechts liegen. Mit schönen Hotelbauten französischer Architektur
beginnt sie am Bahnhof; es folgt das Linth Escher-Schulhaus, in hübscher Parkanlage zurückstehend; davor das Pestalozzidenkmal.
Dann gross angelegte moderne Geschäfts- und Warenhäuser, Schaufenster an Schaufenster, zu oberst die grossen Häuserblöcke
des Zentral- und Kappelerhofes und die 1877-80 von der kaufmännischen Gesellschaft
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Zürich
erbaute Börse. Sehenswert sind auch die Gebäude der grossen Bankinstitute: schweiz. Bankverein und schweiz. Kreditanstalt
am Paradeplatz, Bank Leu u. Cie. und Zürcher Kantonalbank, sowie eidg. Bank und schweizerische Volksbank an der Bahnhofstrasse,
manche mit reich ausgestatteten Vestibülräumen, insbesondre der schweiz. Bankverein (Kolossal-Statue, den Handel versinnbildlichend,
von Richard Kisling). Einen Blick noch werfen wir in die alte, winklige Augustinergasse mit ihren wohnlichen
Erkern.
Dann zieht uns der See wieder an, und wir wandern am Alpenquai hinaus durch prächtige Parkanlagen, welche 1881 beschlossen
und im Jahre 1887 eingeweiht wurden. Angenehme Perspektiven eröffnen sich zwischen Gebüschen und Baumgruppen über wohlgepflegte
Rasenflächen und reiche Blumenrabatten. Ein raffiniert zusammengestelltes Arboretum einheimischer und exotischer Bäume ist
über künstliche Hügel und Thälchen ausgebreitet. Erratische Blöcke des alten Linthgletschers, rote Ackersteine aus dem
Walenseegebiet, Speernagelfluh, Kreide- und Jurakalke vom Glärnisch wechseln in bunter Ordnung, dazwischen lugen wie zufällig
hingelangt Gentianen, Alpenrosenbüsche und Heidekräuter hervor.
Der Quai ist im Wesentlichen das Werk des Quai-Ingenieurs A. Bürkli, dem dafür auch ein geschmackvolles
Denkmal gesetzt ist. Auch dem Geologen Meister Albert Heim ist die Stadt zu Dank verpflichtet dafür, dass durch sein Bemühen
auch in dieser künstlichen Anlage der natürliche Moränencharakter der Stadttopographie gewahrt wurde. Einen hübschen
Hintergrund bilden die neue Tonhalle, der Zürcher Trocadéro, von den Wiener Architekten Fellner und
Helmer 1895 erbaut, das «Rote Schloss», das Palais Henneberg mit Marmorfries, das «WeisseSchloss» aus Savonnièreskalk und
das Gebäude der schweizerischen Rentenanstalt aus buntem Kalkstein. Den Abschluss macht der öffentliche Belvoirpark, einst
Besitzung des zürcherischen Staatsmannes Alfred Escher, des Vorkämpfers für die Gotthardbahn. Von seiner
Tochter Frau Dr. Lydia Welti-Escher wurde das prächtige Gut als Legat der Eidgenossenschaft vermacht, nachher von einer Gesellschaft
angekauft und später zum grossen Teil der Stadt zum Eigentum überlassen.
Vom Belvoirpark steigen wir über den Gabler aufs Bürgli zur malerisch gelegenen Kirche Enge, geniessen
von deren Terrasse den lieblichen Blick über Stadt und See und über das nahe gelegene teuer-noble Villenviertel der Enge
und kommen, den äussern Moränenparallelwall jenseits der Waffenplatzstrasse überschreitend, zur Sihl. Öfters ist sie fast
trockenen Fusses passierbar, oft aber wälzt sie metertiefe trübe Fluten zwischen Zimmerberg und Albiskette
heraus über die Allmend (den eidgenössischen Waffenplatz) der Stadt und ihrem ursprünglichen Bett, der heutigen Limmat entgegen.
An der Utobrücke zweigt der Weg zum Uetliberg ab, am SchützenhausAlbisgütli vorbei, wo die Schützenfeste und das Knabenschiessen
abgehalten werden.
Dannzumal belebt sich die Umgebung mit einer fröhlichen, lärmenden Budenstadt, Menschenmengen
wogen
auf und ab wie auf der Theresienwiese am Münchner Oktoberfest. Im alten Albisgütli standen ehemals, bevor die Uetlibergbahn
erbaut war, «Maultiere und Pferde mit Führern» bereit für die Besucher
des Berges. Mehrere grosse Ziegel- und Backsteinfabriken markieren, in Reih und Glied vor grossen Gehängelehmgruben am Uetlibergfuss
errichtet, das Randgebiet des industriellen Stadtteiles, den wir nun näher kennen lernen wollen.
Der Sihl entlang abwärts erreichen wir zwischen Sihl und Sihlkanal eingekeilt das Sihlhölzli, den ehemaligen Schützenplatz,
jetzt Spielplatz und Schlittschuhfläche. Links oben dominieren auf putzigen Moränenhügelresten die mächtigen Bühl-Schulhäuser
und die schmucke neue Kirche von Wiedikon. Rechtwinklige kasernenartige Häuserblöcke sind die Signatur
der links der Sihl liegenden Stadtteile Wiedikon und Aussersihl. Hie und da noch ein paar altväterisch niedrige, heimelige
Häuser aus der Dorfzeit, im Ganzen aber vollgepfropfte Mietshäuser, rauchig, verwittert und stillos.
Wir kreuzen die linksufrige Seebahn, die in weitem Bogen westlich um Aussersihl herum den Hauptbahnhof erreicht, besichtigen
Stauffacherbrücke und Sihlbrücke und ziehen uns allmählich über die verkehrsreiche Badenerstrasse
an der 1400 Sitzplätze fassenden St. Jakobskirche mit grossem Sängerpodium (1901 erbaut) und mehreren neuen Schulpalästen
vorbei, das Kaserne-Areal mit Zeughaus rechts lassend, der Langstrasse zu. Sonntags ist da eine wahre Wallfahrt von Ausflüglern,
die dem Zürichberg oder Uetliberg zustreben, oder auch nur Strassenpromenaden machen.
Die Strasse ist eine der längsten von Gross-Zürich; sie geht unter den vereinigten Einfahrtslinien des Hauptbahnhofes hindurch
und führt hinüber zum Limmatplatz im Industriequartier, nördl. der Bahn. In der Nähe stehen die Johanneskirche und wiederum
mehrere grosse neue Schulhäuser. Industrielle Etablissemente grössten Stils sind in diesem Stadtteil
in Betrieb zu beiden Seiten des langen Doppelviaduktes, auf dem in weit auslegender Kurve die Bahnzüge von Oerlikon und vom
rechten Seeufer (aus dem Lettentunnel von Stadelhofen) her rasselnd das tiefere Bahnhofniveau gewinnen.
Dem linken Sihlufer entlang (Sihlquai) vermittelt das «Industriegeleise»,
ein bis fast zum Hauptbahnhof reichendes, dort blind endendes Gütergeleise, den Verkehr der grossen
Fabriken. Wir nennen die altrenommierte Maschinenfabrik von Escher-Wyss u. Cie., die Seifenfabrik Steinfels, die Aktienbrauerei,
die Stadtmühle etc. Am Sihlquai liegen auch die städtischen Filteranlagen für das Trinkwasser, und jenseits der Limmat
etwas weiter unten Pumpwerk und Elektrizitätswerk bei der Station Letten. An der ehemaligen Gasanstalt
vorbei, die jetzt für Truppenunterbringung (Kavallerie) im Mobilisierungsfalle eingerichtet ist, gelangen wir ausserhalb
des Viaduktes zur neu verbreiterten Wipkingerbrücke, mit hübschem Blick limmatthalabwärts und auf das lieblich an den
Käferbergabhang lehnende Dorf Höngg. Mit dem rechten Limmatufer betreten wir
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