Bald aber stellte sich ein
Leiden
[* 7] ein, das ihn an die
Stube fesselte, und hier ergänzte er durch fleißige
Lektüre seine Kenntnisse, hier regte sich auch seine dichterische Begabung. Er schrieb: Reiseerinnerungen von
Mayer«, vorwiegend
novellistische
Bilder vom
Torf- und Stadtleben im Elsaß, sehr hübsch und heiter, wenn auch zuweilen etwas breit erzählt,
der
Ausdruck einer wahrhaft liebenswürdigen, gemütvollen und gütigen
Natur. Mit besonders feinem und
wohlwollendem
Humor sind ihm die Schilderungen der elsässischen
Juden geraten, zu denen er sich als vornehmer und vorurteilsfreier
.Humanist stellt.
Ebenso war auch die Anzahl der fleckenfreien
Tage vom Anfang des
Jahres 18l1 in stetiger Abnahme begriffen
und wurde schon im April gleich
Null. Entsprechend dem
Gesetz, daß beim Wiedererwachen der Fleckenthätigkeit die
Flecke zuerst
in höhern
Breiten auftreten, zeigten sich in der ersten Hälfte 1891 die meisten
Flecke in den
Zo::en zwischen 20 und 30" heliographischer
Breite,
[* 14] doch lagen 22
Gruppen zwischen 10 und 20^, und 4 davon hatten weniger als 15"
Breite. Übrigens
traten die
Flecke häufiger auf der nördlichen
Halbkugel auf (40
Gruppen) als auf der südlichen (25
Gruppen).
Auch in der Fackelentwickelung gibt sich die neuerwachte Sonnenthätigkeit kund. Während nach den
LyonerBeobachtungen die
gesamte Fackelfläche im I. 1890 nur 103,3 Milliontel der
Hemisphäre betrug, erreichte sie in..der ersten
Hälfte 1891 schon den Wert von 126,3. Übrigens waren die
Fackeln fast gleich zahlreich in beiden
Hemisphären, während 1890
die
nördliche
Hemisphäre beträchtlich mehr aufwies. Die
Zonen von 20-30"
Breite waren am fackelreichsten, fast ebenso viele
Fackeln fanden sich aber zwischen 10 und 20", nur wenige dagegen zwischen 0 und 10". Eigentümliche rotierende
Bewegungen sind
im
August 1890 von
Maunder in
Greenwich an einer schönen Fleckengruppe beobachtet worden, die er durch drei
Rotationen der S.
verfolgen konnte.
Bei der zweiten
Rotation erschien dieselbe 25. Aug. am Ostrande der S., am 27. bestand sie aus einem vorangehenden
Fleckcnvaar, dem ein
Haufe kleinerer blasser
Flecke folgte, und den
Schluß bildete ein großer
Fleck mit sehr dunkeln, in zwei
Gruppen verteilten
Kernen. Der
Haufe kleiner
Flecke hatte sich am 28. in eine Anzahl gut! entwickelter verwandelt, deren größter
zwei große^ dunkle
Kerne enthielt. In der Zeit vom 27. Aug. bis 1. Sept. führten nun die drei Kernpaare der
vorangehenden
Flecke des großen mittlern und dem ! vorangehenden
Flecke und der mittlere zusammen^ geflossen waren; auch
die beiden
Kerne des folgenden!
Fleckes berührten sich an diesem
Tage, waren aber! nachher wieder durch
Lichtbrücken getrennt. Diese^
Bewegungen entsprachen der
Neigung der
Flecke, sich! geradlinig parallel dem
Äquator der S.
anzuordnen. ! Cortin hat über spektroskopische
Beobachtungen von
Sonnenflecken berichtet, die 1883! bis 1889 auf der
Sternwarte
von
Stonyhurst angel stellt worden sind, und welche deshalb ein besonderes
Interesse darbieten, weil dieselben
sich einesteils auf die
Periode starker Sonnenthätigkeit von 1882-86,! andernteils auf die darauf folgende ruhige
Periode^
geringster Thätigkeit beziehen.
Sie erstreckten fich auf den Teil des
Spektrums zwischen den
Fraunhoferschen Linien N und I), also von der Wellenlänge 68'),
? /,." (Milliontel-
Millimeter) bis 589 , ,/,, und auf 90
Flecke. Die dunkeln
Linien im
Spektrum eines
Fleckes
sind im allgemeinen breiter als im ge! wohnlichen Sonnenspektrum, eine
Folge der stärkern!
Absorption in den kühlern und
dichtern
Dämpfen,! durch welche das
Licht
[* 15] in den
Flecken geht. Die allgemeine, von einem
Sonnenfleck verursachte
Absorption ist
in den verschiedenen Teilen des
Spektrums verschieden stark und manchmal am roten Ende so bedeutend, daß
die
Linien verschwinden.
Von den 53, Eisenlinien der untersuchten
Region wurde während! der
Periode lebhafter Sonnenthätigkeit nur eine einzige mehr
als die Hälfte, aber weniger als ihre ganze'
Breite verbreitert, während in der Ruheperiode bei! einer größern Anzahl
Eisenlinien eine solche V^'r^ breiterung beobachtet wurde; mehr als das
Doppelte der normalen
Breite erreichten
in der unruhigen
Periode nur 3, in der ruhigen aber 14
Linien. Ein ähn- liches
Resultat hat auch
Lockyer schon 1880 erhalten.
^ Übrigens ist nach Cortie die Verbreiterung der Eisenlinien verschieden in verschiedenen
Flecken und
auch zu verschiedenen
Zeiten bei demselben
Fleck.
Von 11^ Titanlinien waren 7 auf mehr als das
Doppelte ver^ breitert, sowohl in der Thätigkeits- als in der Ruheperiode; bei
den Calciumlinien war die Verbreite rung etwas stärker zur Zeit geringer Sonnenthätig' keit, die Natriumlinien wurden in der
Maximumperiode, besonders in großen
Flecken stark verbreitert.
Ferner traten in der Maximumperiode, bei
großen
Flecken aber auch in der Minimumperiode eine große Anzahl feiner
Linien auf, welche
Angström nicht angegeben hat.
¶
forlaufend
848
Unter den in der letzten Zeit beobachteten Protubera uzen befinden sich einige durch ihre Hohe und die Geschwindigkeit des
Emporsteigens bemerkenswerte. Eine solche wurde 6. Okt. 15 90 bald nach 1 Uhr
[* 17] von Fenyi in Kalocsa beobachtet. IhreBasis reichte
auf der südlichen Halbkugel von 30" 21'-20" 13' Breite. Anfangs waren dort nur zwei kleine Flammen sichtbar,
aber schon um 1 Uhr hatte die Protuberanz 53" (38,000 km) und um 1 Uhr 49 Min. 327" (235,000 km) Höhe. Die Bewegung des Aufsteigens
war eine beschleunigte bis zur Höhe von 204" (147,000 km), wo die mittlere Geschwindigkeit ^75,5 kni in der Sekunde
betrug.
Wahrscheinlich infolge der schnellen Auflösung in der Höhe nahm die Geschwindigkeit von da ab. Um 1 Uhr 5) Min. begann die Protuberanz
zu verschwinden, und wenige Minuten später erblickte man an. ihrem Orte nur die gewöhnliche Chromosphäre. Ähnliche merkwürdige
Erscheinungen wurden beobachtet. Um 10 Uhr 16 Min. Pariser Zeit bemerkte Trouvelot in Nizza
[* 18] am
Westrande der S. einen 3" umfassenden Fleck, der heller war als die hellsten Fackeln, aber nicht von weißer, sondern von gelblicher
Farbe.
Einige Minuten später erschien nördlich davon eine schmale Fackel von 5-6" Länge von ähnlicher Färbung, aber etwas weniger
hell, an deren innerem Rande einige schwarze Punkte auftraten, wie sie oft am Rande von Fackeln in der Nähe
des Sonnenrandes gesehen werden. Nachdem Trouvelot diese Erscheinung 2-3 Minuten lang beobachtet hatte, brachte er das Spektroskop
[* 19] am Fernrohr
[* 20] an, und nun erblickte er in 286-292" vom höchsten Punkte der S. entfernt ein vulkanisches
Zentrum, von dem außerordentlich helle Bomben bis zu 2-3'(86,000-130,0l 0 km) Höhe über die Chromosphäre aufstiegen, wo sie
gleich leuchtenden Kugeln schweben blieben; der helle Fleck war inzwischen verschwunden.
Die aufsteigenden Kugeln gingen später in zahlreiche glänzende Fäden über. Um 10 Uhr 24 Min. erreichten die längsten Strahlen
eine Höhe von 5' 24" (234.000 km). Mittags war die Eruption weniger heftig, aber am Vornnttag des 18. Juni wurden wieder Ausbrüche
beobachtet, deren Heftigkeit bald zu-, bald abnahm; bei zunehmender Thätigkeit stiegen die Strahlen parallel empor, um in der
Höhe umzubiegen und dann wieder zur S. zurückzukehren. Um 2 Uhr 25 Min. nachmittags war alles vorüber.
Fenyi in Kalocsa hat diese Eruptionen am Nachmittag des 17. Juni beobachtet. Um 5 Uhr 30 Min. Pariser Zeit erblickte er in 21" heliographischer
Breite eine in der Entwickelung befindliche Fleckengruppe tm Begriff, in 282" den westlichen Sonnenrand zu überschreiten, und
in dieser Gegend bildete eine glänzende, 18" (12,000 km) hohe Erhöhung den Sitz einer Eruption von außergewöhnlicher
Heftigkeit. Nach 4 Uhr 36 Min. erreichten die von dort aufgestiegenen Massen die Höhe von 109" (78,000 km). Einige Minuten vor 6 Uhr
erhob sich dort eine Ptasse von 111" (80,000 km) vertikaler Ausdehnung
[* 21] mit einer Geschwindigkeit, welche
Fenyi im Mittel zu 485 km in der Sekunde schätzt (gemessen wurden Geschwindigkeiten von 797 und 890 km),
bis zu der Höhe von
256," (242,000 km) empor, und aus der Verschiebung der Spektrallinien gegen das blaue Ende des Spektrums fand Fenyi für die
Bewegung der Protuberanzmassen in der Richtung zur Erde die Werte von 337 km (bei einer Gipfelhöhe von 182,?"
oder 132,000 km) und 449 km (Gipfelhöhe 256,9") in der Sekunde. Außerdem besaß diese Masse auch in meridionaler Richtung
eine Geschwindigkeit, welche Fenyi, allerdings sehr unsicher, auf etwa 100 Km in der
Sekunde schätzt.
Ohne Berücksichtigung dieser letztern ergibt sich durch Vereinigung der beiden ersten eine Resultante
von 1014 km in der Sekunde. Aus der Größe dieses Wertes zieht Fenyi den Schluß, daß Teile der Protuberanzen in den Weltraum
hinausgeschleudert werden, die nicht wieder zur S. zurückkehren. Diese »zrohen
Geschwindigkeiten können aber nicht bloß das Ergebnis vo:r Atombewegungen bei der Expansion von
Gasen sein, die der S. entströmen, vielmehr müssen wir zur Erklärung andre Kräfte, allem Anschein nach elektrische, zu Hilfe
nehmen. Auf solche Kräfte glaubt auch Fizeau die Erscheinung der Protuberanzen zurückführen zu müssen, weil der Wasserstoff
beim Erhitzen oder Verbrennen weder im verdünnten noch im verdichteten Zustande die charakteristischen
Linien zeigt, welche wir im Spektrum der Protuberanzen erblicken, welch letztere besonders durch das Vorherrschen der Linie (^
rosenrot gefärbt find; diese Linien erscheinen nur unterm Einfluß der Elektrizität.
[* 22] Damit im Einklang sind auch die raschen
Formänderungen in den Protuberanzen, die plötzlichen Wechsel des Glanzes, das bandartige, wellenförmige
Aussehen, die Absonderung gut begrenzter, von der S. losgetrennter Teile. Alles dieses beobachtet man in ähnlicher Weise auch
an den Polarlichtern. Bei den Bewegungen der Lichterscheinungen dürfen wir aber weder hier noch bei den Protuberanzen an eine
wirkliche Fortführung von materiellen Teilen denken, wir haben es vielmehr nach FizeausAnsicht, die hier
wesentlich von der Fenyis abweicht, lediglich mit einer allmählichen Fortpflanzung von elektrischen Lichterscheinungen in
Gasmassen (Wasserstoff) zu thun, die übrigens ihre eignen, ganz selbständigen Bewegungen haben können. Vielleicht verbreiten
über diesen Punkt einmal nach ihren: Abschluß die Untersuchungen ein neues Licht, welche Goldstein in Berlin
[* 23] unternommen hat.
Die bisherigen Ergebnisse derselben und gewisse von Herz gewonnene Resultate drängen nämlich zu dem Schlüsse,
daß die Lichterscheinungen der elektrischen Entladung nicht notwendig Träger
[* 24] der Entladung selbst, sondern nur ein durch
die Entladung ausgelöstes Phänomen sind, das sich den bisher schon bekannten Agenzien neu zur Seite stellt. Sollte sich
diese Vermutung bestätigen, so brauchten auch kosmische Phänomene, die uns unter den leuchtenden Erscheinungsformen
der elek' irischen Entladung entgegentreten, nicht notwendig durch elektrische Prozesse bedingt zu sein. Zu den Beobachtungen
der großen Protuberanz vom 17. Juni durch Fenyi ist noch zu bemerken, daß letzterer am 1. Juli, als dieselbe Stelle der S.
wieder am Ostrande erschien, dort wieder lebhafte Thätigkeit und ein Protuberanz von mäßiger Höhe bemerkt hat. Es scheint
also dort längere Zeit hindurch ein Herd eruptiver Thätigkeit bestanden zu haben. Einen ähnlichen gelben Fleck, heller als
die gleichzeitig auftretenden Fackeln, wie ihn Trouvelot 17. Juni bemerkt, hat auch in BerlinMaas am rechten
Rande der ^.^. wahrgenommen, als er um 5 Uhr 20 Min. nachmittags das Bild der S. bei 90facher Vergrößerung auf einen
weißen Schirm projizierte. Bei Anwendung 180facher Vergrößerung zeigte sich derselbe zusammengesetzt aus einer großen
Anzahl von hellen gelben Linien und Punkten, welche gleichmäßig hell blieben, aber durch Veränderung
ihrer gegenseitigen Lage bedeutende Schwankungen in der Gestalt und Helligkeit des Fleckes verursachten. Am 3. Aug. gegen 5 Uhr
waren an derselben Stelle nur noch Fackeln sichtbar, auch schien die
¶
mehr
Bewegung in den Granulationen der Oberfläche der S. ungewöhnlich stark zu sein.
Die Frage nach dem Ursprunge der Festfeuer, die an bestimmten Tagen des Jahreslaufes in einem großen
Teile des mittlern und nördlichen Europa,
[* 26] und namentlich dort, wo sich das Volksleben in größerer Ursprünglichkeit erhalten
hat, wie z.B. in den Alpenländern, von den Bergspitzen leuchten, ist in den letzten Jahren lebhaft in
wissenschaftlichen Kreisen, die sich mit Volksbrauch und -Sage beschäftigen, erläutert worden. Auf der vorigen Versammlung
der deutschen Anthropologen in Münster
[* 27] (Herbst 1890) hatte Rackwitz eine Erhebung über die Grenzen
[* 28] der Oster- und Johannisfeuer
angeregt, von denen er meinte, daß sie sich mit uralten Volksgrenzen decken möchten. Es ließe sich
nämlich eine Linie durch Mitteldeutschland über Zerbst,
[* 29] Bernburg,
[* 30] Mansfeld, Sangerhausen,
[* 31] Kyffhäuser, Hainleite, Eichsfeld, Hülfensberg
bei Eschwege und Meißner ziehen, welche die südliche Grenze der Osterfeuer bezeichnet; die Völker südlich von dieser Linie
zündeten nur Johannisfeuer, die nördlich Wohnenden nur Osterfeuer an. Schon J. Grimm hatte in ähnlicher
Weise die mit der altbekannten Grenze zwischen fränkischem und sächsischem Volke zusammenfallende Verteilung angedeutet: Osterfeuer
kommen durch ganz Niedersachsen, Westfalen
[* 32] und Nieder-Hessen, Geldern, Holland, Friesland, Jütland und Seeland vor, während Süddeutschland,
mit Einschluß von Schlesien
[* 33] und Österreich,
[* 34] nur das Sonnenwend- oder Johannisfeuer kennt.
Aber Grimm fügte bereits die Einschränkung hinzu, daß einige Gegenden, wie Dänemark
[* 35] und Kärnten, beiden huldigen, und die
geographische oder nationale Eingrenzung wird noch zweifelhafter, wenn wir über Deutschland
[* 36] hinausgehen und erfahren, daß
der an die angeblichen Osterfeuerländer grenzende germanische Norden
[* 37] (England, Dänemark und Skandinavien) zwar beide Arten
von Festfeuern kennt, aber gleich den süddeutschen Ländern das Mittsommerfest bevorzugt.
Die Erklärung dieser Verschiedenheit liegt wahrscheinlich darin, daß Oster- wie Johannisfeuer nur die Überreste einer größern
Anzahl von Sonnenfestfeuern sind, mit denen man ehemals den Sonnenlauf an seinen vier bedeutsamsten Tagen (Winter- und Sommersonnenwende,
Frühlings- und Herbstnachtgleiche) feierte. Denn offenbar gehört das Weihnachts- oder Julfeuer geradezu
als das wichtigste in diesen Kreis,
[* 38] obwohl man es der Witterung wegen größtenteils nicht auf Bergen,
[* 39] sondern am häuslichen
Herde entzündete, wo nun der Julblock durch den brennenden Christbaum in Deutschland ziemlich verdrängt worden ist. Schon der
heil.
Augustin spielt aber auf den Gegensatz an, welchen die Heiden in die beiden Sonnenwendfeste legten: an dem
Tage, wo die Sonne abzunehmen beginne, sei Johannes der Täufer geboren, damit der Mensch erniedrigt werde, an jenem Tage aber,
wo die Tageslänge wieder zunehme, sei Christus geboren, damit Gott erhöhet werde. Wir wissen auch aus zuverlässigen Überlieferungen,
daß die heidnischen Iren das Jahr in vier Viertel (Rathas) teilten, deren jedes mit einem großen Freudenfeuer eröffnet wurde.
Jeder Ire hatte an diesem Tage sein Feuer am eignen Herde zu löschen, um neues von den Priestern zu erlangen. Der Erz-Druide (Ard-Draoi)
entzündete das Jahreszeitfeuer durch Holzquirlung auf dem HügelCarn Usnäch in der GrafschaftMeath, dem
»Lande der Mitte«, dort, wo die Gottheit dem Menschen das wohlthätige Element zuerst gespendet haben sollte,
und dieses Opferfeuer blieb für Irland bis in
späte Zeiten der geheiligte Mittelpunkt dieses Kultus. Von dort verbreitete man
das heilige Feuer schnell von Berg zu Berg, und binnen kurzem war ganz Irland erleuchtet. Die Zeremonien waren
ziemlich genau dieselben wie im gesamten nördlichen und mittlern Europa bis westlich nach Frankreich und östlich in die Slawenländer;
man tanzte um das Feuer, trieb das Vieh hindurch, sprang über die erlöschende Glut, entzündete Fackeln daran, mit denen man
durch Gärten und Felder lief, um sie fruchtbar zu machen; schließlich eignete sich jeder Hausvater einen
Brand oder Kohlen an, um sie als heilbringende Reliquie im Hause bis zum nächsten Feste aufzuheben.
Die Zurüstungen zu diesen Sonnenfestfeuern geschehen noch jetzt mit einer gewissen Feierlichkeit; im Gebirge liefert hier
und da jeder männliche Bewohner ein Scheit Holz
[* 40] zum Haufen, nur der »Schalke«,
[* 41] d. h. ein Bursche, der ein
Mädchen zu Falle gebracht hat, darf im selben Jahr nicht zum Oster- oder Johannisfeuer beisteuern; dann wird durch Quirlen
Wildfeuer gemacht, und eine Jungfrau steckt den Haufen in Brand, der vorher mit bestimmten Blumen geschmückt
wurde, die auch nachher ins Feuer geworfen wurden.
Aber ursprünglich handelte es sich, wie Mannhardt und Krause gezeigt haben, um einen Sonnenzauber, durch den man von der Sonne
fruchtbares Saaten- und Erntewetter, Minderung allzu starker Glut im Sommer, rechtzeitige Befreiung der im
Winter leidenden Sonne etc. zu erlangen hoffte. Darauf deuten namentlich auch die beim Frühlings- und Mittsommerfeuer als Sonnensymbole
dienenden glühenden Scheiben und brennenden Räder, die man teils emporwarf, teils von den Bergen ins Flußthal laufen ließ,
um ein gutes Weinjahr zu erzielen.
Mit dem Erlöschen des Glaubens un die durch die S. auf die Sonne ausgeübte Macht erloschen diese selbst, indessen wurde fast
überall eins derselben als Volksfest mit Feuerwerk in Gebrauch erhalten und es hängt von klimatischen Eigentümlichkeiten
ab, welches von den vier Hauptfeuerfesten beibehalten wurde. In Alt-Rom war es das Palilienfest (21. April), am
Geburtstage der Stadt Rom,
[* 48] durch dessen Feuer das Vieh vor dein Austreiben gesund gemacht wurde, in den Keltenländern das Vealtine-
oder Pfulfest (2. Mai), in Süddeutschland das Johannisfest, und der Unterschied von Norddeutschland, wo das Osterfeuer entzündet
wurde, erklärt sich sehr einfach dadurch, weil man in Süddeutschland schon am sogen. Funkensonntag, d. h.
am ersten Fastensonntag, das Frühlingsfeuerfest begeht und doch Ostern nicht schon wieder ein neues Feuerfest feiern kann.
Mit der Verschiedenheit der deutschen Stämme haben diese Verschiebungen nichts zu thun, so daß neuere Erhebungen kaum andre
als statistische Aufschlüsse versprechen.
¶
forlaufend
850
Über die Herkunft dieser Feuerfeste
[* 50] ist viel geschrieben worden, und da man nun aus der Vibel und andern Schriften von einem
assyrisch-phönikischen Baals- und Molochdienste wußte, bei dem einem metallenen, glühend gemachten Götzenbilde lebende
Kinder und erwachsene Menschen in den Rachen geworfen wurden, so hat man den Gebrauch der arischen Völker,
beim Frühlings- und Mittsommerfest durch das Feuer zu springen (z. V. auch am Feroniafeste am Sorakte bei Rom), in England, Skandinavien
und Deutschland bis in die neuesten Zeiten für eine semitische Entlehnung gehalten, und namentlich der Name des Vealtine in
den Keltenländern für das Frühlingsfest, sowie die Sitte, aus Eeflecht hergestellte und mit Laub umhüllte
Puppen darin zu verbrennen, als Überreste des Baals-und Molochdienstesm Suropa ausgeben wollen.
Liebrecht und Mannte ardt haben in diesem Sinne auf die Strohpuppen oder aus Weidengeflecht gefertigten Laubriesen hingewiesen,
die man noch heute in manchen Gegenden Österreichs und Süddeutschlands, namentlich aber in Frankreich
und Belgien,
[* 51] unter den Namen »Lotter«, »Engelmann«, inimii6Huw ä'o8iei', im Frühlingsseuer unter allgemeinem Freudengeschrei
verbrennt, in ihnen Erinnerungen an alte Menschenopfer sehen wollen und dabei auf die Nachrichten Cäsars, Strabons und Diodors
verwiesen, wonach die Gallier eine aus Holz und Laub geflochtene Niesenpuppe, in der sich lebende Menschen (Kriegsgefangene oder
Verbrecher) befanden, bei diesem S. verbrannt hatten.
Diese Nachrichten stammen größtenteils von Posidonius, und es wäre ja durchaus nicht unmöglich, daß die Phöniker, die
in Gallien große Handelsstädte und Kolonien angelegt hatten, ihren Baalsdienst dahin verpflanzt hätten. Allein anderseits
erinnern diese Puppen so lebhaft an die römischen Vinsenmänner und die germanischen Strohpuppen, die
man als Bilder des Winter- und Krankheitsdämons ins Frühlingsfeuer oder bei Dürre ins Wasser warf (auch lebende, in Laub eingehüllte
»Regenmädchen« oder Wasservögel wurden zu letzterm Zwecke verwendet), daß man wohl glauben kann, die alten Berichte über
die Baalsopfer der Gallier beruhten auf bloßen Mißverständnissen oder Entstellungen.
Krause hat überdem nachzuweisen versucht, daß diese Verbindung des Feuer- und Sonnenkultes eine spezifisch nordeuropäische
und arische Sitte sei, die in warmen Ländern keinen Sinn hat, und in Indien, wo die Notfeuer gegen Viehsterben geradeso in Szene
gesetzt wurden, wie noch vor kurzem in England, Sachsen
[* 52] oder Mecklenburg,
[* 53] von den einwandernden Ariern aus
Norden mitgebracht wurde, und daß das religiöse Symbol des Svastika-Zeichens (Bd. 17, S. 783), welches sich im besondern
auf diesen in den Jahreszeitenfeuern zum Ausdruck kommenden Ideenkreis bezieht, ein ausschließlich arisches, niemals in semitischen
Ländern vorkommendes Symbol ist.
Ferner ist anzuführen, daß der Grund, aus welchem der Semit seine Vaalsopfer brachte, himmelweit verschieden
ist von dem Grunde, aus welchem der Arier durchs Feuer sprang, oder sein Kind dreimal durch das Herdfeuer reichte. Wenn ersterer
seine Erstgeburt dem Moloch opferte, oder sein Kind, wie die Bibel
[* 54] es ausdrückt, »durchs Feuer gehen ließ«, so geschah das aus
niederm Egoismus, um sein Leben 'mit dem Leben des eignen Kindes zu bezahlen, sich selbst aber von Krankheit
und Tod loszukaufen, während der Arier nur an die reinigende, gesundund fruchtbar machende Kraft
[* 55] der heiligen Flamme
[* 56] dachte.
Aus dem Pönitenzial des ErzbischofsTheodor von Canterbury er schen
wir, daß die englischen Frauen nochim7.Jahrh.
ihre Kinder dreimal durchs Feuer zogen, um sie gesund zu machen, und das ist die noch aus spätern Zeiten bezeugte altarische
Sitte, auf welcher die Sage von der Thetis beruht, die ihren eignen Sohn (Achill) ins Feuer hielt, um ihn unverwundbar zu machen,
und die von der Demeter,
[* 57] die zu ähnlichem Zwecke den kleinen Sohn des Keleos ins Feuer hielt. So springt
beim Vealtine- wie beim Johannisfest der junge Bursche mit der Auserwählten seines Herzens gemeinsam durchs Feuer, und die zusammen
diesen Sprung gewagt hatten, hielten sich für feierlich verbunden.
Ein größerer Gegensatz, als er zwischen dieser Auffassung und dem semitischen Vaalsopfer besteht, ist
daher überhaupt undenkbar.
Vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte (Verl. 1875-77), und Krause, Tuiskoland (Glog. 1891), worin MannhardtsAnsichten über den semitischen Ursprung dieser Feuerfeste bekämpft worden. Sonnenzauber, f. Sonnenfest feuer. Sonntagsruhe.
In Ungarn wardie Sonnt agsarbeit bis jetzt gesetzlich nur insoweit beschränkt, »als
dies aus religiösen Gründen als geboten erschien. ! Das Gesetz über die Gegenseitigkeit der christlichen
Glaubensgenossenschaften untersagte jede öffentliche und nicht unvermeidliche Sonntagsarbeit, wenn durch sie die Heiligung
des Sonntags gestört werde. Alle übrigen gewerblichen Arbeiten, insbesondere solche im Innern von Fabriken und Werkstätten,
waren gestattet; nur durch das revidierte Gewerbegesetz von 1884 wurde der Gewerbtreibende verpflichtet,
dem Gehilfen dazu Zeit Zu lassen, daß er anFeiertagen seiner Religion dem Gottesdienst beiwohnen könne. Nachdem nun schon vor
längerer Zeit das Abgeordnetenhaus an die Regierung die Aufforderung gerichtet hatte, mit Rücksicht darauf, daß die S. sowohl
zur Aufrechterhaltung der körperlichen Kraft als zur Entwickelung des Geistes, zur Pflege der sittlich-religiösen
Gefühle und zur Festigung der Bande des Familienlebens notwendig sei, dem Hause ! einen Gesetzentwurf über die S. vorzulegen,
erfolgte 1890 eine dahingehende Vorlage, welche mit einigen Abänderungen angenommen und als Gesetz veröffentlicht
wurde. Nach dem neuen Gesetz, welches in Kraft getreten ist, hat an Sonntagen sowie am Tage König
Stephans des Heiligen, als einem Nationalfeiertage, die gewerbliche Arbeit zu ruhen. Der Geltungsbereich des Gesetzes erstreckt
sich auf Gewerbe, Handel und Verkehr, nicht aber auch auf die Landwirtschaft. Dann bildet eine Ausnahme von der gesetzlichen
Beschränkung die zur Reinhaltung und Instandhaltung der Geschäftslokalitäten und Einrichtungen erforderliche
Arbeit. Die gewerbliche Arbeitsrühe beginnt spätestens j Sonntag um 6 Uhr früh und dauert 24 Stunden von ihrem Beginne
gerechnet, allein mindestens bis 6 Uhr des auf den Ruhetag folgenden Morgens. So kann ! leicht durch Nachtarbeit vom Sonnabend
auf Sonn! tag die S. ihre Bedeutung verlieren. Der Handelsminister wurde ermächtigt, im eignen Wirkungskreise
im Verordnungswege 1) jene Kategorien von Gewerben zu bestimmen, bei denen aus dem Grunde, weil eine Unterbrechung des Betriebes
unthunlich ist, oder weil der ununterbrochene Betrieb im Hinblick auf die Bedürfnisse des konsumierenden Publikums oder des
öffentlichen Verkehrs, im Hinblick arn strategische oder sonstige öffentliche Interessen, insbesondere
aus gewerblichen Rücksichten unbedingt erforderlich ist, die gewerbliche Arbeit auch an den im^ 1 des Gesetzes bezeichneten
Ruhetagen zu verrichten
¶
forlaufend
851
gestattet sein wird;
2) jene Modalitäten festzustellen, I unter welchen Kleingemerbtreibende, die allein, ohne Inanspruchnahme von Gehilfen und
Lehrlingen, in ihrer Wohnung arbeiten, von der Ardeitsruhe befreit werden tonnen. Durch Verordnung vom wurde diese
Befreiung allen selbständigen Kleingcirerbtreibenden Zugestanden;dai:nwurdedie Sonntagsarbeit in 53 großen Gruppen von Gewerbebetrieben
aus den im Gesetz genannten Gründen zugelassen. Nach dem Gesetz sollen in diesen Gewerben die Ge- > werbtreibenden für eine
derartige Ablösungder be- i schäftigten Arbeiter sorgen, daß die Arbeiter minde- ^ siens in jedem Monat einen ganzen, oder
alle zwei Wochen einen halben Sonntag Arbeitsruhe genießen. ! Es ist nicht anzunehmen, daß'mit dieser
Bestimmung ! den Wünschen derjenigen genügt werde, welche den Erlaß eines Gesetzes über die S. erstrebt haben.
Denn das Gesetz gilt überhaupt nur für einen Bruch- ^ teil der ungarischen Arbeiter, und von diesem ist be- > reito der
größte Teil durch die neue Verordnung wieder ausgenommen worden. Weiter bestimmt das neue Gesetz, daß
in betreff der Bergwerks-und Hütten-! betriebe, der staatlichen Münze sowie der Staatsmonopole und der mit denselben verbundenen
Unternehmungen der Finanzminister auf dem Wege der Verordnung die Sonntagsarbeit innerhalb der oben angeführten Grenzen als
zulässig erklären könne.
Von dieser Ermächtigung hat der Minister bereits in einer Verordnung vom Gebrauch gemacht. ^^
, Vergehen gegen das Gesetz werden als Über-, tretungen mir einer Geldstrafe von 1-300 Gulden , bedroht, eine Strafsumme, welche
als nicht ausrei- < chend erklärt wurde, weil dieselbe von Verstößen gegen das Gesetz nicht abhalten würde, so
oft solche nur einen genügenden finanziellen Vorteil in Aussicht stellten. Dann wurde bei den über den Gesetzentwurf gepflogenen
Beratungen beanstandet, daß die Entscheidung über die Gesetzesverletzung nicht dem Richter, sondern der Verwaltungsbehörde
zugewiesen sei. Damit würden solche Verletzungen um so mehr erleichtert, als es in Nngarn an der erforderlichen Zahl
von Organen zur Beaufsichtigung der Gewerbe fehle.
Über die Regelung der Sonn- und Festtagsarbeit in Deutschland s. Arbeitsschutzgesetzgebung, S. 37. Sozialdemokratin Das
Sozialistengesetz vom 31. Okt. 1878 (s. Sozialdemokratie, Bd. 15) war als Ausnahmegesetznur für eine bestimmte Zeitdauer
erlassen und 1888 zum letztenmal bis verlängert worden. Von diesem Tage ab war es außer Kraft getreten. Infolgedessen
entwickelte sich unter den Sozialdemokraten Deutschlands
[* 60] alsbald eine rührige und erfolgreiche offene Agitation.
Oktober 1890 wurde ein Parteitag in Halle
[* 61] abgehalten, auf welchem die Organisationder Parteifestgestelltwurde. Hierauf wurde
eine Revision des Parteiprogram m s in Angriff genommen. Dasselbe enthielt nach der 1875 in Gotha
[* 62] festgestellten
Fassung, welche ein Ergebnis der Vereinigung der damaligen beiden sozialistischen Parteien, des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
(Lassalleaner) und der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (spottweise EisenacherPartei der Ehrlichen genannt), gewesen war,
mehrere Zugeständnisse an die La^sallesche Richtung, welche den Strömungen und Entwickelungen der Neuzeit
nicht mehr entsprachen: so das Verlangen nach einer gerechten Verteilung des Arbeitsertrags, die Bemertling, daß die sozialistische
Arbeiterpartei zunächst im nationalen Rahmen wirke,
insbesondere aber die Forderung der Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften
mit Staatshilfe, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen.
Marx hatte das'damalige Programm einer scharfen Kritik unterzogen, welche 1891 in der »Neuen Zeit« veröffentlicht
wurde. In derselben Zeitschrift wurde auch ein von Kautsky verfaßter neuer Entwurf mitgeteilt, welcher zu lebhaften und eingehenden
Besprechungen in der Parteipresse Veranlassung gab. Nachdem von verschiedenen Seiten her Anschauungen kundgegeben und Vorschläge
gemacht worden waren, wurde im Oktober 1891 ein zweiter Parteitag in Erfurt
[* 63] abgehalten und auf demselben
ein neues Programm vereinbart.
Dasselbe bringt in einer Einleitung die allgemeinen Grundsätze, von welchen ausgehend die sozialdemokratische ParteiDeutschlands
eine Reihe von Forderungen stellt, welche noch auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung verwirklicht werden sollen.
In der Einleitung wird bemerkt, die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führe mit
Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln
bilde.
Sie trenne den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandle ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel
das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern würden. Der
Übergang zum Großbetrieb und zur Anhäufung des Kapitals in wenigen Händen werde ganz besonders durch die Entwickelung der
Technik und d^r Verkehrsmittel begünstigt. Damit werde aber immer größer die Zahl der Proletarier, immer massenhafter
die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten,
es würden die Krisen immer umfangreicher und verheerender, damit aber wachse die Unsicherheit der Existenz für die Masse der
Gesellschaft, nehme Elend, Druck und Not zu. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund
und Boden, Gruben und Bergwerken, , Rohstoffen, Werkzeugen, Maschinen, Verkehrsmitteln) in gesellschaftliches Eigentum und
die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion könne es bewirken,
daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten
Klaffen aus einer Quelle
[* 64] dco Elendes und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer
Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeute die Befreiung nicht bloß der Ard iterklasse, sondern der gesamten Menschheit,
welche unter den heutigen Zuständen leide. Nun seien aber die Interessen der Arbeiterklasse in allen Ländern mit kapitalistischer
Produktionsweise die gleichen. Die Befreiung der Arbeiterklasse sei darum ein Werk, an dem die Arbeiter aller
Kulturländer gleichmäßig beteiligt seien. In dieser Erkenntnis fühle und erkläre die sozialdemokratische ParteiDeutschlands
sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller Länder. Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert sie zunächst: I) Allgemeines
gleiches und direktes Wahl- und Stimmrecht mit gl'heiincr Stimmabgabe aller ülnr 20 Jahre alten Neichsangehürigen ohne Unterschied
des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proftortional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung
gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungspcriodcn. Vornahme derWahlen 54'
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4) Abschaffung aller Gesel'.e, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken
oder unterdrücken.
5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und ftrivatrechtlicher Beziehung dein Manne
unterordnen.
6) Erklärung der Religion zur Privatfache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen nnd religiösen
Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten
vollkommen selbständig ordnen.
9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit
der Totenbcstattuug. 10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben,
soweit diese durch 3teucrn zu decken sind. Selbsteinschätzuugspfticht. Erbschaftssteuer, '"tufenweise steigend nach
Umfang des Erbautes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischcn
Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.
1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutz« gesctzgebnng auf folgender Grundlage: a) Festsetzung
eines höchstens8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; d) Verbot der Grwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; e) Verbot
der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen
Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; cl) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden
Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.
2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch
ein Neichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.
3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung
der Geimdeordnungen.
4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.
5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter
an der Verwaltung. Über die Vertretung der S. im deutschen Reichstag vgl. den Art. Volksvertretung. Während von der Gesamtzahl
aller Stimmen diejenigen, welche auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen
Prozentsatz ausmachten,
stellte sich 1690 der Anteil bereits nahezu auf ein Fünftel. Bei der ersten ordentlichen Wahl wurden für
die S. abgegeben: 1871 1874 ! 1877 ^^ 1878 ^^ 1881 ^^ 1884 s 1887^ 1890 1000 Stimmen Proz. der Gesamtzahl . 124,? 3,02 352,0
»493,3 6,78 9,14 437,1
312,u 550,0 ',59 6,12 9,68 763,1
10,ii 1427.3 19,74 lGinnalimen, Ausgaben.^ Nach dem von der Parteileitung der deutschen S. 1891 in Erfurt
mitgeteilten Bericht hatte die Partei in der Zeit vom 1. Okt. )890 bis im ganzen eingenommen: 223,867 Mk., darunter
168,845 Mk. an freiwilligen Beiträgen, 5691 Mk. au Zinsen, 9352 Mk. als Rückzahlung von Darlehen und 38,909
Mk. als Überschuß des Parteiorgaus «Vorwärts«.
Die Ausgaben waren in dieser Zeit: 134,950 Mk. Dann wurden verwandt für Unterstützungen an Personen oder Angehörige von Personen,
welche infolge ihrer Parteithätigkeit geschädigt oder gemaßregelt wurden, 10,749 Mk., Prozeß- und Gefängniskosten 5987 Mk.,
für die Wahlagitation 8447 Mk., für die allgemeine Agitation 31,480 Mk., worin auch die Beihilfen inbegriffen
sind, welche notleidende Lokalblätter aus der Parteikasse erhielten. Außerdem wurden Zuschüsse gewährt für die für
die polnischen Landesteile berechnete " (^26tk Kodotuic^« 2776 Mk. und
für die »Elsaß-Lothringische Volkszeitung« 16,603 Mk. Die Ausgaben für den Reichstag stellten sich auf 15,707 Mk. Seither
waren den Reichstagsabgeordneten für den Aufenthalt in Berlin täglich 5 Mk. gewahrt worden. Dieser Satz
wurde, weil er zu niedrig sei, auf6Mk. erhöht. Außerdem wurden an Wohnungsgeld für die Abgeordneten, welche eine besondere
Wohnung zu nehmen gezwungen sind, monatlich 25 Mk. bewilligt. Fraktionsmitglieder, welche ein
eignes Geschäft haben und in demselben geschädigt werden, erhalten täglich9 Mk.
statt 6 Mk. In Berlin oder dessen nächster Umgebung wohnende Fraktionsmitglieder erhalten für den Tag, an welchem sie einer
Sitzung beiwohnen,3 Mk., und wenn sie geschäftlich geschädigt werden, 6 Mk. Eine Anzahl besser gestellter Fraktionsmitglieder
verzichtet auf Entschädigung. Diäten werden nur für die Tage der Anwesenheit in Berlin und die Reisetage
bezahlt. Die Verwaltungsausgaben beliefen sich auf 16,852 Mk. Dieselben enthalten die Umzugskosten
der Sekretäre, die Einrichtungskosten des Bureaus, die Ausgaben für Miete 2c., ferner die Kosten für zwei Telephone und die
Ausgaben für die Konferenzen der gesamten Parteileitung und die Gehalts der Vorstandsmitglieder. An Gehalt werden monatlich
gezahlt: für zwei Sekretäre je 25s) Mk., für einen Hilfssekretär 120 Mk., für den Kassierer 150 Mk., für die beiden Vorsitzenden
je 50 Mk. Auf Gesamtbeschluß des Vorstandes ist )^s Mitglied verpflichtet, den ihm bestimmten Gehalt anzunehmen, doch ist
ihm unbenommen, in Form freiwilliger Beiträge an die Kasse ganz oder teilweise auf denselben zu verzichten,
wovon Gebrauch gemacht wurde.
Darlehen wurden gewährt im Betrage von 25,562 Mk. Unter denselben befinden sich 8000 Mk.
Kautionsleistungen für verhaftet gewesene Parteigenossen, 4000 Mk. für eine Hypothek auf eiu früher der Partei gehöriges
Grundstück, die inzwischen wieder zurückgezahlt wurden, ferner 6000 Mk. an verschiedene in augenblickliche
Notlage gekommene Lokalblätter. l Partciprefse.i Die sozialdemokratische Presse
[* 66] hat, nachdem das Sozialistengesetz außer
Kraft getreten, einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlaß dieses Gesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter
und 1 illustriertes Unterhaltungsblatt, die wöchentlich in IV2 Bogen
[* 67] Umfang erschienene »Neue Welt«. Parteiorgan warderin Leipzig
[* 68] herausgegebene »Vorwärts« (an Stelle des frühern »Volksstaat«). Eine wissenschaftliche Zeitschrift der Partei erschien halbmonatlich
unter dem Titel: »Die Zukunft
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