Sitz der
Gesellschaft (§ 4) ist
Berlin.
[* 2] Sie wird vertreten (§ 5) durch die jährlich im
Oktober zusammentretende
Generalversammlung
und das von dieser alle drei Jahre neugewählte Kuratorium, das seinerseits in Vorstand, Redaktions-
und Finanzausschuß sich gliedert (§ 6-7). Die Mitgliedschaft (§ 8-9) wird erworben durch einmaligen Beitrag von 100
Mark
oder jährlichen von 5 Mk. Die vom Redaktionsausschuß beschlossenen Veröffentlichungen (§ 13)
erscheinen unter dem
Titel:
»MonumentaGermaniae paedagogica« oder, wenn sie von zu geringemUmfang sind,
um selbständig aufzutreten, in den »Mitteilungen der
Gesellschaft 2c.« Diese sollen in zwanglosen Heften jährlich 2-4 mal
erscheinen.
Sie werden enthalten: Ergänzungen zu den einzelnen
Bänden der
»Monumenta«,
Berichte über den
Stand der
Arbeiten und sonstigen
Vereinsangelegenheiten,
Urkunden,
Regesten, Übersichten verschiedener Art, Anfragen der Mitglieder, Aufrufe u. dgl.
Jedes Mitglied erhält (§ 14): a) unentgeltlich die »Mitteilungen
der
Gesellschaft 2c.«; b) das
Recht, die sonstigen Veröffentlichungen der
Gesellschaft zu drei
Vierteln des Ladenpreises unmittelbar
vom Vorstand zu beziehen.
Der provisorische Vorstand der
Gesellschaft besteht aus dem Vorsitzenden:
Geheimen Oberregierungsrat Höpfner
(Kultusministerium),
dessen Stellvertreter: fürstbischöflichen
Delegat und
Propst zu St.
Hedwig, Jahnel, den beiden
Schriftführern:
Kehrbach und Stadtschulinspektor
Fischer, dem
Kassierer: Seminaroberlehrer
Fechner, sämtlich zu
Berlin. Als erstes Lebenszeichen
hat dieser Vorstand der 41. Versammlung der deutschen Philologen und Schulmänner zu
München
[* 3] 1891 ein Probeheft der »Mitteilungen
2c.« gewidmet, das, nicht am wenigsten wegen der regen Beteiligung süddeutscher
Kräfte an einem Unternehmen,
dessen
Mittelpunkt und Leitung in
Berlin liegt, die besten Aussichten auch für diese kleinern Mitteilungen der
Gesellschaft
erweckt. Ein zweites Heft ist inzwischen gefolgt.
[* 4]GemeindeninPiemont.Durch hohe Gebirgskämme vom deutschen Stammland getrennt und teilweise wenigstens völlig
von fremdsprachlichen
Bevölkerungen umgeben, finden sich deutsche Sprachhalbinseln und
-Inseln im Quellgebiete
des
Tagliamento und
Piave unter den
Furlanern, zwischen
Brenta und
Etsch im italienischen Südtirol und in
Venetien, am
AverserRhein, am
Hinterrhein, im
Vorderrhein- und Valserthal unter den
Räto-RomanenGraubündens, im tessinischen Maggiagebiet und endlich
in
Piemont. Die
Gemeinden, in denen hier die
deutsche Sprache noch gesprochen wird oder doch erst vor kurzem
verschwand, sind Pommat oder Formaz Za im obern Tosathal, etwas südlich davon Saley oder Salechio am westlichen Thalgehänge
der
Tosa,
Ager oder Agaro an einem Nebenbach der zur
Tosa
fließenden
Devexa, Preßmilch oder Premosello,
Die letzten dieser
Stämme, die Rätier, strömten der
Save und
Donau entlang ins Alpengebiet ein und verbreiteten sich darin
nach W. und S. Den westlichsten
Punkt ihres Vordringens bezeichnet wahrscheinlich der
Ort Pfyn (ad fines),
zwischen
Siders und
Lenk im Rhônethal. Im N. dehnten sie sich aus bis an den
Bodensee, wo im Thurgau
der
Name Pfyn wiederholt vorkommt,
und bis an die
Bayrischen Alpen, im S. bis zur LombardischenEbene und im O. bis ins Quellgebiet der Dräu.
Durch die ihren Stammesgenossen völlig entfremdeten
Römer
[* 7] wurden die Alpenthäler in grausamster
Weise entvölkert, der kleine
in der
Heimat erhaltene Rest rasch romanisiert; in den heutigen
Räto-Romanen sehen wir die letzten Überbleibsel dieser ältesten
Alpenbewohner. Zur Zeit der
Völkerwanderung zogen in die nordwestlichen Alpenthäler
Alemannen und
Burgunder
ein, welche später ihre
Sprache
[* 8] von Wallis
aus nach O. bis in die Gegend des
Arlbergs vorschoben.
In den meisten Gegenden aber, in denen deutsches
Wesen auf seit alters allgemein eingebürgerte römische
Kultur stieß, vor
allem im S. der
Alpen
[* 9] und in ihren weiten, nach
S. und W. sich erschließenden Thalöffnungen, war der
Untergang deutschen
Volks- und Sprachtums ein rascher. Nur in einzelnen, vom
Verkehr abseits gelegenen
Thälern erhielt sich
dasselbe bis auf den heutigen
Tag inmitten der sie rings umschließenden fremdsprachigen Umgebung. Wie von N. her, ws deutsche
Walliser wohnen, ist der
Monte Rosa ursprünglich auch an der
Süd- und Ostseite vom deutschen Sprachgebiet
umschlossen gewesen, und nur von W. her reicht eine provencalische
Mundart an ihn heran.
Aber auch am Lernnzon sprach man früher deutsch; noch sind in der Kaplanei St.
Jaques d'Aya viele Gemeindegüter deutsch
benannt, und der
Strich aufwärts vonAyas heißt
Canton des
Allemands. Der
Monte Rosa heißt bei seinen Umwohnern
Gorner
Horn. Deutsche Ortschaften finden wir aber auch bereits östlich vom
Monte Rosa. Überschreitet man am Südrande des
Greisgletschers die italienische
Grenze, so erreicht man im engen
Thal
[* 10] des
Toce das Gebiet der deutschen
Gemeinde Pommat oder
Formazza, welche, aus zahlreichen Einzelgehöften und
Weilern bestehend, sich über 15 km weit bis zur
Höhe von 900 m hinabzieht.
Das
Thal ist eingerahmt von hohen und schroffen Urgesteinsriesen, meist mit deutschen
Namen, wie Marchhorn, Kastelhorn, Hirelihorn,
Wandfluh, Sternenhorn, Marchet
Spitze,
Sonnenkorn im O., Nothhorn, Thalihorn, Hochsandhorn, Vauhorn,
Ofenhorn im W. Das
Thal senkt sich in vielen
Stufen. Auf jeder liegt ein Alpendörfchen; die obern sind nur im
Sommer, die mittlern bis gegen
Weihnachten,
die untern während des ganzen
Jahres bewohnt. Die 658 Bewohner sprechen im innern
Verkehr ausschließlich
(Walliser) deutsch,
obschon
Schule und
Predigt längst italienisch sind.
¶
mehr
Die Häuser sind im Gegensatze zu den italienischen Steinhäusern sämtlich aus Holz,
[* 12] und zwar sieht man hier überall im Gegensatze
zum alemannischen das typische Burgunderhaus. Von Pommat wanderten deutsche Burgunder nach Tessin
hinüber und gründeten dort Bosco
oder Gurin mit 350 Einw., die einzige Gemeinde im ganzen Kanton,
[* 13] welche deutsch ist. Mit der Kolonisation
des obern Tosathals hingen auch die kleinen Orte Saley und Ager, südöstlich von Pommat, zusammen, in denen aber das Deutschtum
nur ein kümmerliches Dasein fristet.
Südlich von Domo d'Ossola liegen die Orte Premosello (Pretzmilch), Migiandone und Ornavasso, das letzte nur 7 km vom Lago Maggiore,
die sämtlich früher ebenfalls deutsch waren, aber bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert verwelscht
sind. Um denOst- und Südabhang des Monte Rosa liegen sieben deutsche Gemeinden: die beiden Gressoney und Issime (mit Gabi)
im Lysthal;
Macugnaga
(mit Burca und Pescarena) im Ansascathal.
Die Gesamtbevölkerung dieser sieben Gemeinden betrug Ende 1878 5172 Seelen. Macugnaga
am Ostfuß der höchsten Gipfel der MonteRosa-Gruppe hat 720 Einw., deren Vorfahren aus dem Saaserthal einwanderten. Berge
und Flurnamen sind fast ausschließlich deutsch, ebenso die meisten Namen der zahlreichen den Ort umgebenden
Weiler. Macugnaga ist Sammelname für die sechs Ortschaften Pescarena, Burca, In der Stapf, Zum Strich, Auf der Riva, Zertannen.
In dem untersten Weiler, Pescarena, ist das Deutsche ganz, in Barca größtenteils verschwunden.
In den übrigen Dörfern dagegen sind Sprache, Holzbau und Frauentracht noch deutsch. Bis in die Mitte unsers
Jahrhunderts hinein waren Predigt und Christenlehre deutsch, die Schulsprache wurde freigestellt, deutsch oder italienisch.
Jetzt ist nur noch die Kinderlehre deutsch, doch lehren vielfach die Eltern ihre Kinder zu Hause deutsch lesen und schreiben.
Durch das Kratzer- oder Quarazzathal über das Thürle oder den Thurlopaß und über die AlpFaller führt
der Weg ins obere Sesiathal nach Alagna, dessen Haupthäuserkomplex Mittelsheil heißt.
Von den 697 Einw. wanderten von jeher viele aus, um als Maurer, Steinhauer, Gipsarbeiter, Stukkateure zu arbeiten, und kehrten
erst im vorgerückten Alter heim. Früher ging der Zug
der Leute ausschließlich in die deutsche Schweiz
[* 14] und ins Elsaß,
aber schon seit längerer Zeit hat derselbe sich fast gänzlich nach Frankreich gewandt. Jetzt ist der Ort eine vielbesuchte
italienische Sommerfrische, die italienische Sprache nimmt daher mehr und mehr zu, bis sie über kurz oder lang die allein
herrschende sein wird.
Schule und Kirche sind italienisch; in Pommat und Macugnaga sprechen die Frauen den alten Dialekt noch am
reinsten, die Männer aber ziehen fast allgemein das Französische oder Italienische oder eine wunderbare Mischung beider vor.
Issime hat noch deutsche Volkssprache beim alten Geschlecht, Schule und Kirche sind aber französisch. Dasselbe gilt von Gabi.
Rimella mit seinen 1100 Einw. und seinen nach Walliser Art gebauten Holzhäusern war ehemals rein deutsch.
Jetzt wird zwar wegen der ältern Leute noch deutsch gepredigt, aber die Schule ist schon seit 1829 italienisch. Die Rimellesen
oder Remmeljarolit wandern seit Menschengedenken als Köche und nur als solche aus und finden sich in dieser Eigenschaft in
allen OrtenItaliens.
[* 15] Die nächste Generation wird wahrscheinlich rein italienisch
sein,
wie das in Rima mit italienischer Schule und Kirche bereits der Fall ist. Am besten hat die deutsche Sprache sich in den
beiden Gressoneys erhalten, im engen Thal des Lysbach, dem westlichsten, schönsten und interessantesten dieser deutschen
Thäler. Von dem 1637 m ü. M. gelegenen Gressoney la
Trinite erreicht man in dem lieblichen Alpenthal, dessen Einzelstufen freundliche Weiler und Dörfchen mit stattlichen Holzbauten
tragen, über Palmen,
[* 16] Viel, Steinmatten u. a. das zweite Kirchdorf Gressoney St. Johann (1305 m), beide zusammen mit 2400 Einw.
Als Krämer, Maurer, Steinhauer, Zuckerbäcker ziehen die Einwohner weithin in das deutsche Land, um dort
ihr Brot
[* 17] zu suchen.
Zahlreiche Gressoneyer sind Besitzer hochangesehener Kaufmannshäuser in Luzern,
[* 18] Zürich,
[* 19] Winterthur, Frauenfeld, St. Gallen, Lindau,
[* 20] Kempten,
[* 21] Augsburg,
[* 22] Offenburg,
[* 23] Konstanz.
[* 24] Meist suchen sie während der kurzen, schönen Sommermonate die Heimat auf, weilen sonst aber im Ausland.
IhreFrauen nehmen sie auch aus der Heimat. Die Alten, die vom Geschäft zurücktreten, ziehen endgültig
in ihr Alpenthal zurück und übergeben ihren Söhnen die ererbten Handelshäuser. Es ist ein schöner, blonder, fleißiger
und tüchtiger Menschenschlag, der vortreffliche Soldaten liefert, während es im nahen kropfreichen Aostathal ganze Dörfer
gibt, die jahrelang keine Rekruten stellen.
Der alte deutsche Dialekt hat sich außer in den beiden Gressoney auch in den WeilernTrento, Niel und St.
Jaques erhalten, während er in Gaby dem Französischen unterlegen ist. Dies ist auch die Sprache der Kirche, welche unter dem
Bischof von Aosta steht, während in der Schule zugleich italienisch und deutsch gelehrt wird. Deutsch sind
die Gemeinderatssitzungen, deren Protokolle aber italienisch abgefaßt werden müssen, ebenso sind fast alle Familien-, Orts-
und Bergnamen deutsch, so großes und kleines Rothorn, Grauhaupt, Vogelberg, Kalberhorn, Freudenhorn, Stallerborn, ferner Unterwald,
Grasmatten, Bösmatten, Stein, Lohmatten, Lohalp u. a. Die Ansiedelungen im Lysthal sind bereits vor dem 13. Jahrh.,
die übrigen meist in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts von Wallis
aus begründet worden.
Von dem gesamten Grundeigentum der deutschen Regentenfamilien und andrer Fürstenfamilien deutscher und polnischer Abkunft
kann man annehmen, daß es in ähnlicher Weise wie die Domänen und Forsten des Staates vor Veräußerung
gesichert ist, da, wo kein Familiengesetz die Unveräußerlichkeit verbürgt, der Reichtum und die Traditionen der fürstlichen
Familie die Güter vor dem Verkauf schützen. Bei dem gräflichen Grundbesitz ist allerdings schon viel in kleine Anteile zersplittert,
dennoch wiegen die großen, in einer Hand
[* 32] vereinigten Güter durch ihre Masse dermaßen vor, daß man im
ganzen das den gräflichen Familien gehörige Grundeigentum als ein nahezu ebenso befestigtes wie das im Besitz fürstlicher
Familien stehende ansehen kann.
Die weitverbreitete Meinung, es seien durch Handel und Gewerbe reich gewordene Bürger zu Scharen die Nachfolger der ehemaligen
polnischen Grundherren geworden, erscheint als eine durchaus irrtümliche, da herrschaftliche Besitzungen
von mehr als 2000 Hektar in bürgerlichen Händen sich weniger befinden als in denen des einfachen Adelstandes. Die durch Gesetz
vom ins Leben gerufene Ansiedelungskommission für Posen und Westpreußen mit den: Sitz in Posen hat die Aufgabe,
Güter von polnischen Besitzern anzukaufen, zu parzellieren und an deutsche Kolonisten zu veräußern.
Die preußische Regierung wies zu diesem Zweck 100 Mill. Mark an. Obschon man sich auf Erfahrungen nicht stützen konnte, da
in Preußen
[* 33] seit 80 Jahren
kein neues deutsches Dorf mehr auf slawischem Boden aufgebaut worden war, so hat man nach einer von
jener Ansiedelungskommission verfaßten Denkschrift bereits Bedeutendes geleistet. Bis Ende 1891 wurden 98 größere
Güter angekauft mit einer Fläche von 48,66563 Hektar für 29,376,816 Mk. und 32 Bauernwirtschaften mit einer Fläche von 1334,37
Hektar für 904,295 Mk., zusammen also 50,000 Hektar für 30,281,111 Mk. Die 82 Rittergüter verteilen sich auf die einzelnen
Jahre wie folgt:
Von diesen 98 Rittergütern entfallen 68 mit 38,634 Hektar auf die ProvinzPosen, 30 mit 18,558 Hektar auf Westpreußen. Dazu kommt
noch ein angekaufter bäuerlicher Besitz von 1334 Hektar. Eine große Anzahl andrer Güter wurde von deutschen
wie von polnischen Besitzern angeboten, aber aus verschiedenen Gründen nicht erworben. Der Ankauf deutscher Güter erfolgte
meist, um der Konkurrenz polnischer Interessenten zu begegnen. Von den 82 angekauften Rittergütern waren bis Ende 1890: 42 vollständig
parzelliert, und von diesen 33 vollständig oder zum allergrößten Teil mit deutschen Kolonisten besetzt,
und zwar 30 Dörfer von deutschen Protestanten, 3 von deutschen Katholiken. In 16 Ansiedelungen ergab im November 1889 eine
Zählung, daß neben 2441 Deutschen 415 Polen wohnten.
Seit 1886 haben sich bei der Ansiedelungskommission 4337 Bewerber gemeldet mit einem Gesamtvermögen
von 19,338,181 Mk. Von den 978 eingerichteten Stellen wurden bis Ende 1890 964 zum Verkauf gestellt. Von diesen wurden 712 Stellen
begeben, auf denen 690 Ansiedlerfamilien wohnen, davon 183 aus Posen, 150 aus Westpreußen, 78 aus Schlesien,
[* 34] 61 aus Brandenburg,
[* 35] 51 aus
Pommern,
[* 36] 31 aus Württemberg
[* 37] (evangelische Schwaben), 28 aus Westfalen,
[* 38] 21 aus Rheinland, 45 aus andern preußischen
Provinzen; 36 waren aus Rußland zurückgewandert.
Von jenen 712 Stellen wurden 555 zu Kauf gegen Rente, 146 zu Pacht auf Zeit begeben, 11 als freies Eigentum verkauft. Von den 4537 Bewerbern
um Land waren 4092 Evangelische, 428 Katholiken, 12 Mennoniten und 5 Juden. Am befanden sich in der
selbständigen Bewirtschaftung von Ansiedlern im Regierungsbezirk Posen 194 Stellen, im Regierungsbezirk Bromberg
[* 39] 381, in der
ProvinzWestpreußen 196, zusammen 771 Stellen mit 5082 Köpfen, wovon 2670 Provinzialfremde.
Die eingerichteten Stellen sind von sehr verschiedener Größe; 116 haben eine Fläche von 25 Hektar und
darüber, 361 von 13-25, 381 von 4-13, 83 von weniger als 4 Hektar. Die bis Ende 1890 planmäßig parzellierten 20,799 Hektar
verteilen sich auf 978 Ansiedlerstellen von 17,396 Hektar, auf Ländereien für öffentliche Zwecke (Kirche, Pfarre, Schule,
Schulze etc.) 1124 Hektar und für spätere Begebung 2279 Hektar. Für den Unterricht ist in ausgiebigster
Weise gesorgt.
In denJahren 1888 und 1889 wurden 12 Schulen errichtet, 1890 kamen 10, 1891: 11 weitere hinzu. Auch die kirchliche Versorgung
ist mit besonderer Sorgfalt ins Auge
[* 40] gefaßt worden, und mehrere neue Kirchen sind im Bau begriffen. Die eingerichteten Volksbibliotheken
werden namentlich in den ältern Kolonien fleißig benutzt. Postagenturen und Posthilfsstellen wurden
an mehreren Orten errichtet. Der Obstbau bürgert sich rasch ein; 1889 wurden 5000 Obstbäume gepflanzt, 1890 erhielten durch
Vermittelung der Ansiedelungskommission 262 Besitzer 7192 Obstbäume. Die deutsche
¶
mehr
Kolonisation dieser Gebiete erscheint als ein großer Erfolg. Schon jetzt ergeben die aufgestellten Rechnungen, daß dieselbe
ohne große Opfer an Kapital durchführbar ist. Selbst bei reicher Dotierung der neuen Gemeinden mit Schul-, Kirchen- und Wohlfahrtseinrichtungen
werden voraussichlich ^[korrekt: voraussichtlich] 90 - 92 Mill. Mk. in den Betriebsfonds zurückfließen.
Schon jetzt ist in einer Anzahl von Kreisen dem polnischen Adel ein großer Teil seines Einflusses entwunden
worden, so daß mehrere Landtags-, wahrscheinlich auch zwei Reichstagsmandate den Deutschen zufallen werden. Für den sicher
bevorstehenden Sieg des Deutschtums über das Slawentum in diesen Gebieten erscheint das aufgewandte Kapital nicht zu hoch
bemessen.
Deutsche Litteratur im Jahre 1891. Daß jetzt auf allen Gebieten des litterarischen Lebens eine mächtige
Bewegung vorhanden ist, die zu dem vor wenigen Jahren noch allgemein beklagten Stillstand in wohlthuendem Gegensatz steht, läßt
sich nicht leugnen. Mag man von dieser Bewegung denken, wie man will, unter allen Umständen ist sie wertvoller
als der Stillstand, denn sie allein ist Leben. Die Bewegung aber zu schildern, die Richtung Zu erfassen, in welche sie die aufgeregten
Geister führt, ist schwer für denjenigen, der mitten in ihr steht, und dessen Gesichtsfeld leicht von dem nahen Kleinen verdeckt
wird zu ungunsten des ferner stehenden und darum angesehenen, ungekannten Großen. Dem Zeitgenossen ist
die eigne Zeit am schwierigsten erfaßbar. Darum können es nur tastende Linien sein, die unsre Übersicht des litterarischen
Gesamtlebens im letzten Jahre zu ziehen versuchen wird, immer gewärtig, vom nächsten Tage eines bessern belehrt zu werden.
Denn die Wandlung der Schriftsteller und Ideen wetteifert in unsern Tagen zuweilen mit der Schnelligkeit
der Maschinen, man muß immerfort auf Überraschungen gefaßt sein.
Run hat man die Mängel dieser Richtung erkannt, und nun strebt man, über sie hinauszukommen. Den Kampf
eröffnet hat der anonyme Verfasser von »Rembrandt als Erzieher«, der eine heftige Gegenbewegung hervorgerufen hat, eine Flut
von Broschüren für und gegen sein leider auch so wenig lesbares Buch. Was von alledem als bleibender Rest zurückblieb, ist
die Erkenntnis, daß es mit dem einseitigen Materialismus in Wissenschaft, Kunst und Leben doch nicht so weiter
gehen könne.
Der Rembrandt-Deutsche hat den Versuch gemacht, den Deichen seiner Zeit ein Ideal zu geben; wie weit dieser Versuch gelungen ist,
läßt sich indes allerdings noch nicht beurteilen; aber jedenfalls hat er überhaupt das eingeschlummerte
idealistische Bedürfnis wieder erregt, die Debatte auf Fragen in dieser Richtung gelenkt und die tote Masse in Fluß gebracht.
Die vorhandene Erregung in allen Erziehungsfragen kam seinem Buche zu gute; denn die Streitigkeiten über Wert und Zweck des
klassischen Sprachunterrichts, über den Unterschied von Gymnasien und Real schulen, über das Ziel der
Erziehung überhaupt
haben auch endlich die große Menge auf Erwägung idealer Fragen gelenkt und sie aus der Gleichgültigkeit
geweckt, in die sie das Vertrauen in die Herrlichkeit des technischen Jahrhunderts gelullt hat.
Nichts ist abgeschmackter als diese Vermutung, die oft geradezu zur Verdächtigung wird, wie z. B. in Wien, wo dem geistvollen
Rektor der WienerUniversität in dieser Beziehung vielfach unrecht gethan wurde. AdolfExner hat nämlich
für den wogenden Kampf in seiner Aufsehen erregenden Rektoratsantrittsrede »Überpolitische
Bildung« eine glückliche Formel gefunden, indem er das geflügelte Wort schuf: »Die einseitige Befangenheit der Geister in den
naturwissenschaftlichen Denkformen ist der Zopf des neunzehnten Jahrhunderts«.
Weiter hinaus als zu diesem allgemeinen Vorpostengefecht einer wirklich neuen Zeit sind wir indes noch nicht gelangt. Eine
führende Persönlichkeit, die ihr Ideal zum Ideal einer großen Menge von Anhängern gemacht hätte, ist
nicht aufgetreten; viele mehr steht die schöne Litteratur als der eigentlich-Ausdruck ^[Anmerkung: so eindeutig nach Scan,
vermutlich korrekt: eigentliche Ausdruck] des Zeitgeistes noch immer im Banne voll Dichtern, die keine Deutschen sind, Zolas,
Ibsens, Tolstois, Bourgets, Dostojewskis etc. Es ist nicht zu leugnen, daß die Anregungen,
welche die deutsche Litteratur vom Ausland erhalten hat, hauptsächlich dazu beigetragen haben, den eingetretenen Stillstand
zu heben.
Der Naturalismus in Deutschland
[* 43] hat zwar keine oder doch nur sehr wenig Blüten getrieben, denen man eine bleibende Dauer zuerkennen
kann; so z. B. ist das beste BuchSudermanns: »Frau Sorge«, nicht wenig von GottfriedKeller beeinflußt und
darum gar nicht so naturalistisch wie manche seiner spätern, minderwertigen Arbeiten. Dennoch muß man den deutschen Naturalisten
bei aller Kritik ihrer Manieren und ihrer Leistungen zugestehen, daß sie Leben in die Bücherwelt gebracht haben. Es soll ihnen
nicht
¶
mehr
abgeleugnet werden, daß sie den sich so breit machenden Surrogaten der Poesie, dem kulturhistorischen Roman, der Kostümlyrik,
dem Feuilletondrama, ein Ende bereitet haben. Die alten Ästhetiker haben zwar immer diese Surrogate bekämpft, aber die feinen
alten Herren haben sie nicht vernichtet, das gelang erst der Grobheit der Naturalisten; und derbe Hiebe
scheinen im litterarischen Kampfe ebensowenig entbehrlich zu sein wie im politischen Krieg. Mehr aber als dieser negative Erfolg
läßt sich beim unbefangensten Wohlwollen den Naturalisten doch nicht nachsagen.
Die Nachahmung der Ausländer und die Verrohung des Geschmacks können sie doch wohl nicht als Ruhmestitel ansprechen. Und nun,
am Ausgang des Jahres 1891, ist die Situation die, daß auch von ihnen zum Rückzug geblasen und die Erkenntnis
verbreitet wird: so, mit der Verneinung eines jeden Ideals geht's nicht weiter in der Kunst. Es sind gerade die nicht am wenigsten
Begabten, welche sich der Losung -Überwindung des Naturalismus« anschließen und sie in vielfachen, wenn
auch nicht geglückten künstlerischen Versuchen in That umzusetzen streben: HermannBahr, Heinz Tovote.
In der genannten Flugschriftenreihe hat eins ihrer als Kritiker angesehenen Mitglieder, Ola Hansson (»Der Materialismus in der
Litteratur«),
den Bruch mit dem Naturalismus eines Zola und Ibsen geradezu verkündet. In seinen Alltagsfrauen" steht Hansson
noch auf wesentlich naturalistischem Boden, indem er hier Psychophysiologie des Weibes betreibt; in der wenig später herausgegebenen
Flugschrift erklärt er dem dichtenden Materialismus den Krieg. Man sieht, wie schnell die »Läuterungen« vor sich gehen, und
es steht zu erwarten, daß der Naturalismus eine zwar aufregende, aber kurze Episode im deutschen Litteraturleben
bleiben wird.
Auch zu dieser raschen Wandlung hat das Ausland den Anstoß gegeben. In denKreisen der Jüngstdeutschen ist jetzt der von GeorgBrandes angepriesene Friedrich Nietzsche der Prophet des Tages. Wunderlich genug, daß in der Zeit der alles nivellierenden sozialistischen
Theorien der Philosoph des Geistesstolzes seinen Einzug hält, nachdem ihn die nordischen Heerführer auf
den Schild
[* 45] erhoben haben. Nun glauben die jungen Deutschen sich in der Schwärmerei für den »deutschen Denker ganz gehen lassen
zu dürfen, und die Lehren
[* 46] des Zarathustra von «über gut und böse" sind das allerneueste Evangelium der einer eignen Persönlichkeit
ermangelnden Geister. Was daraus nun entstehen wird, liegt im dunkeln Schoße der Zukunft verborgen.
Dies zur allgemeinen Charakteristik des letzten litterarischen Jahres. Auf allen Gebieten der Litteratur herrscht eine rege
Thätigkeit, die wir nun, soweit wir sie kennen lernen konnten, betrachten wollen.
Es ist nur eine Folge der äußerlichsten Kameraderie, wenn einzelne lyrische Dichter von den Naturalisten in Berlin und München
als die ihrigen ausposaunt werden, wie Detlev v. Liliencron. Seine neuen Gedichte (»Der Heidegänger und andre Gedichte«)
zeigen keine neue Wendung seines nicht zu bezweifelnden Talents;
er ist oft glücklich im originellen
Bilde, in einer neuen Metapher, wenn auch gesucht originell;
aus seiner Lyrik fühlt man in der That den Deutschen von dem Geschlecht
nach 1870, in dem der Soldatenstolz nicht gering ist;
ein schön empfundenes Naturbild gelingt ihm auch
nicht
sel ten;
aber er stammelt öfters, anstatt zu singen, er beherrscht nicht die Form.
LudwigFuldas Gedichte scheinen weitaus
formgewandter, aber es ist nur eine äußerliche Reimgewandtheit, Nachempfindung vieler Originale; ansprechend sind nur Fuldas
Sinnsprüche. Ganz neu sind Richard Dehmel (»Erlösungen«) u. Felix Dörmann (»Neurotica«),
beide Erotiker,
ungeklärt, aber begabt. Ein andrer neuer Mann ist der Wiener J. J. ^[JakobJulius] David, der in seiner Lyrik, die jedenfalls
echt ist, den Nachdruck auf das Charakteristische legt, auf die unmittelbare Energie des Gefühls, mitunter auf Kosten der Form
und Sprachschönheit. Auch die Gedichte »Zum Licht!« vonHerm. Hango verdienen der Erwähnung, weil sie
ein echtes Talent bekunden, das allerdings noch nicht fertig ist. Die Gedichte des Schauspielers KonradLöwe sollen auch nicht
ganz übersehen werden, so gering ihr eigentlicher poetischer Gehalt auch ist.
Die wohlthuendsten Erscheinungen in der Lyrik rühren aber nicht von den jüngsten Lyrikern her. RudolfBaumbachs
»ThüringerLieder« brechen sein mehrjähriges Schweigen als Sänger und zeigen neben den alten liebenswürdigen Zügen des Sprachmeisters
und Anakreontikers eine Wandlung des Dichters zum Ernst, zum Humor des ältern Mannes, der sich schon außerhalb des Reigens der
Jugend fühlt. MaxKalbeck hat in seiner Sammlung »Aus alter und neuer Zeit«
eine Auswahl aus seinen frühern Gedichten getroffen und sie mit neuentstandenen vermehrt.
Ohne eine starke Persönlichkeit zu zeigen, mutet Kalbeck durch sein seltenes Formgefühl, seine frischen, volkstümlichen
Töne wohlthuend an; er versucht sich in allen metrischen Künsten mit Geschick. Ein andrer WienerKritiker, der geistvolle Alfred
v. Berger, hat sich auch als Lyriker von origineller Persönlichkeit bekundet. Seine Gedichte zeigen uns
beinahe typisch die beschauliche Philosophennatur; sie teilen auch sehr schöne Gelegenheitsgedichte (z. B.
auf Raimund) mit.
HieronymusLorms philosophische Lyrik ist wieder neu vermehrt erschienen, und der schwäbische Humorist LudwigEichrodt hat die
ganze reiche lyrische Produktion seines Lebens in zwei starken Bänden (wohl allzu starken) gesammelt herausgegeben:
ein unerschöpfliches Buch von Schwanken und Scherzen. P. K. Rosegger hat seine »Gedichte« in hochdeutscher Sprache, die bisher
zerstreut und gelegentlich, teils in seine Erzählungen verflochten, teils selbständig in Zeitschriften erschienen sind, gesammelt,
und sie zeigen uns den frischen, temperamentvollen Dichter von allen Seiten: als begeisterten Steirer
und freigeistigen Gottsucher, als witzigen Erotiker und träumerischen Naturfreund.
Aus dem Nachlaß einzelner verstorbener Dichter sind gerade im verflossenen Jahr mehrere wertvolle Sammlungen erschienen.
So vor allen: Fr. TheodorVischers »Allotria«, ein wahres Labsal für Männer, die Humor haben und schneidige Satire lieben! Was
sind die Epigramme aus Baden«
[* 47] für ein Schatz! Und die Lieder des biedern Schartenmayer! Ein deutscher Rabelais, der den derben
Ton mit der feinsten Bildung seiner Zeit vereinigen konnte, spricht uns aus diesem Bande entgegen. Auch aus dem NachlasseScheffels
sind Gedichte gedruckt worden, die jedoch nur biographisches Interesse erregen können. Zwei TirolerLyriker
verdienen genannt zu werden, deren Gedichte erst nach ihrem Tode gesammelt und herausgegeben wurden: Anton v. Schultern und
Hans v. Vintler. Die litterarische Tageskritik, die sich nur an die Fersen der Lärmmacher heftet, hat allerdings von Schultern
kaum Notiz genommen,
¶
mehr
aber wenn MörikesIdyllen jemals eine gute Nachfolge fanden, so geschah es in den Idyllen Schullerns; übrigens kann er mit
den Liebesgedichten und Naturbildern seinem Landsmann Gilm füglich gleichgestellt werden. Vintlers lyrische Muse ist ganz anders
geartet: eine frische, lustige Dirne, mit der Neigung zum Spott und Hohn, angriffslustig und witzig, doch
auch nachdenklich zuzeiten und weich. - Von der Lyrik dichtender Frauen verdienen die Gedichte von Ilse Frapan genannt zu werden,
wenn sie auch nicht das halten, was man nach einzelnen ihrer Novellen erwartet hätte. Carmen Sylva hat auch in diesem Jahr 3 Bände
lyrischer Gedichte: Heimat«, »Handwerkerlieder«, »Meerlieder«,
erscheinen lassen.
So überreich die gegenwärtige Produktion von Romanen und Novellen ist, da das Publikum der Leihbibliotheken, womit sie rechnet,
einen unersättlichen Magen
[* 49] dafür hat, so muß man es dennoch als den charakteristischen Zug
der Litteratur bezeichnen, daß im
Mittelpunkt ihres Interesses wesentlich das Theater
[* 50] steht. Dahin streben alle Bemühungen der stärkern
Talente, nicht bloß weil das Drama die schwierigste und bedeutendste dichterische Form ist, sondern weil es auch den reichsten
Ruhm und den reichsten Ertrag bietet; in unsrer anspruchsvollen Zeit, in der die Dichter sich nicht mehr, wie einst einmal,
mit einem Dachstübchen begnügen wollen und auch nicht können (denn der Dichter soll ja Weltmann sein!),
spielt die Aussicht auf reiche Tantiemen eine große Rolle.
Die Möglichkeit dazu ist ja gegeben, Thatsachen beweisen es, daß einzelne Dichter und Komponisten sich mit einem einzigen
durchschlagenden Erfolg ein sorgenfreies Leben gesichert haben, darum wollen es viele so haben, und der
Erfolg auf der Bühne ist ja auch der berauschendste. Daher die Erscheinung, daß Dichter, die schlechtweg nur als Erzähler
leistungsfähig sind, wie z. B. F. Spielhagen, doch unentwegt die Bühne zu erobern suchen und von einem ehrenvollen Begräbnis
zum andern wandern. Dem Chronisten aber liegt es ob, klar zu sehen, und Spreu von Weizen, Berufene von
Unberufenen zu scheiden.
Wir wollen auch hier mit den Naturalisten anfangen, die im Drama den SpurenIbsens und Strindbergs folgen und durch Darstellung
des Peinlichen eine Wiedergeburt der Kunst erwarten. So GerhardHauptmann, der in »Vor Sonnenaufgang« die Erblichkeitsfrage behandelt,
die Frage, ob ein Mann ein Mädchen aus einer Trinkerfamilie heiraten kann; dieser Mann des Stückes ist
ein unklarer, unreifer Mensch, und damit fällt das Stück. Ganz und gar unter dem Eindruck von Ibsens kleinstädtischen Dramen
sind Hauptmanns »Einsame Menschen« geschrieben worden.
Sein unreifer Held wäre viel mehr in einer Komödie als in einem ernsten Stück am Platz, und das ist der
Fehler des hypochondrisch ernsten Werkes, das in den Gestalten der Eltern Vockerat und der jungen FrauKätheZeugnis für das
ungewöhnliche TalentHauptmanns ablegt. LudwigFuldas schmiegsames Talent steht auch in der naturalistischen Strömung, er ist
aber doch noch vorsichtig genug, mit dem Naturalismus nur zu kokettieren, ihn äußerlich zu verwenden,
innerlich aber zur alten guten Rührkomödie zu halten, so im »Verlornen Paradies. In der «Sklavin« hat er die Stellung des
Weiber zum Manne im Geiste der Norweger behandelt.
Viel wuchtiger ist Ernst u. WildenbruchsDramatik, dessen »Neuer Herr« und »Haubenlerche« auch in dieser
Strömung liegen, aber doch nicht ganz in ihr sich verlieren. Wildenbruch steht
jetzt ohne Zweifel in einiger Verwirrung; er
macht dem Modegeschmack Zugeständnisse, ohne die volle Kraft,
[* 51] seiner Herr zu werden. Die »Haubenlerche« mit ihrer urwüchsigen
Munterkeit scheint aus dem Gegensatze zur HypochondrieIbsens entstanden zu sein, aber dieser Gedanke ist
nicht durchgeführt, sondern wird mit einem modisch-naturalistischen Motiv verquickt.
Sudermann hat mit seinem zweiten Werk: »Sodoms, Ende«, keinen so großen Erfolg wie mit der »Ehre« errungen;
er hat hier in
seltsamer Weise naturalistische Neigungen mit der Form der alten Sittenkomödie vereinigt, doch aber wieder seinen wahren,
dramatischen Beruf bewiesen.
Eine andre Gruppe bilden die Dichter der ältern Generation, die mit feinster Bildung und wirklicher Begabung dennoch nicht
das Theater erobern können. HansHopfens »«Hexenfang«, ein geistvoll phantastisches Lustspiel, interessierte nur kurze Zeit.
Paul! Heyse schreibt jetzt fast nur Dramen; diese Bemühungen um die Bühne, so nachhaltig, so ehrenwert
und doch so erfolglos, muten fast tragisch an. So hatte er mit seinem geistreichen Trauerspiel »Die schlimmen Brüder ausgesprochenen
Mißerfolg; sein geistvolles Schauspiel: "Wahrheit?« brachte es nur zu einem Achtungserfolg in München.
bei der Aufführung fiel es mit seiner billigen Rhetorik und
einfältigen Handlung trotz des geschickten ersten Aktes durch.
Auch P. K. Rosegger ist unter die Dramatiker
gegangen mit einem Volksstück: »Am Tage des Gerichts«, das gar keine gering zu schätzende Bühnenwirkung hat;
jedenfalls
ist der zweite Akt ein humoristisches Kabinettsstück. Zu erwähnen wären noch: Ganghofer und Brociner: »Die Hochzeit von Valeni«,
eine richtige Boulevardtragödie, Triesch und Schnitzer: »Hand in Hand«, ein mißglückter Versuch in der
Art von Fuldas »«Verlornem Paradies«, Müller-Guttenbrunns »Irma«, eine viel zu spät nachhinkende Nachahmung der französischen
Kokottenkomödie, die gleich verschwand, Ganghofers Charakterlustspiel: Die Falle« etc. Eins der interessanten Ereignisse im
Gebiete der dramatischen Kunst von 1891 war die Aufführung der Tragödie »Meister Manole« von Carmen Sylva, ohne dauernden Erfolg
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