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Heimat und die dortigen sozialen Einrichtungen als das Prototyp des Kastenwesens überhaupt betrachtet hat. Namentlich hat die genauere Durchforschung der alten Sanskritlitteratur einerseits, der Fortschritt der englischen Statistik in Indien anderseits eine Menge neuer Aufschlüsse über das Kastenwesen gebracht, welche ein allgemeineres Interesse beanspruchen können. In der ältesten Periode der indischen Geschichte gab es noch keine eigentlichen Kasten.
Die Brahmanen scheinen sich als Hauspriester angesehener und reicher Adels- und Fürstenfamilien und als alleinige Besitzer des gesamten religiösen und gelehrten Wissens früh zu einer sehr einflußreichen Stellung emporschwangen zu haben, bildeten aber den übrigen Ständen gegenüber noch keine streng in sich abgeschlossene Zunft. Erst in einem der spätesten Lieder des Rigweda findet sich der berühmte Vers, der die Entstehung der vier Hauptkasten aus den verschiedenen Gliedmaßen des Weltgeistes Puruscha schildert und noch in der Gegenwart als die Magna Charta des Brahmanentums betrachtet wird.
Der Brahmane, heißt es hier, war sein Mund;
der Krieger wurde zu seinen Armen;
Schenkel war das, was jetzt Vaisya (Ackerbauer) ist;
aus den Füßen entstand der Sudra.
Sucht man durch den mythologischen Nebel, in den diese Überlieferung den Ursprung des indischen Kastenwesens hüllt, zu dem historischen Kern vorzudringen, so wird man sich die allmähliche Entstehung dieser ständischen Gliederung etwa folgendermaßen vorzustellen haben: Bekanntlich sind die Arier, die herrschende Rasse in Indien und die nahen Stammverwandten der indogermanischen Völker Europas, vom Norden [* 2] her in Indien eingewandert, wo sie die einheimische schwarze Bevölkerung [* 3] teils unterjochten, teils in die Gebirge im Innern des Landes zurücktrieben.
Die jahrhundertelangen Kämpfe, die um den Besitz von Hindostan geführt wurden, begünstigten das Emporkommen eines kriegerischen Adels. Zugleich entwickelten sich aber bei einem so tief religiös angelegten Volke die Brahmanen, welche mit dem wirksamsten Zaubersegen für Schlacht und Krieg bekannt waren, immer mehr zu einem geschlossenen und erblichen Stande. Den beiden privilegierten Klassen der Priester und Krieger stand die Masse des Volkes unter dem Namen der Vaisyas, d. h. der Ackerbau und Gewerbe treibenden Klasse, gegenüber.
Eine ähnliche Rangordnung findet sich in dem Zendavesta der stammverwandten Iranier, wie auch im europäischen Mittelalter die gesamte Bevölkerung in den Lehr-, Wehr- und Nährstand eingeteilt wurde. In Indien stand jedoch unter diesen drei Kasten, welche unter dem Namen der »Zweimalgebornen« oder »Arier« zusammengefaßt wurden, noch eine vierte Kaste der Sklaven oder Diener, Sudras genannt, welche aus den Überresten der unterjochten Urbevölkerung des Landes bestand.
Diese Vierkastenordnung war die älteste Form des indischen Kastenwesens und wurde als der Hauptpfeiler der indischen Staatsverfassung noch in einer viel spätern Epoche festgehalten, welche längst, dem Fortschritt der Kultur und Gesittung gemäß, die Anzahl der Kasten außerordentlich vervielfältigt hatte. Die indischen Gesetzbücher fassen ihrem Standpunkt gemäß, welcher jede Vermischung der Kasten als etwas höchst Sündhaftes betrachtet, die wenig geachteten Kasten der Fischer, Ärzte, Schauspieler, Gaukler etc. als Produkte verbotener Zwischenheiraten unter den vier Hauptkasten auf.
Thatsächlich verdanken diese Kasten ihre Entstehung der Tendenz, jedes besondere Gewerbe in jeder einzelnen Provinz zu einer gesonderten Kaste zu erheben. Der Kastengeist, früh geweckt, hat in Indien immer weiter um sich gegriffen, und noch heute ist die Anzahl der Kasten in steter Zunahme begriffen, wie auch die gegenseitige Abschließung der Stände nicht ab-, sondern zugenommen hat. Ganz geringfügige Abweichungen von der herkömmlichen Art, ein Handwerk zu betreiben, rufen nicht selten neue Kasten ins Leben. So hat ein Teil der Milchmänner diejenigen Berufsgenossen, welche buttern, ohne die Milch vorher aufzukochen, aus der Kaste gestoßen. In Cuttack in Bengalen finden keine Ehen statt zwischen denjenigen Töpfern, welche ihre Töpferscheibe sitzend drehen und kleine Töpfe formen, und jenen, die ihre Scheibe stehend drehen und große Töpfe verfertigen.
Innerhalb der Fischerkaste gibt es eine Unterkaste, welche die Maschen von rechts nach links, und eine andre, welche sie von links nach rechts arbeitet. Aus der Sanskritlitteratur, aus dem Erbrecht und aus den alten Inschriften läßt sich entnehmen, daß Zwischenheiraten selbst unter den Mitgliedern verschiedener Hauptkasten früher, wenn auch verpönt, doch keineswegs selten waren. Heutzutage zerfällt jede einzelne Kaste wieder in eine Menge Unterabteilungen, denen jeder nähere gegenseitige Verkehr untersagt ist. J. ^[John] Wilson, der sich die Darstellung des indischen Kastensystems zu seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe gemacht hatte, kam in zwei Bänden nicht über die Schilderung der verschiedenen Verzweigungen hinaus, in welche die Brahmanenkaste zerfällt (»Indian Caste«, Bombay [* 4] 1877). Der Kastengeist hat sich in Indien sogar stärker als der Islam erwiesen.
Als die Mohammedaner Indien erobert hatten, nahmen sie nach und nach das Kastenwesen selbst an, und es gibt heutzutage in Indien kastenartige Unterschiede unter den Mohammedanern so gut wie unter den brahmanistischen Sekten. Auch die englische Herrschaft hat das Kastenwesen bisher nur wenig gelockert, wenn auch das Zusammentreffen der verschiedensten Kasten in den englischen Schulen, Eisenbahnen und Tramways zur Beseitigung der alten Standesvorurteile erheblich beiträgt.
Die Brahmanen, 13,730,045 Köpfe nach der Volkszählung von 1881, sind keineswegs als eine eigentliche Priesterkaste anzusehen. Schon in alter Zeit griffen sie des Lebensunterhalts wegen zu den verschiedensten Beschäftigungen. Heutzutage huldigt nur ein sehr geringer Prozentsatz der Brahmanen religiösen oder gelehrten Berufen, dagegen sind die verschiedensten andern Rangklassen bei ihnen vertreten, von dem stolzen Radscha bis zu dem halbnackte brahmanischen Bauer von Orissa.
Sehr viele Brahmanen sind Bettler, andre dienen als Sepoys in der englischen Armee oder als Schreiber in englischen Büreaus etc. Obwohl nach außen hin streng abgeschlossen und den Besitz der über die Schulter geschlungenen Brahmanenschnur als ihr ausschließliches Privilegium betrachtend, zerfallen sie doch unter sich in zahlreiche Unterabteilungen, die nicht untereinander heiraten und nicht miteinander speisen dürfen. Hunter, der bekannte englische Statistiker, erzählt, daß er 1869 einen Verbrecher aus der Brahmanenkaste im Kerker traf, der versuchte, sich durch Hunger zu töten, und sich lieber körperlicher Züchtigung unterziehen als die Speisen genießen wollte, die ein aus dem Nordwesten gebürtiger Brahmane für ihn gekocht hatte. Die kriegerischen Radschputen (von dem Sanskritwort râjaputra, »Königssohn«),
7,107,828 Köpfe, sind die Nachfolger der alten Kschatriyas oder Radschanyas, der Krieger- und Adelskaste. Aber diese Kaste hat die mannigfaltigsten Elemente in sich aufgenommen, und noch heutzutage kann man in den entferntern ¶
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Provinzen des indobritischen Reiches ganze Stämme zu Radschputen werden sehen. Von der dritten Kaste des indischen Altertums, den Vaisyas, haben sich manche Überreste in den verschiedenen Klassen der Banyas, »Gewerbtreibenden« (v. sanskr. vanij, »Kaufmann«),
3,275,921 Köpfe, erhalten. Die stärkste Zunahme gegen früher scheint bei den im Altertum als Sudras und Mischkasten bezeichneten Kasten eingetreten zu sein, teils weil ein Stamm der Urbevölkerung nach dem andern von den eingewanderten Ariern unterjocht wurde, teils weil viele Vermischungen stattfanden, teils weil mit der zunehmenden Kultur auch die Arbeitsteilung sich mehr und mehr entwickelte. Auch das religiöse Element ist, besonders durch die ununterbrochen fortgehende Bildung neuer Sekten, ein wichtiger Faktor bei der Vermehrung der Kasten.
Während das Kastenwesen sich elastisch genug zeigte, um sich weit auseinander liegenden Stadien sozialer Entwickelung anzupassen und das ganze Völkergemisch Indiens in sich aufzunehmen, war die vorherrschende Tendenz doch auf die Ausbildung solcher Einrichtungen gerichtet, welche geeignet waren, die Organisation der Kasten zu kräftigen und Neuerungen und fremde Eindringlinge abzuwehren. Jede Kaste ist in gewisser Weise gleichzeitig eine Zunft oder Handelsgilde, eine Assekuranzgesellschaft und eine religiöse Sekte.
Als Zunft sorgt sie für die richtige Ausbildung der heranwachsenden Mitglieder, setzt die Löhne fest, sitzt über Vergehungen gegen die Kastenordnung zu Gericht und befördert die Kameradschaft durch gesellige Zusammenkünfte. Die berühmten alten Bauwerke Indiens, die das Staunen der Reisenden erregen, wurden von Zünften und Innungen dieser Art errichtet, auf denen auch die Blüte [* 6] der verschiedenen einheimischen Industrien Indiens ausschließlich beruht. Um die Konkurrenz etwas zu zügeln, setzt die Kaste gewisse Feiertage fest, an welchen nicht gearbeitet werden darf.
Wer dieses Verbot übertritt, muß eine Geldbuße bezahlen. Geldstrafen spielen überhaupt eine wichtige Rolle. Am gewöhnlichsten nehmen sie die Form einer Festmahlzeit an, welche das straffällige Mitglied allen übrigen Mitgliedern der Kaste zu geben gezwungen wird. Art und Kosten der Bewirtung sind dabei ein für allemal festgesetzt, und keiner der Eingeladenen darf zweimal von einem Gericht fordern. Schwerere Vergehungen werden durch Ausstoßung aus der Kaste gesühnt.
Noch jetzt wird in solchen Fällen die alte Zeremonie des Ghataspota (»Zerwerfen des Topfes«) vollzogen, wodurch die Ausschließung aus der Gemeinschaft der Stammesgenossen figürlich angedeutet wird. Früher wurde durch die Ausschließung aus der Kaste auch das Erbrecht völlig aufgehoben und die Ehe aufgelöst. Die englische Gesetzgebung hat alle zivil- und vermögensrechtlichen Folgen der Ausstoßung aus der Kaste beseitigt. Aber noch immer kann der Ausgestoßene sich nicht innerhalb der Kaste verheiraten, darf nicht mit seinen Kollegen zusammen speisen und geht jeder geistlichen Hilfe und der Dienste [* 7] des Barbiers und Wäschers verlustig. Er ist daher in der Regel sehr gern bereit, sich zur Sühne durch eine Festmahlzeit loszukaufen. Auch das Lehrgeld, welches von den Anfängern erhoben wird, bildet eine Einnahmequelle für die Zunft. Es beläuft sich z. B. in Ahmedebad je nach der Wichtigkeit des betreffenden Gewerbes auf 5-50 Pfd. Sterl. und wird meistens zur Bestreitung gemeinsamer Feste verwendet. Streiks zur Erzwingung höherer Löhne kommen bei den indischen Zünften so gut wie bei den Handwerkervereinen Europas vor.
Als Assekuranzgesellschaft vertritt die Kaste die Stelle der Armenpflege, welche in Indien als solche nicht existiert. Jede anständige Kaste ist auf die Unterstützung dürftiger Mitglieder bedacht. Auch ist die Aussicht, in der Kaste zu einer angesehenen Stellung emporzusteigen, ein wirksames Motiv, um sich anzustrengen und vor den übrigen hervorzuthun.
Als religiöse Sekte hat jede Kaste ihre bestimmten Gebräuche und Observanzen sowie eine ziemlich weitgehende Jurisdiktion über ihre sämtlichen Mitglieder bei Vergehungen gegen das religiöse und Sittengesetz. Viele Kasten, wie z. B. die Gosains, welche den ganzen Körper mit Asche zu beschmieren pflegen, haben einen rein religiösen Charakter. Als gemeinsames Kennzeichen der Sekte dient ein Stirnzeichen, das mit Farbe jeden Morgen erneuert wird.
Im ganzen genommen muß man sich hüten, über den Schattenseiten des Kastenwesens seine günstigen Wirkungen zu übersehen. In dem losen Gefüge orientalischer Staaten hat es jedenfalls von jeher durch Beförderung des Korporationsgeistes ein vortreffliches Präservativ gegen die Ausschreitungen und das Sinken Einzelner und die Basis aller großen gemeinsamen Unternehmungen gebildet.
Vgl. Kitts, Compendium of the castes and tribes found in India (Lond. 1886);
Hunter, The Indian Empire (2. Aufl., das. 1886);
Barthélemy Saint-Hilaire, L'Inde anglaise (Par. 1887);
Zimmer, Altindisches Leben (Berl. 1879);
Garbe, Indische Reiseskizzen (das. 1889).
Rechtspflege in Ostindien.
Die Gesetzgebung hat in Indien in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und ist für eine Reihe wichtiger Materien auf dem Standpunkt der Kodifikation angelangt. Zugleich sind auch wichtige Ergebnisse zu verzeichnen auf dem wissenschaftlichen Gebiet der Forschungen über das alte indische Nationalrecht, das zwar bei dem Fortschreiten der Kodifikation immer mehr an Ansehen einbüßt und an Geltung im praktischen Leben verliert, aber vermöge seiner hohen Ausbildung einen dauernden Wert für die indische Kulturgeschichte und für die vergleichende Rechtswissenschaft (s. d.) behält.
Zivil- und Strafrecht haben in Indien wie in andern orientalischen Ländern von jeher einen integrierenden Bestandteil des Religions- und Sittengesetzes gebildet. Demgemäß sind die Gesetze der Hindu in demjenigen Teile der alten Sanskritlitteratur enthalten, der sich auf die Erlangung des religiösen Verdienstes, Dharma, bezieht, welches den Menschen von den Fesseln der Wiedergeburt befreit und ihn nach dem Tode der Freuden des Paradieses teilhaftig macht. In den ältesten Rechtsquellen, den Dharmasūtras, werden die einzelnen Rechtsgrundsätze noch ohne jede Spur systematischer Anordnung vorgeführt.
Erst in dem berühmten Gesetzbuch des Manu findet sich eine Einteilung des gesamten Rechts in nachstehende 18 Materien:
1) Schuldrecht, 2) Depositen, 3) Verkauf eines Gegenstandes durch einen andern als den Eigentümer, 4) Handelsunternehmungen einer Gesellschaft, 5) Zurücknahme eines Geschenks, 6) Nichtbezahlung einer verabredeten Löhnung, 7) Bruch eines Übereinkommens, 8) Rückgängigmachung von Käufen und Verkäufen, 9) Streitigkeiten zwischen dem Eigentümer (von Vieh) und seinem Viehtreiber, 10) Grenzstreitigkeiten, 11) Realinjurien, 12) Personalinjurien, 13) Diebstahl, 14) Raub und andre Gewaltthaten, 15) Ehebruch, 16) Pflichten der Ehegatten, 17) Erbrecht, 18) Spiel und Tierkämpfe. Die ältesten Dharmasūtras, namentlich das Dharmasūtra des Apastamba, sind nach den Untersuchungen von Bühler im 6. Jahrh. v. Chr., wenn nicht früher, verfaßt ¶
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worden. Auch dem Gesetzbuch des Manu ist ein hohes Alter nicht abzusprechen. Dagegen gehören die Gesetzbücher des Yajnavalkya, Wischnu und Narada schon der nachchristlichen Epoche an. Englische [* 9] Übersetzungen der ältern Gesetzbücher sind in der von Professor Max Müller in Oxford [* 10] herausgegebenen Sammlung »Sacred books of the East« enthalten. Seine höchste Ausbildung hat das indische Recht in den Werken der mittelalterlichen Panditen erfahren. Die ausführlichen Kommentare, welche dieselben über die Gesetzbücher des Manu, Yajnavalkya, Wischnu u. a. schrieben, gehen weit über den Zweck bloßer Erläuterungsschriften hinaus und enthalten eine vollständige und systematische Darstellung des zur Zeit der Kommentatoren geltenden Rechts.
Der berühmteste dieser Kommentare, die Mitakshara, ist im 11. Jahrh. n. Chr. von dem gelehrten Brahmanen Vijnānesvara verfaßt worden, der am Hofe eines mächtigen südindischen Königs lebte. Dieses umfangreiche Werk hat nicht nur in den südlichen und westlichen Landesteilen, sondern auch in Benares eine fast kanonische Geltung erlangt. Nur in Bengalen wird den Rechtswerken der dortigen Panditen, wie Raghunandana, Jimutavahana u. a., die entscheidende Autorität beigelegt.
Die in diesen Werken niedergelegte Rechtsordnung ist die eines streng despotisch regierten Staatswesens. Alle richterlichen Funktionen sind in die Hände des Königs gelegt. Die Prüfung und Aburteilung der Prozesse soll seine hauptsächlichste Beschäftigung sein. Doch kann er, wenn es ihm an Zeit gebricht, auch einen rechtskundigen Brahmanen als seinen Stellvertreter abordnen. Denn die Brahmanen befanden sich, ebenso wie die Pontifexe in der ältesten Periode der römischen Geschichte, im Alleinbesitz des überlieferten juristischen Wissens.
Von ihnen rührt die ganze juristische Litteratur Indiens her, und selbst diejenigen Werke, welche sich für die Produkte fürstlicher Autoren ausgeben, sind thatsächlich von den Brahmanen verfaßt, welche den betreffenden Fürsten als Berater zur Seite standen. Es geht dies daraus hervor, daß sie in der Sanskritsprache abgefaßt sind, welche nur den Brahmanen hinreichend geläufig war, um darin zu schreiben. In den spätern Rechtsbücher findet sich ein ganzer Instanzenzug erwähnt.
Man kann von dem Unterrichter an den Oberrichter, von diesem an die Person des Monarchen appellieren. Übrigens scheinen diese Vorschriften zum großen Teil bloße Theorie geblieben zu sein. Bei der maßlosen Bestechlichkeit der Richter, welche erst nach der Unterwerfung Indiens unter die englische Herrschaft mit Erfolg beseitigt werden konnte, zogen es viele, wenn nicht die Mehrzahl der Rechtsuchenden vor, sich an Schiedsgerichte zu wenden. Solche Schiedsgerichte, Panchayat, »Ausschuß von Fünfen«, genannt, weil sie aus je zwei von jeder der beiden Parteien vorgeschlagenen Richtern und einem fünften als Unparteiischen bestehen, kommen noch heutzutage häufig vor.
Das Gerichtsverfahren war in früherer Zeit mündlich, aber die spätern Rechtsbücher kennen auch ein schriftliches Verfahren. Die Aussagen wurden häufig auf dem Boden der Gerichtshalle protokolliert. Auch in den indischen Dramen wird dieser primitiven Art der Protokollierung gedacht. Als Beweismittel werden neben den Aussagen der Zeugen auch früh schon Dokumente erwähnt. Die detaillierten Vorschriften der Gesetzbücher über die Abfassung von Dokumenten haben in den in großer Anzahl aufgefundenen Schenkungsurkunden, die zu gunsten von Brahmanen von Fürsten oder Edelleuten ausgestellt sind, genaue Befolgung gefunden. Wo menschliche Einsicht versagt, da ist ein Gottesurteil anzuwenden.
Gottesurteile scheinen in Indien bis in die neueste Zeit hinein häufig vorgekommen zu sein. Die indischen Gesetzbücher machen neun Arten derselben namhaft, die sich zum Teil auch bei andern Völkern vorfinden: Gottesurteile durch die Wage, [* 11] durch Feuer, Wasser, Gift, heiliges Weihwasser, durch Essen [* 12] von unenthülsten Reiskörnern ohne Verletzung des Mundes, durch Auffischung eines Goldstücks aus heißem Wasser (Kesselfang), durch das Los und durch Lecken an einer glühend gemachten Pflugschar.
Das Strafrecht weist jene barbarischen Leibes- und Lebensstrafen auf, welche in den meisten Ländern des Orients an der Tagesordnung sind. Abhacken der Füße und Hände, Aufschlitzen der Zunge, Pfählung, Verbrennung und andre grausame Arten der Verstümmelung und Hinrichtung gehören zu den gewöhnlichsten Strafen. Auch symbolische Arten der Bestrafung kommen, wie bei den alten Ägyptern und im europäischen Mittelalter, häufig vor. So sollen den schweren Verbrechern Brandmale verschiedener Form aufgeprägt werden: einem Mörder in der Form eines kopflosen Leichnams;
einem Trinker in der Form der Fahne, welche Schenkwirte auszuhängen pflegen, u. dgl. Der Grundsatz: »Gleiches Recht für alle« liegt dem indischen Rechte gänzlich fern.
Ganz im Gegenteil wird das Strafmaß nach dem gesellschaftlichen Range der Kaste abgestuft, welcher der Verbrecher angehört. Hat ein Brahmane einen Mann aus niedrigerer Kaste beleidigt, so braucht er nur eine Geldstrafe zu zahlen, wie überhaupt die Brahmanen von allen Körperstrafen ausgenommen sind und nur an ihrem Vermögen, in schwereren Fällen durch Verbannung gestraft werden können. Dagegen soll ein Sudra, der einen Brahmanen angreift, beide Hände verlieren; speit er einen Brahmanen an, so sollen ihm beide Lippen, harnt er ihn an, so soll ihm die Scham abgeschnitten werden. Auch bei den Bestimmungen über Ehebruch tritt diese Ungleichheit des Strafrechts nach den Ständen sehr scharf hervor.
Die gleiche Beobachtung läßt sich auch in dem bürgerlichen Rechte machen. So hängt im Schuldrecht die Höhe des erlaubten Zinsfußes von der Kaste des Schuldners ab. Eine besondere Ausbildung hat das Erbrecht erfahren, das ein getreuer Abdruck der altertümlichen Eigentumsverhältnisse ist, die sich Indien bewahrt hat. Im ganzen Orient bildet das Gesamteigentum die Regel, und das Privateigentum ist nur wenig entwickelt. Die Hindu leben bis auf den heutigen Tag in großen Familiensippschaften zusammen, geleitet von dem Senior der Familie, dem seine Gattin als Dirigentin des Haushalts zur Seite steht.
Ein solcher indischer Haushalt zählt manchmal 40-50 Köpfe. Unter Umständen kann auch ein jüngeres Familienglied, das sich durch seine besondere Tüchtigkeit dazu eignet, an die Spitze der Familie treten; denn von der Tüchtigkeit des Hauptes, sagt ein indisches Gesetzbuch, hängt das Gedeihen der Familie ab. Bei einer Teilung des Vermögens war in der frühern Epoche der ältere Bruder zu einem Voraus berechtigt, sei es, daß er einen bestimmten Prozentsatz des gemeinsamen Vermögens oder das Familienhaus oder einen Teil des Viehs etc. als Präzipuum erhielt. In späterer Zeit wurde gleiche Teilung eingeführt, aber die Vorrechte des Ältesten in betreff der Verwaltung des Familiengutes haben sich ziemlich ungeschmälert behauptet. Die Gewalt des Patriarchen an der Spitze der Familie ist um so größer, als die Söhne und Töchter schon sehr frühzeitig verheiratet werden. ¶
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16-18jährige Ehemänner sind zu unerfahren und unselbständig, um einen eignen Haushalt anzufangen; sie bleiben daher auch nach ihrer Verheiratung bei den Eltern wohnen. Die Töchter folgen im Alter von 12-14 Jahren dem Gatten, mit dem sie im 8.-10. Jahre verlobt worden sind, und gehen in die despotische Gewalt eines andern Familienhauptes über. Ein natürlicher Ausfluß [* 14] des patriarchalischen Systems ist die unselbständige Stellung der Frauen. In der Kindheit, so lautet eine häufig wiederkehrende Maxime der indischen Gesetzgeber, soll das Weib dem Vater, in der Jugend dem Manne, im Alter den Söhnen unterthan sein; niemals verdient die Frau Selbständigkeit.
Daraus folgt in vermögensrechtlicher Beziehung der Grundsatz, daß die Frau alles, was sie erwirbt, nicht für sich, sondern für ihren Gewalthaber erwirbt, und daß sie absolut kein Erbrecht besitzt. Doch sind diese theoretischen Maximen früh durchbrochen worden. Während im ältern Rechte die weiblichen Familienmitglieder nur einen Anspruch auf standesgemäßen Unterhalt hatten, der bei den Töchtern sich nur bis zur Verheiratung erstreckte, aber die bedeutenden Kosten der luxuriösen Hochzeitsfeste in sich schloß, wurde späterhin den Frauen, namentlich der Witwe und der Mutter, ein ziemlich weitgehendes Erbrecht eingeräumt.
Nach dem modernen indischen Rechte, wie es in der Mitakshara niedergelegt ist, erbt, wenn kein Sohn vorhanden ist, die Witwe das ganze Vermögen ihres Mannes, falls derselbe nicht in Gütergemeinschaft mit seinen Brüdern oder sonstigen männlichen Anverwandten lebte; nach dem modernen Rechte der Provinz Bengalen erbt die Witwe sogar in diesem Falle. Aus diesem weitgehenden Erbrecht der Witwe ergibt sich zugleich, daß der grausame und berüchtigte Brauch der Witwenverbrennung niemals allgemeine Geltung in Indien gehabt haben kann. Die Erbfolgeordnung ist, wie in dem ältesten römischen Erbrecht, das auf den gleichen Grundsätzen aufgebaut ist, ursprünglich streng agnatisch. Doch sind nach und nach auch die Kognaten in gewissen Fällen zur Erbschaft berufen worden und werden in der Provinz Bengalen sogar zwischen die Agnaten eingereiht. Testamente wurden erst durch die Engländer eingeführt.
Eine so eigenartig entwickelte Rechtsordnung wie die indische konnte, nachdem sie die Zeiten der mohammedanischen Fremdherrschaft überdauert hatte, auch durch die englische Eroberung nicht zerstört werden. Nur die barbarischen und ungerechten Bestimmungen des indischen Strafrechts verschwanden schon in der mohammedanischen Epoche. Die Engländer führten 1838 einen neuen Strafrechtskodex, Penal Code, für Indien ein, welcher den bekannten englischen Historiker Macaulay zum Verfasser hat. (Vgl. Starling, Indian criminal law, 4. Aufl., Lond. 1886.) Dagegen ist im Zivilverfahren schon im vorigen Jahrhundert, als die indische Gerichtsverfassung nach europäischem Muster reorganisiert wurde, die Geltung des einheimischen Rechtes der Hindu und Mohammedaner ausdrücklich anerkannt und seitdem nie angetastet worden.
Als Warren Hastings, der berühmte englische Staatsmann und Feldherr, 1772 von der Ostindischen Kompanie zum Statthalter von Bengalen ernannt wurde, war einer seiner ersten Regierungsakte die Anerkennung und gesetzliche Sanktionierung des Rechtes der Hindu und Mohammedaner, in allen in das Gebiet des Erbrechts und ehelichen Güterrechts sowie ihrer besondern Kastengebräuche einschlagenden Fällen nur nach ihrem eignen Rechte gerichtet zu werden. Auch berief er eine Kommission von elf Brahmanen zur Ausarbeitung eines indischen Kodex auf Grund der alten Gesetze und ließ diese Kompilation von dem Engländer Halhed ins Englische übersetzen.
Dieser Übersetzung, die 1776 erschien, gebührt der Ruhm, zuerst die Aufmerksamkeit der europäischen Gelehrten auf die Schatze der Sanskritlitteratur gelenkt zu haben; aber eine sichere Grundlage für die englische Rechtsprechung lieferten erst zwei Dezennien später die sorgfältigen und genauen Übertragungen von Colebrooke, denen nachher viele andre gefolgt sind. Um ganz sicher zu gehen, pflegten die englischen Richter außerdem indische Panditen zu konsultieren, welche die für den bezüglichen Rechtsfall in Betracht kommenden Stellen aus den indischen Gesetzbüchern beizubringen hatten und zu diesem Zwecke den Gerichtshöfen attachiert waren.
Erst in neuerer Zeit ist diese Einrichtung wieder abgeschafft worden. Die »Präcedenzfälle« (Precedents), welche in den periodischen Veröffentlichungen der anglo-indischen Appellationsgerichte von Kalkutta, [* 15] Bombay, Madras [* 16] und Allahabad gesammelt vorliegen, liefern dem englischen Richter eine genügende Grundlage für die Urteilsfällung. Auch liegt für viele einzelne Teile des Rechtes, namentlich für das Patentwesen, Gebührenwesen und andre moderne Einrichtungen sowie für den Zivil- und Kriminalprozeß, jetzt eine Kodifikation vor. (Vgl. Stokes, The Anglo-Indian Codes, Oxf. 1887-88,2 Bde.) Die Anzahl der Prozesse, welche an den anglo-indischen Gerichtshöfen zur Aburteilung gelangen, ist sehr bedeutend.
Namentlich die vermögensrechtliche Stellung der Witwe, der Grad ihrer Dispositionsfähigkeit über das von ihrem Manne ererbte Vermögen, gibt zu vielen Streitigkeiten Veranlassung. Die Gerichtskosten sind sehr hoch, doch wird die Unbestechlichkeit der englischen Richter auch von den Eingebornen rühmend anerkannt, und sie ziehen, wenn sie die Wahl haben, einen englischen Richter einem ihrer Landsleute bei weitem vor.
Vgl. West und Bühler, A digest of the Hindu law (3. Aufl., Bombay 1884,2 Bde.);
Jolly, Tagore law lectures (Kalkutta 1885);
L. v. Schröder, Indiens Litteratur und Kultur (Leipz. 1887).