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männl. | weibl. | |
---|---|---|
Ledige | 27 | 4 |
Verheiratete | 15 | 4 |
Verwitwete und Geschiedene | 10 | 3 |
In Österreich [* 2] begingen 1883 von je 1000 Einw. desselben Geschlechts und Zivilstandes Verbrechen:
männl. | weibl. | |
---|---|---|
Ledige | 48 | 8 |
Verheiratete | 27 | 4 |
Verwitwete | 20 | 4 |
2) Legitimität. Daß die unehelich gebornen Personen am Verbrechen stärker Anteil nehmen als die ehelich Gebornen oder Legitimierten und dadurch des Segens des geordneten Familienlebens teilhaftig Gewordenen, wird allgemein und wohl mit Recht angenommen, obgleich der ziffermäßige Beweis bisher fehlt, da man bekanntlich noch für kein Volk die Zahl der Illegitimen in der stehenden Volkszahl kennt.
3) Seßhaftigkeit. Die flottante Bevölkerung [* 3] ist ungleich krimineller als die seßhafte, denn der enge Zusammenhang in der Gemeinde, welcher die Scheu der Markgenossen voreinander erzeugt, aber auch die Lebensverhältnisse konsolidiert und sichert, schützt vor dem Verbrechen. Das wahre Berufsverbrechertum ist meist auch flottant, und seine Hauptherde sind neben den Proletariermassen der Vorstädte das eigentliche Bettler- und Vagantentum.
4) Konfession. Der Einfluß der Konfession kann im allgemeinen nur schwer für sich beobachtet werden, da sich mit demselben meist der Einfluß des Stammescharakters, der Rasse, Nationalität u. dgl. kreuzt. So zeigen z. B. die Katholiken und Protestanten gegeneinander ein wechselndes Verhalten, je nachdem, welche Staaten oder Gebietsteile man vergleicht, und je nachdem, in welchen Lebensverhältnissen sich die Angehörigen dieser beiden Konfessionen [* 4] befinden. Im Deutschen Reiche sind die Katholiken krimineller als die Evangelischen und auch als die Juden, wobei aber die letztern in den meisten mit dem Geschäftsbetrieb zusammenhängenden und einigen andern Delikten an der Spitze stehen, wie die folgende Tabelle aufweist; durch die fett gedruckten Ziffern ist leicht ersichtlich, welche Konfessionsangehörigen bei jedem einzelnen Delikt sowie überhaupt am kriminellsten sind.
Deutsches Reich. Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze nach der Konfession (1886).
Auf 100000 Einwohner (Gesamtbevölkerung) derselben Konfession kommen Verurteilte:
Hauptgruppen | Evang. | Kathol. | Juden |
---|---|---|---|
Delikte gegen Staat, Religion und öffentliche Ordnung | 118 | 119 | 139 |
Delikte gegen die Person | 252 | 344 | 233 |
Delikte gegen das Vermögen | 317 | 371 | 227 |
Einzelne Delikte | |||
Meineid | 1.6 | 2.0 | 3.2 |
Beleidigung | 87 | 93 | 136 |
Einfache Körperverletzung | 37 | 48 | 31 |
Gefährliche Körperverletzung | 92 | 157 | 37 |
Einfacher Diebstahl | 162 | 189 | 52 |
Schwerer Diebstahl | 18 | 21 | 4.4 |
Sachbeschädigung | 25 | 33 | 9.0 |
Brandstiftung | 1.2 | 1.1 | 0.4 |
Delikte gegen § 147 der Gew.-Ordn. | 10 | 5.4 | 17 |
Hehlerei | 13 | 18 | 13 |
Betrug | 25 | 27 | 63 |
Fälschung von Urkunden | 6.0 | 6.6 | 11 |
Einfacher Bankrott | 0.9 | 0.7 | 19 |
5) Nationalität und Volkscharakter. Die Kriminalität hat bei jedem der Hauptvölker einen bestimmten Charakter, wenn auch derselbe selbstverständlich nicht ausschließlich vom Faktor Nationalität oder Stammeseigentümlichkeit abhängig ist. Überdies ist dabei die Summe der Merkmale, welche man unter Stammeseigentümlichkeit, speziell unter Nationalität begreift, sehr umfassend und mit andern Ursachen gekreuzt, Immerhin aber läßt sich wenigstens für einige Hauptvölker, die Deutschen, Franzosen und Italiener, ihr krimineller Typus angeben.
In Frankreich (vgl. die Kartenbeilage) kommt die Zahl der Verbrechen gegen die Person, einschließlich jener gegen die öffentliche Ordnung einerseits den Verbrechen gegen das Eigentum etwa gleich, und gilt dabei als besonderes Merkmal die starke Verbreitung der Sittlichkeitsdelikte. Die kriminellsten Departements bilden einen zusammenhängenden Komplex, der den Norden [* 5] vom Osten bis zum Westen umfaßt, sich gegen Süden fortsetzt und durch einen schmalen Streifen (die Departements Tarn und Hérault) mit dem Komplex der Departements im Südosten zusammenhängt.
Dabei ist sonach die Mitte des Landes (mit Ausnahme von Puy de Dôme und Rhône) die günstige Gegend, ebenso wie vereinzelte äußerste Grenzdepartements im Norden, Westen und Süden. Was nun speziell die Delikte gegen die Person anbelangt, so stehen am ungünstigsten die Departements Seine, Seine-Inférieure nebst Umgebung, Rhône und Bouche du Rhône, Ober-Garonne, Gironde und die nördliche Bretagne, d. h. meist Departements mit großen Städten. Die Sittlichkeitsdelikte gegen Kinder und jene gegen Erwachsene haben untereinander ganz verschiedene Standorte; die erstern finden sich zumeist in den Departements mit großen Städten, Industriezentren und Handelsemporien, die letztern in Corsica, [* 6] den Alpen [* 7] und der Bretagne, so daß beide Arten ethisch wohl vollständig verschiedenartig zu qualifizieren sind.
Die Morde sind am zahlreichsten in Corsica, den südlichen Alpen und Pyrenäen; während in Corsica Gewehr und Pistole benutzt werden, dient sonst in erster Linie das Messer. [* 8] Der Kindesmord ist am häufigsten im Norden und Nordosten, in den zurückgebliebenen Gegenden der Bretagne und Umgebung, dann in Creuse, wo die männliche Bevölkerung auswärts beschäftigt ist, endlich in der Umgebung der Hauptstadt. Überhaupt sind Corsica und dann das Departement der Seine die kriminellsten Gebiete des ganzen Landes.
Corsica, welches bez. der Morde an der Spitze steht, ist, was die Eigentumsdelikte anbelangt, am Ende der Reihe zu suchen;
doch nehmen die Morde ab.
Dagegen wird die Stellung des Departements Seine immer ungünstiger;
es steht 1825-80 geradezu bez. aller Eigentumsdelikte entweder an erster oder nächstfolgender Stelle, ebenso wie bez. der Unsittlichkeit gegen Kinder;
dabei haben sich die Gewinnsuchtsdelikte um etwa die Hälfte vermindert, die Personaldelikte verdreifacht.
Die gesamte Kriminalität von Paris [* 9] hat sich in den letzten 40 Jahren verdoppelt, während sie in den übrigen Städten etwa um ein Viertel stieg und auf dem Lande um ein Drittel fiel.
Italien [* 10] (vgl. die Kartenbeilage). Die Kriminalität Italiens [* 11] ist schon an sich und auch im Verhältnis zu den übrigen Staaten hoch; die Delikte gegen die Person und gegen das Eigentum stehen sich beiläufig gleich, und dabei behaupten diejenigen gegen die öffentliche Ordnung einen ganz besonders hervorragenden Platz. Unter den Personaldelikten ragen ganz vornehmlich solche gegen das Leben, und zwar insbesondere der Totschlag, hervor. Der Süden ist entschieden krimineller als der Norden, und zwar stehen die Provinzen Livorno, [* 12] Rom, [* 13] Neapel, [* 14] Avellino, Campobasso in der Mitte, dann die Südspitze des Festlandes, das ¶
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nördliche Sardinien [* 16] und vereinzelt im Norden Treviso an der Spitze der Reihe. Für den südlichen Teil und Sardinien sind die Volksgebräuche der Vendetta (Sardinien), Mafia (Sizilien) [* 17] und Camorra (Süden, Kalabrien) als Hauptfaktoren der Delikte gegen das Leben zu nennen. Bezüglich der Personal- und der Eigentumsdelikte verhalten sich der Süden und Norden des Landes gerade entgegengesetzt. Die Eigentumsdelikte sind im Norden und Nordosten zu Hause, etwa mit Ausnahme von Piemont, dann in Treviso, Rom, Sassari.
Dagegen steht der Norden, was die Delikte gegen das Leben anbelangt, sehr günstig da; es finden sich diese in größerm Maße vielmehr ill Girgenti und der westlichen Hälfte von Sizilien, in Avellino und Campobasso, auf der Südspitze des Festlandes, in Nordsardinien und Rom. Die Sittlichkeitsdelikte sind im Süden des Festlandes am zahlreichsten. Die Hauptstadt ragt nicht entfernt so hervor wie in Frankreich, wenn sie auch immerhin bez. der Eigentumsdelikte in den vordern Reihen steht.
Deutschland [* 18] (vgl. die Kartenbeilage). In Preußen [* 19] bilden die Delikte aus Gewinnsucht, wenigstens in der letzten Zeit, ungefähr die Hälfte, stehen also etwas mehr im Vordergrund als in Italien; die andre Hälfte wird zum weitaus größten Teil durch die Personaldelikte ausgefüllt, wobei aber die Sittlichkeitsdelikte ziemlich zurücktreten; die Zahl der Delikte gegen die öffentliche Ordnung kann man nicht gerade als niedrig bezeichnen, etwa 15 Proz. Am ungünstigsten stellen sich bez. der Kriminalität überhaupt der Osten und die Mitte (Provinzen Ost- und Westpreußen, [* 20] Schlesien, [* 21] Posen, [* 22] Brandenburg), [* 23] am günstigsten Holstein und Hannover. [* 24]
Dabei zeichnet sich der kulturarme Osten mehr durch Gewinnsuchtsdelikte, der Westen besonders durch Leidenschaftsdelikte und Betrugsfälle aus. Bayerns Kriminalität ist gleichfalls eine hohe und nach Gebietsteilen sehr verschiedene; charakteristisch ist für Oberbayern Diebstahl, für Niederbayern Angriffe gegen Personen, für Schwaben Betrug, Oberpfalz Widersetzlichkeiten gegen die öffentliche Gewalt und für die Rheinpfalz Unsittlichkeitsdelikte. Sachsen [* 25] war insbesondere früher, vor etwa 20 Jahren, das Land zahlreicher Diebstähle, auf welche etwa zwei Drittel aller Delikte entfielen; dieselben haben aber seither bedeutend abgenommen.
Gegenwärtig betragen sie verhältnismäßig nur etwas mehr als in Preußen. Überhaupt sind die Gewinnsuchtsdelikte, dann jene gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit häufiger, jene gegen die Personen weniger zahlreich als anderwärts im Deutschen Reiche. Diese aus den Erhebungen der einzelnen Länder gewonnenen Resultate werden durch die Resultate der Reichskriminalstatistik im wesentlichen bestätigt. Nach derselben verteilt sich die Gesamtziffer der strafbaren Handlungen in solcher Weise auf die einzelnen Abschnitte des Reichsstrafgesetzbuchs, daß die Gewinnsuchtsdelikte etwas mehr als die Hälfte aller (51 Proz.) und speziell der Diebstahl etwa ein Drittel (32 Proz.) ausmachen. Die Verbrechen und Vergehen gegen die Personen sind im Anteil nicht viel stärker als das letztgenannte Delikt und betragen 34 Proz. Auf die dritte Hauptgruppe endlich, auf die Delikte gegen Staat, öffentliche Ordnung und Religion, entfallen 14 Proz., sonach etwa derselbe Prozentsatz, der für Beleidigung (13 Proz.) oder für Körperverletzung (15 Proz.) zu verzeichnen ist. Näheres ist aus folgender Tabelle ersichtlich.
Deutsches Reich. Verbrechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze (1887).
Delikte | Verurteilt Personen überhaupt | Verurteilt Personen auf 100000 strafmündige Einw. | Auf je 10000 Delikte |
---|---|---|---|
Sämtliche Delikte | 356357 | 1068 | 10000 |
I. Delikte gegen Staat, öffentliche Ordnung und Religion. | 62348 | 187 | 1390.5 |
1) Hochverrat | 28 | 0.08 | 0.9 |
2) Beleidigung der Fürsten | 540 | 1.6 | 14.1 |
3) Widerstand gegen die Staatsgewalt | 14686 | 44 | 305.6 |
4) Del. gegen die öffentl. Ordnung | 44582 | 134 | 993.0 |
5) Münzdelikte | 202 | 0.61 | 4.6 |
6) Meineid | 1515 | 4.5 | 49.2 |
7) Falsche Anschuldigung | 507 | 1.5 | 16.3 |
8) Religionsdelikte | 288 | 0.86 | 6.8 |
II. Delikte gegen Personen | 137745 | 413 | 3396.6 |
1) Bezügl. Personenstand | 106 | 0.32 | 2.5 |
2) Gegen die Sittlichkeit | 7571 | 23 | 270.3 |
3) Beleidigung | 44084 | 132 | 1343.9 |
4) Zweikampf | 99 | 0.30 | 1.2 |
5) Wider das Leben | 1326 | 4.0 | 30.9 |
6) Körperverletzung | 77727 | 233 | 1467.6 |
7) Wider die persönl. Freiheit | 6832 | 20 | 280.2 |
III. Delikte gegen das Vermögen | 154745 | 463 | 5124.0 |
1) Diebstahl und Unterschlagung | 99911 | 299 | 3196.1 |
2) Raub und Erpressung | 841 | 2.5 | 24.9 |
3) Begünstigung und Hehlerei | 7901 | 24 | 310.6 |
4) Betrug und Untreue | 15689 | 47 | 786.0 |
5) Urkundenfälschung | 3246 | 9.7 | 149.5 |
6) Bankrott | 780 | 2.3 | 17.4 |
7) Strafbarer Eigennutz etc. | 10039 | 30 | 209.4 |
8) Sachbeschädigung | 13099 | 39 | 351.8 |
9) Gemeingefährliche Delikte | 3239 | 9.7 | 78.3 |
IV. Delikte im Amte | 1519 | 4.6 | 88.9 |
Anlangend die territoriale Verteilung dieser verschiedenen Delikte, gemäß den Ergebnissen der Reichsstrafstatistik, sind die Delikte gegen die Person am häufigsten in der Pfalz, Ober- und Niederbayern, Oppeln [* 26] und Posen, seltener im Norden; speziell die Delikte gegen die Sittlichkeit in den Rheinlanden. Dagegen stehen die Gewinnsuchtsdelikte in Sachsen, Thüringen und Ostpreußen im Vordergrund. Für einige der größern Staaten stellen sich die Zahlen in folgender Weise heraus:
Verurteilte wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 1882-86 auf 100,000 strafmündige Einwohner.
Staaten | Gesamtzahl | Delikte gegen Personen | Delikte gegen das Vermögen |
---|---|---|---|
Preußen | 1016 | 368 | 514 |
Bayern | 1190 | 563 | 527 |
Sachsen | 973 | 276 | 544 |
Württemberg | 889 | 357 | 431 |
Baden | 831 | 307 | 448 |
Großherzogtum Hessen | 724 | 338 | 322 |
Sachsen-Weimar | 831 | 239 | 513 |
Oldenburg | 626 | 197 | 357 |
Elsaß-Lothringen | 722 | 354 | 313 |
b) Die sozialen Ursachen mit variabler und zwar akuter Wirkung.
1) Kriege. In Kriegszeiten geht die Verbrechensziffer gewöhnlich herab. Dies dürfte bei sogen. Volkskriegen auf einen Aufschwung des Volksgeistes ¶
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zurückzuführen sein; anderseits darf man nicht übersehen, daß zu Kriegszeiten die kriminellsten Volksklassen, nämlich jene zwischen dem 20. und 30. Jahre, unter den Fahnen stehen und vielleicht außer Landes sind, und daß naturgemäß eine Herabminderung der Thätigkeit der Gerichte eintritt. Nach dem Friedensschluß geht die Verbrechensziffer wieder entschieden in die Höhe, und es zeigt sich in derselben die Verrohung, welche in gewissem Maße als Folge eines jeden Krieges eintritt, vornehmlich durch die Vermehrung der Gewaltsamkeitsdelikte (s. Textfigur, S. 523).
2) Politische Revolutionen. Wie diese auf die Verbrechensziffer einwirken, hängt von den Ursachen und der Beschaffenheit der Revolten ab. Als ein höchst charakteristisches sozial-ethisches Moment sei hier erwähnt, daß Generationen, welche in Revolutionszeiten geboren worden sind, durch ihr ganzes Leben hindurch eine ganz prägnante Kriminalität beibehalten.
3) Ökonomische Krisen. Die ökonomischen Krisen finden in die städtische Bevölkerung ungemein leicht Eingang, äußern hier sehr bald und sehr rasch ihre Wirkungen durch die Erhöhung der Gewinnsuchts- und Gewaltsamkeitsdelikte, der Delikte gegen Staat, öffentliche Ordnung u. dgl.; sie verlieren aber ebenso rasch wieder, oft durch nebensächliche Umstände, ihre Wirkung. Dagegen dauert es meist geraume Zeit, ehe die Krisen ihre Einwirkung auf das offene Land ausüben, dafür aber sind dort ihre Spuren um so nachhaltiger und um so schwerer zu vertilgen. Alle diese genannten Ursachen mit variabler akuter Wirkung rufen in der Verbrechenskurve plötzliche markante Unterbrechungen, entweder Einschnitte oder Erhöhungen hervor, nach welchen deren Lauf wieder eine ruhigere Gestalt annimmt.
c) Soziale Ursachen mit variabler chronischer Wirkung.
Alle jene sozialen Thatsachen, welche wir unter dem Namen der Kultur zusammenfassen, üben auf die Entwickelung der Kriminalität eines Volkes einen allmählich umgestaltenden Einfluß aus. Die Einwirkung derselben ist gerade entgegengesetzt der Einwirkung der individuellen Ursachen, welche vielmehr die Grundlage der Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit in den alljährlichen Kriminalitätsziffern sind. Mit Hilfe der Kriminalstatistik ist man nun im stande, für einige Staaten und einen großen Zeitraum des 19. Jahrh. die Bewegung der Kriminalitätsziffer zu beobachten. Die wichtigsten Erscheinungen sind hier folgende:
1) Die strafbaren Handlungen im ganzen, also die schweren und leichten zusammengenommen, sind im Verlauf der letzten 30-50 Jahre im Steigen begriffen; dabei aber vermehren sich nur die leichten, während die schweren eher abnehmen. Nun ist es allerdings richtig, daß der Kreis [* 28] der strafgesetzlich zu ahndenden Delikte in diesem Jahrhundert eher in Zunahme als in Abnahme begriffen ist und viele Strafsachen aus der administrativen Gerichtsbarkeit in die strafgerichtliche übergingen; ferner, daß die Repression und die Ausbildung der Polizei immer mehr und mehr zunimmt. Diese Umstände dürften jedoch nur zu einer Abschwächung der Ziffern, keineswegs aber zu einer prinzipiellen Änderung des Resultats führen. Es ist ja überdies immerhin schon ein sozial-ethisch ungünstiges Symptom, wenn der Staat genötigt ist, früher erlaubte Handlungen als strafbar zu erklären oder administrative Strafsachen in richterliche umzuwandeln, resp. auf eine schärfere Handhabung der Repressivgewalt hinzuarbeiten.
Im Deutschen Reiche z. B. entfielen strafbare Handlungen auf 100,000 strafmündige Einwohner:
1882: 1215
1883: 1241
1884: 1316
1885: 1346
1886: 1362
1887: 1362
In Österreich kamen Verurteilte wegen Verbrechen auf 10,000 Einw.:
1882: 14,5
1883: 13,6
1884: 13,5
1885: 13,6
1886: 13,0
dagegen wegen Übertretungen in derselben Zeit 210,219,223, 237,244. Über den Gang [* 29] der Verbrechenskurve in Frankreich seit 1830 und in Preußen seit 1854 vgl. die zwei folgenden Tabellen:
Frankreich. (Alle Ziffern in 1000)
Jahr | Von den Schwurgerichten abgeurteilte Verbrechen | Von den Korrektions-Tribunalen abgeurteilte délits (Vergehen) | |
---|---|---|---|
gegen d. Eigentum | gegen die Person | ||
1826 | 4.2 | 1.6 | 41.0 |
1830 | 4.4 | 1.3 | 40.0 |
1835 | 3.8 | 1.9 | 50.1 |
1840 | 4.9 | 1.7 | 67.9 |
1845 | 3.8 | 1.7 | 76.7 |
1850 | 3.5 | 2.3 | 109.6 |
1855 | 3.5 | 1.7 | 127.6 |
1860 | 2.3 | 1.7 | 114.9 |
1865 | 2.0 | 1.8 | 116.0 |
1870 | 1.7 | 1.3 | 85.2 |
1875 | 2.3 | 1.8 | 145.3 |
1878 | 1.9 | 1.7 | 142.9 |
In Preußen kam in dem Zeitraum 1854-78 im Durchschnitt eine Untersuchung wegen
Jahr | Verbr. u. Vergehen | Übertretung auf Einwohner: | Holzdiebstahl |
---|---|---|---|
1854 | 170 | 103 | 52 |
1860 | 191 | 125 | 43 |
1865 | 182 | 122 | 45 |
1870 | 177 | 118 | 50 |
1875 | 176 | 79 | 59 |
1878 | 142 | 63 | 60 |
Den verschiedenen Gang der Kurve für die schweren und jener für die leichten Delikte soll die Darstellung (nach Starke) S. 523 versinnlichen.
2) Die Delikte aus Gewinnsucht nehmen relativ ab, jene gegen die Person zu, man zählte in Frankreich:
1826-30 | 1874-78 | |
---|---|---|
Verbrechen gegen die Person | 100 | 117 |
Verbrechen gegen das Eigentum | 100 | 49 |
In Deutschland wurden gezählt reichsstrafgesetzlich verfolgbare Handlungen, wegen deren Verurteilungen erfolgten im Verhältnis zu 100,000 strafmündigen Einwohnern:
Jahr | gegen die Person | gegen das Vermögen |
---|---|---|
1882 | 336 | 696 |
1883 | 349 | 708 |
1884 | 397 | 718 |
1885 | 416 | 724 |
1886 | 437 | 712 |
1887 | 447 | 702 |
Über Frankreich und Preußen, resp. längere Zeiträume vgl. die graphische Darstellung S. 523 und die vorhergehenden Tabellen. Wenn aber die Gewinnsuchtsdelikte nicht entschieden in Zunahme begriffen sind, so ist das ein Zeichen, daß die ökonomische Depression [* 30] unsrer Zeit in ihrer Einwirkung auf die Kriminalität nicht überschätzt werden darf.
3) Die Delikte werden gegen früher in erhöhtem Maße von einzelnen verübt, und die Zahl der sich zum Verbrechen Vereinigenden nimmt gegen früher stetig ab, letztere beträgt jetzt für Deutschland 3-4. Es entfallen z. B. auf je 100 Strafsachen in Frankreich Angeklagte:
1826-30 | 1874-78 | |
---|---|---|
bei Geschwornengerichten | 130 | 126 |
bei Korrektionstribunalen | 140 | 118 |
¶
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[* 31] ^[Abb.: Kriminalitätskurven [* 32] für Frankreich 1831-80.]
[* 31] ^[Abb.: Kriminalitätskurven für Preußen 1854-78.]
Auch im Deutschen Reiche ist dieselbe Tendenz ersichtlich, denn der Prozentsatz jener Delikte, welche von mehreren Personen begangen wurden, betrug:
1884: 9,3, 1885: 8,1, 1886: 7,6, 1887: 7,7.
4) Die Zahl der von Einer Person begangenen Delikte ist in Zunahme begriffen, womit die Zunahme der Rückfälligkeit in Verbindung steht. Was die Rückfälligen anbelangt, sei folgendes bemerkt: Preußen: Die sechsmal und öfter verurteilten Gefangenen vermehrten sich 1869-84 von 900 auf 2412. Frankreich: 1851-80 stiegen die verurteilten Rückfälligen im Verhältnis zu den Angeklagten bei den Geschwornengerichten von 33 auf 48 Proz. In Italien stiegen die Rückfälligen in Bagnos und Case di pena 1870-79 von 695 auf 2545, resp. von 2977 auf 3959 u. s. f.
5) Der Anteil der Frauen an der Kriminalität mindert sich eher; er fiel z. B. im Deutschen Reiche 1882-86 von 25 Proz. auf 23 Proz. oder in Frankreich bei den Verbrechen:
1826-30 | 1856-60 | 1876-80 | |
---|---|---|---|
Männer | 81 Proz. | 82 Proz. | 84 Proz. |
Frauen | 19 Proz. | 18 Proz. | 16 Proz. |
Diese Erscheinung steht im ursachlichen Zusammenhang mit der relativen Abnahme der gewaltsamen und schweren Delikte.
6) Die Beteiligung der jugendlichen Klasse bietet mehrere ethisch ungünstige Symptome, obzwar die relative Beteiligung dieser Klassen (9 Proz.) nicht ansteigt, wohl aber die absolute. Die Kriminalität der Jugendlichen nimmt nämlich zunächst vom frühsten Alter (12 Jahren) bis zur Zeit der Wehrpflicht ab; so ¶
mehr
fanden sich im Deutschen Reiche von 100 Personen jeder Altersklasse Verurteilte im Alter von 12-15 Jahren 8,7, 15-18 Jahren 8,3 und 18-21 Jahren 7,5. Dabei beteiligen sich die Jugendlichen an mehreren ethisch schwer wiegenden Delikten relativ stärker als die Erwachsenen (1886):
Erwachsene | Jugendliche | |
---|---|---|
Vermögensdelikte | 100 | 89 |
Delikte gegen Personen | 100 | 25 |
Unzucht mit Gewalt | 100 | 118 |
Einfacher Diebstahl | 100 | 132 |
Schwerer Diebstahl | 100 | 212 |
Brandstiftung | 100 | 173 |
Überhaupt ist die Kriminalität der jugendlichen Klassen in zunehmendem Maße auf Vermögensdelikte gerichtet; so waren z. B. von sämtlichen Verurteilten unter 18 Jahre alt bei Delikten gegen das Vermögen:
1882: | 14.7 |
1883: | 14.7 |
1884: | 15.0 |
1885: | 15.0 |
1886: | 15.3 |
1887: | 16.3. |
Und doch stehen den Jugendlichen dieser Altersklassen wenigstens teilweise noch die Hilfsmittel der Familie zu Gebote! Arbeitsscheu und mangelndes Rechtsgefühl dürften in weitem Maße verbreitet sein. Überhaupt ist die Kriminalität der Jugend in den mitteldeutschen Industriebezirken, dann in den Großstädten am größten. Dadurch tritt die Verwahrlosung der industriellen und großstädtischen Jugend als Folge der Auflösung der Familienbande bei der industriellen Arbeiterschaft deutlich hervor.
Halten wir alle diese Symptome der Kriminalität zusammen und beachten wir, daß dieselben in den meisten Kulturstaaten, in Deutschland, Österreich, Frankreich, England, zum Teil in Italien, in vielfach übereinstimmender Weise hervortreten, so gelangen wir zu dem Resultat, daß sich das 19. Jahrh. als eine Zeit zunehmender Kriminalität darstellt und letztere in ihrem Gange von der Ausbreitung der neuzeitlichen Kultur vollkommen abhängig ist, als deren für uns hier wichtigste Faktoren sich die Ausbreitung der allgemeinen Bildung, die Verleihung politischer Freiheiten, die Atomisierung der Bevölkerung und die Proletarisierung des industriellen Arbeiterstandes darstellen dürften.
Die zunehmende Beweglichkeit, die Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsschichten hat das frühere, den einfachern Verhältnissen entsprechende Vorwalten der Gewinnsuchtsdelikte beseitigt und andre Delikte mehr hervortreten lassen, wozu auch die mit zunehmender Dichte erhöhte Berührung und Reibung [* 34] der Individuen beiträgt; besonders hierdurch ist die Richtung der Kriminalität zu gunsten der Personendelikte verändert worden. Die allgemeine Zunahme der Bildung hat die schwereren Delikte verhältnismäßig vermindert, ohne aber diese günstige Einwirkung auch auf die leichtern Strafsachen ausüben zu können.
Die zunehmende Atomisierung und Individualisierung der Bevölkerung hat die Gemeinsamkeitsdelikte vermindert, aber auch die Deliktsmöglichkeit und das Verbleiben im Verbrechen erhöht, da das haltlos, mehr auf sich selbst angewiesene Individuum leichter dem Verbrechen in die Arme gerät und schwerer von demselben loskommt; daher die Zunahme der Rückfälligkeit, aber auch die Zunahme der Kriminalität der jugendlichen, schon frühzeitig zur Selbständigkeit genötigten Klassen.
Die Erteilung der politischen Freiheiten hat das Selbstgefühl gesteigert und die Delikte gegen die öffentliche Ordnung, Religion, gegen Personen überhaupt häufiger gemacht. Wo die politische Freiheit jüngern Datums ist, wie in Italien, sind Delikte gegen Staat und öffentliche Ordnung häufig, wo sich dagegen die Freiheiten mehr eingelebt haben, sind die Delikte selten, wie im Deutschen Reiche. Für die Zukunft wird also dieser Faktor der politischen Freiheiten die ungünstige Einwirkung, die er anfangs ausüben mußte, verlieren.
Die Proletarisierung des Arbeiterstandes mit dessen Aussichtslosigkeit in ökonomischer Beziehung in Verbindung mit seinem ausgeprägten politischen und Individualgefühl ist ein Haupthebel der zunehmenden in diesem Jahrhundert gewesen, und überdies fanden die Leidenschaften der Sinnlichkeit, Gefühlsroheit und Selbstüberhebung eine mächtige Förderung durch den Alkoholismus. Wenn auch nun die Ziffern der Kriminalität vielfach nur scheinbar eine zunehmende Kriminalität anzeigen, indem durch die Gesetzesänderungen und erhöhte Repression auch eine Zunahme der ersichtlichen Delikte hervorgerufen worden ist, so ist doch der Einfluß dieses Umstandes, wie schon oben bemerkt, kein alterierender, sondern höchstens ein abschwächender.
Aus allen diesen Anhaltepunkten können wir aber auch für die Zukunft den Schluß ziehen, daß mit zunehmender Konsolidierung der Arbeiterverhältnisse auf Grundlage der modernen Sozialpolitik, durch verbesserte Armenpflege, dann durch das Einleben der politischen Freiheiten, durch Ausgestaltung der Bildung nach dem erzieherischen Moment, durch Eindämmung des Alkoholismus und nicht zum mindesten durch eine Reform des Strafrechts und Strafvollzugs eine rückläufige Bewegung in die Verbrechensziffer hineingetragen werden und die Kriminalität weiter zur Abnahme gelangen wird.
Man vermutet, daß diese Tendenz schon jetzt hervortrete, was aber nicht richtig sein dürfte. Wenn sich jetzt hier und da eine Besserung zeigt, so dürfte diese nur geringe Schwankungen in dem großen Gange der Kriminalitätsziffer dieses Jahrhunderts andeuten, welche für deren Gesamttypus von keiner wesentlichen Bedeutung sind, denn es ist selbstverständlich, daß der Verlauf der Kriminalitätskurve in diesem Jahrhundert durchaus nicht ein durchwegs ansteigender gewesen ist, sondern vielfach von Abnahmen unterbrochen wurde, und daß überdies ihre jährlichen Schwankungen die verschiedenartigste Gestalt zeigen.
Litteratur: E. Mischler in Holtzendorff-Jagemanns »Handbuch des Gefängniswesens« (Bd. 2, Hamb. 1888);
Derselbe, Zur Kriminalität des Deutschen Reiches (in Brauns »Archiv für soziale Gesetzgebung«, 1889);
A. v. Öttingen, Moralstatistik (3. Aufl., Erlang. 1882);
Starke, Verbrechen und Verbrecher in Preußen 1854-78 (Berl. 1884);
»Compte général de l'administration de la justice criminelle en France« für 1880; die amtliche »Statistik des Deutschen Reiches: Kriminalstatistik«; für Italien: »Statistica giudiziaria penale« (Rom).