(spr. grammóng),FrançoisPhilippeHenri Delmas de, franz.
Historiker, geb. zu
Versailles,
[* 3] trat 1854 als
Offizier in die
Armee, der er bis 1871 angehörte, widmete sich darauf geschichtlichen
Studien und lebt als Mitglied der
Akademie
in
Algier. Von seinen
Schriften nennen wir: »Le
[* 4] R'azouat est-il l'œuvre de Kheïr-ed-din Barberousse?« (Villeneuve-sur-Lot
1873);
[* 11]
Karl, Neuphilolog, Verfasser zahlreicher Sprachlehrbücher, geb. zu
Greiz,
[* 12] anfangs
Kaufmann, widmete
sich später sprachwissenschaftlichenStudien und wurde Oberlehrer am
Gymnasium in
Marienwerder.
[* 13] Er machte
das von den Engländern
Ellis und
Pitman erfundene phonetische
System zuerst in
Deutschland
[* 14] bekannt (»The spelling reform«, Leipz.
1852). Von seinen durch Wissenschaftlichkeit und pädagogischen
Takt ausgezeichneten, zum Teil an die
Ahn-SeidenstückerscheMethode sich anlehnenden Sprachlehrbüchern fanden die meiste Verbreitung: »Simplest method of acquiring
an elementary knowledge of the French language«;
»A practical and methodical grammar of the French language« (2
Tle.);
»Nouvelle
méthode pour apprendre la langue anglaise« (2
Kurse);
»Grammaire complète de la langue anglaise« (2 Bde.);
Auch
gab er eine
»Englische
[* 16]
Chrestomathie« (in 2 Teilen, 5. Aufl., Leipz. 1889) und
ein »Handbuch der neuern und neuesten französischen Litteratur« (das.
1864,2 Bde.) heraus.
(Grenznutzen, engl.
Final degree of utility), der Wert, welchen von einer
Menge von
Gütern
gleicher Art die letzte
Einheit für uns hat. Nach einem alten
Erfahrungssatz sinkt bei sonst gleich bleibenden Umständen
mit steigendem
Preise die
Nachfrage, indem die einen das teurer gewordene
Gut überhaupt nicht mehr begehren, während andre
ihren
Bedarf einschränken und sich mit einer geringern
Menge begnügen. Bei sinkendemPreise nimmt dagegen
die
Nachfrage zu, indem neue
Käufer auftreten und andre mehr
Güter zu erlangen trachten als vorher.
Hieraus geht hervor, daß man für eine kleinere
Menge verhältnismäßig mehr hinzugeben gewillt ist als für eine größere,
oder daß sie verhältnismäßig höher geschätzt wird als die letztere. Ist man geneigt, zu zahlen
für
Mengen von 1,2,3, 4,5,6, 7,8Lit. je 20,39,56, 70,80,83, 83,79
Mk., aber nicht mehr als diese
Summen, so schätzt man ein einzelnes
Liter zu 20 Mk.
Da man aber für 2
Lit. nicht 40, sondern
nur 39 Mk. gibt, so bemißt man den Wert des 2.L. auf 19 Mk. Denn sobald mehr als diese
Summe verlangt
wird, nimmt man vom
KaufeAbstand.
Für eine
Mengevon 3L. gibt man eben noch 56 Mk. Man ist demnach bereit, für das 3., zu den frühern
beiden hinzukommendeLiter 17 Mk. zu zahlen, ebenso für das 4.L. 14, für das 5. 10, für das 6. 3,
für das 7. aber würde man nichts zahlen, weil man nicht mehr in der
Lage wäre, es zweckmäßig zu verwenden. Das 7.L.
wäre demnach für uns wertlos. Sollte man 8L. übernehmen, so werden uns etwa Unbequemlichkeiten und
Kosten verursacht. Wir würden darum für 8L. weniger zahlen als für 7 und könnten demnach sagen, daß das 8.L. für
uns nicht nur wertlos sei, sondern für uns geradezu einen Unwert habe. Die Grenzwerte jedes letzten
Liters wären in unserm
Falle bei den
Schätzungen dieser Art stehen in Übereinstimmung mit physiologisch-psychischen Zuständen und
Wirkungen. Von verschiedenen
Unterhaltsmitteln können
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mehr
wir je nur Mengen bis zu bestimmter Höhe in angemessener Weise verwenden. KleinereMengen erwecken eine gewisse Befriedigung.
Das Gefühl der Befriedigung wird um so größer, je größer die Menge wird; aber diese Zunahme ist keine schrankenlose. Von
einem gewissen Punkte ab können Lust und Annehmlichkeit in Unlust und Unannehmlichkeit umschlagen. Für
den Dürstenden ist eine kleine Menge eines Getränks außerordentlich wertvoll; aber er kann sich nicht mehr als satt trinken.
Nimmt er mehr von dem Getränk zu sich, so ist die Wirkung ein Gefühl des Unbehagens. Das Gleiche gilt auch von Speisen, ebenso
von Kleidungsstücken etc. Ein Anzug ist uns als Schutz gegen die Unbilden der Witterung oder auch im Interesse
der Wohlanständigkeit unentbehrlich. Ein zweiter kann uns, schon um mit der Kleidung wechseln zu können und auch im Interesse
der Bequemlichkeit, recht wertvoll sein. Wären wir aber genötigt, uns Tausende von Anzügen zu beschaffen und sie auch alle
in raschestem Wechsel zu benutzen, so würden uns empfindliche Lasten und Kosten erwachsen. Aber auch bei Bedürfnissen geistiger
Art, deren Befriedigung nicht unmittelbar ein körperliches Wohlbefinden hervorruft, können wir leicht ähnliche Erscheinungen
beobachten. Ein Zuviel hat bekanntlich Blasiertheit, Abstumpfung und endlich Widerwillen und Ekel zur Folge.
Aus diesen Thatsachen ergibt sich für uns eine Richtschnur für unser wirtschaftliches Verhalten und
unsre Haushaltsordnung. Unsre gesamte Aufwandsfähigkeit an Kräften und Mitteln ist jeweilig eine bestimmt gegebene. Unsre Bedürfnisse
sind aber einer praktisch unbegrenzten Ausdehnung
[* 32] fähig, wir können uns die mannigfaltigsten Zwecke setzen, die verschiedensten
Gegenstände verwenden. Nun werden wir suchen, die höchstmögliche Gesamtbefriedigung zu erzielen.
Dies höchste Maß wird aber nicht dadurch erreicht, daß wir bei einer oder wenigen Güterarten ein Maximum erstreben, sondern
wir müssen von den verschiedensten Gütern, welche Gegenstand unsers Verlangens sind, so viele zu erlangen suchen, daß die
Werte je der letzten Mengen der verschiedenen Arten einander gleich sind. Nun ist aber der Wertbegriff, der
ein Größenbegriff ist, ebenso wie letzterer überhaupt, ein Ergebnis der Vergleichung. Sind uns 10 Lit. Bier soviel wert
wie 2L.Branntwein, so ist uns 1L.Branntwein fünfmal soviel wert als 1L.Bier, oder wenn wir den Wert von 1L.Bier
= 1 setzen, so würden wir denjenigen von 1L.Branntwein mit der Zahl 5 beziffern. In dieser Art verfahren wir mit dem Gelde.
Wir setzen einfach den Wert von 1 Mk. = 1. Geben wir für die Einheit einer Güterart eben noch 10 Mk., so ist uns dieselbe 10 Mk.
wert. Haben wir nun eine bestimmte Anzahl von Mark zur Verfügung, so werden wir von den verschiedenen Güterarten so viel erwerben,
daß je der Grenznutzen der einen, dividiert durch den Preis derselben, gleich dem Grenznutzen der andern, dividiert durch
deren Preis, ist, mit andern Worten, daß wir mit der letzten Mark überall einen gleich hohen Grenznutzen
erkaufen. Der einen Verwendung werden wir so lange Mittel entziehen und für eine andre benutzen, als der Verzicht auf der
einen Seite durch den Vorteil auf der andern Seite überwogen wird. Der größte Nutzen aber wird erzielt, sobald auf beiden
Seiten Gleichheit besteht.
Sei unser Begehr gerichtet auf Seide
[* 33] und Bier, sei die Summe, über welche wir verfügen, gleich 108 Mk., der Preis eines Hektoliters
Bier gleich 9 Mk., der eines Meters Seidenstoff gleich 18 Mk. und seien Nutzen der Gesamtmenge und der Grenznutzen durch folgende
Zahlen ausgedrückt, wobei
G/P den Quotienten als Grenznutzen und Preis darstelle:
Der größte Nutzen wird erzielt, wenn 3 m Seide und 6 hlBier gekauft werden. Der Grenzwert für 6 hl, d. h. der Wert für das 6. hl,
ist, in einer absoluten Zahl genommen, gleich 13. Diese Größe durch den Preis dividiert, gibt 1 4/9;
dies wäre die Menge Nützlichkeit, welche man für 1 Mk. erstehen kann. Ebenso finden wir für 3 m Seide die Größe 1 4/9.
Der dann erzielte Gesamtnutzen wäre gleich 95 + 205 = 300. Für jede andre mögliche Zusammensetzung von MengenSeide und Bier,
welche für 108 Mk. gekauft werden könnten, ist der Gesamtnutzen kleiner. So
finden wir für 6 m Seide 128, für 5 m Seide und 2 hlBier 215, für 4 m Seide und 4 hlBier 275 und für 2 m Seide und 8 hlBier 282. Alle
diese Größen sind kleiner als 300. Bei einer richtigen Ordnung des Haushalts würden demnach die Grenzwerte
der verschiedenen Güter, welche man erwirbt, je gleich dem Preise derselben sein.
Der Preis eines MetersSeide ist 18 Mk. Die absolute Zahl für den Grenznutzen von 3 m, also für die Nützlichkeit
des 3. Meters, ist 26. Als relative Zahl, d. h. Seide verglichen mit Geld, erhalten wir 26/1 4/9 = 18, oder
das 3. MeterSeide ist uns eben noch die 18 Mk. wert, welche wir für dasselbe geben müssen. Wäre der Preis höher, so würden
wir dieses 3. Meter nicht mehr kaufen. Der Preis der 3 m zusammen genommen ist gleich 3×18 = 54 Mk. Ist 18 Mk.
der normale Marktpreis, so würden wir 54 Mk. auch als Tauschwert von 3 m bezeichnen. 126 Mk. wäre der Preis und auch der Tauschwert
von 7 m Seide. Dagegen schätzt der Käufer diese 7 m nicht so hoch. Er würde bewerten das 1. zu 37/1
4/9 = 25 12/13, das 2. zu 22 2/13, das 3. zu 18 Mk., dagegen das 4. auf 12 6/13, das 5. auf 6 12/13,
das 6. auf 3 6/13 und das 7. auf 1 5/15 Mk., demnach alle 7 m zusammen auf 90 4/13. Die
ersten 2 m schätzt er höher, die letzten 4 dagegen niedriger als den Marktpreis oder den sogenannten Tauschwert.
Die Wertskala, wie sie oben in einem Beispiel dargestellt wurde, ist nicht für alle Menschen die gleiche, sie ist auch für
einen und denselben Menschen keine feststehende, sondern sie kann zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene
Gestalten aufweisen. Der Gestaltung selbst wird man sich kaum jemals voll bewußt. Weil dies eben praktisch nicht nötig
ist, so fragt man sich auch nicht, wieviel man für das 1., 2., 3. etc. Hektoliter gerade noch
zahlen würde. Dagegen wird jeder, welcher wirtschaftliche Erwägungen anstellt, sich darüber klar zu
werden suchen, welche Menge er bei gegebenem
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mehr
Preise anschaffen soll, und in wieweit er bei einer Preisänderung seinen Bedarf einschränken muß oder noch ausdehnen darf.
In gleicher Weise überlegt man bei einem einzelnen Gegenstand, ob er den geforderten Preis wert sei. Insofern tritt auch im
wirklichen Leben ein Unterschied zwischen Preis und Wert in Erscheinung. Ebenso kann aber auch der Preis,
den ein einzelner stellt, von demjenigen abweichen, zu welchem ein Gegenstand allgemein zu haben ist, dem Marktpreis oder
Tauschwert.
Oft hat man nur diese letztere Größe im Auge,
[* 35] wenn man sagt, daß ein Ding über seinen Wert bezahlt oder unter seinem Wert
verkauft worden sei. Da nun aber die Wertschätzung nicht einfacher Natur, vielmehr oft eine sehr schwierige
ist, so entbindet man sich gern derselben in allen denjenigen Fällen, in welchen bei gegebenem Marktpreis verschiedene Mengen
gekauft werden, nimmt trotz dem, daß man bei sich änderndem Preise auch seine Nachfrage ändert, die Begriffe Wert und Preis
als gleichbedeutend an und sagt, wenn der Marktpreis steigt oder sinkt, der Wert habe sich erhöht oder vermindert. Dagegen
werden wir uns des Unterschiedes zwischen Wert und Marktpreis immer dann bewußt, wenn es sich darum handelt, ob zu dem gegebenen
Preise überhaupt gekauft oder ob auf die Anschaffung verzichtet werden soll.
Geschichte. Ende Oktober 1890 fanden die Neuwahlen für die Kammer statt. Obwohl Trikupis in den 4 Jahren seiner Regierung die
Finanzen, freilich nicht ohne Mehrbelastung durch Steuern, in bessern Zustand gebracht und die internationale StellungGriechenlands durch weise Zurückhaltung wesentlich gehoben hatte, so strebten doch die Politiker der andern Parteien ungeduldig
wieder zur Regierung zu gelangen und vereinigten sich unter Vertagung ihrer innern Streitigkeiten zur gemeinschaftlichen Bekämpfung
des MinisteriumsTrikupis bei den Wahlen.
Bernardo, ital. Staatsmann, wurde im Dezember 1890 abermals zum Finanzminister ernannt und zugleich mit der
einstweiligen Verwaltung des Schatzministeriums beauftragt.
(Influenza), eine Infektionskrankheit, welche wie kaum eine andre die Neigung hat, in gewissen großen Zeitabschnitten
nicht nur ganze Länderstrecken, sondern sogar ganze Erdteile oder gar Erdhemisphären zu überziehen. Sie ist eine »Pandemie«
in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Da dieselbe seit 1874/75 nicht mehr in großer Verbreitung auftrat,
speziell Deutschland (mit Ausnahme Bayerns) seit 1857/58 keine große Grippe-Epidemie mehr sah, war die Krankheit ziemlich in
Vergessenheit geraten, als der Winter 1889/90 uns wieder eine echte typische Grippe-Pandemie brachte.
Einmal in den deutschen Seestädten angelangt, war die Epidemie auch schnell in Berlin, dann folgte sofort
eine Reihe großer, teilweise weit entfernt gelegener Städte, wie Breslau,
[* 60] Hannover,
[* 61] Köln, Mainz.
[* 62] Gleichfalls schon Anfang Dezember
(um den 5.) begannen die massenhaften Erkrankungen im Magasin du Louvre zu Paris, erst später folgten manche andre, zwischen
Paris und den östlichen, schon früher befallenen, gelegene große Städte; so wurde München nach Wien
und Paris befallen. Aus New York liefen die ersten Nachrichten über Grippe etwa 14 Tage nach dem Beginn der Erkrankungen im Magasin
du Louvre ein; nach England und Spanien
[* 63] scheint die Grippe erst gegen Ende Dezember gelangt zu sein; oberitalienische Städte ergriff
sie vor den südlich gelegenen.
Die Frage, wie man sich die Ausbreitung der Grippe zu denken habe, war auch bei frühern Epidemien stets eine
vielumstrittene gewesen; besonderes Interesse hatte sie aber bei der neuesten, weil sich in den letzten Jahren die Anschauungen
über die Verbreitung von Infektionskrankheiten infolge genauerer Kenntnis der Erreger vieler derselben wesentlich geändert
haben Schon früher waren im wesentlichen drei Ansichten verbreitet: nach der ersten sollte durch irgend welche Witterungs-
oder Bodeneinflüsse mit einemmal an den verschiedensten Orten der Welt das Grippemiasma entstehen können.
Nach der zweiten Anschauung sollte das Miasma nur an einem bestimmten Orte entstanden oder schon vorhanden gewesen sein und
sollte durch Luftströmungen über Länder und Meere hin befördert werden können. Nach der dritten Anschauung endlich wurde
die Krankheit für »kontagiös«, d. h. vom
Menschen auf den Menschen übertragbar, gehalten, und ihre Verbreitung sollte durch den Verkehr vermittelt werden. Die erste
dieser drei Anschauungen ist als längst widerlegt zu betrachten, denn einmal können niemals, während
eine Pandemie in wenigen Wochen oder Monaten fast den ganzen Erdkreis überzog, allenthalben dieselben Witterungsverhältnisse
bestanden haben; zweitens ist diese Anschauung mit unsern jenigen Kenntnissen von der Natur der spezifischen Krankheitserreger
nicht vereinbar.
Die zweite Annahme ist bisher im wesentlichen die herrschende gewesen und zählt noch viele Anhänger:
sie stützt sich hauptsächlich auf die Beobachtung, daß viele Epidemien in der Wahl ihres Verbreitungswegs einer bestimmten
Himmelsrichtung folgten, insbesondere daß dieselben in frühern Jahrhunderten stets von Westen nach Osten, später stets von
Osten nach Westen gewandert seien;
auch die neueste Epedimie ^[richtig: Epidemie] hat ihren Zug
von Nordosten
nach Südwesten genommen.
Die genannte Beobachtung ist jedoch nicht für alle Epidemien gültig; es kamen auch Epidemien vor,
welche von Norden
[* 64] nach Süden und umgekehrt zogen. Hauptsächlich aber wird diese zweite Anschauung durch diejenigen Argumente
bekämpft, welche für die dritte sprechen, d. h. für die Annahme, daß die Grippe sich nicht von Luftströmungen,
sondern vom Verkehr abhängig zeige. Besonders die neueste Epidemie hat hierfür zahlreiche und gewichtige Beweismittel beigebracht:
Es sind in erster Linie überall zuerst die großen Städte befallen worden, und erst von diesen aus drang die Seuche in die
kleinern Orte und aufs platte Land. Nicht selten wurde auch ein Überspringen dazwischen gelegener, gleichfalls
großer, aber nicht so sehr im Weltverkehr liegender Städte beobachtet (vgl. das erwähnte Verhalten von München gegenüber
Wien und Paris), welches durch die Annahme von Luftströmungen nicht erklärt werden könnte.
Ferner hätten bei der genannten Annahme die italienischen Städte mehr gleichzeitig befallen werden müssen,
dagegen ist hier die Ausbreitung der Seuche ganz den Landweg gegangen. Gewissermaßen eine Probe aufs Exempel wurde von denjenigen,
welche Grippe für kontagiös halten, angestellt durch folgenden Schluß: ist die Krankheit vom Verkehr abhängig, so muß sie jetzt,
bei den beschleunigten Verkehrsmitteln, auch rascher ihren Lauf nehmen. Da fand sich denn, daß beispielsweise,
wie schon erwähnt, die Epidemie schon 14 Tage nach ihrem Beginn in Paris sich bereits in New York zeigte (die Überfahrt dauert
8-10 Tage).
Ferner stellt der Bericht über »Die Grippe-Epidemie im deutschen Heere 1889/90« fest, daß 1833 die Grippe 3 Monate brauchte, um
sich über die größern GarnisonenDeutschlands
[* 65] zu verbreiten, während diesmal hierzu wenige Tage genügten,
und innerhalb von 5 Wochen die Epidemie auch die kleinsten und entlegensten Garnisonen erreicht hatte. Eine Hauptstütze derjenigen
Anschauung, welche in einem durch Luftströmungen fortbewegten Miasma den Verbreitungsmodus der Grippe sieht, ist das Befallenwerden
von Schiffen auf hoher See, wenn gleichzeitig auf den zunächst gelegenen Küstenstrichen Grippe herrschte
und gleichwohl in dem zuletzt angelaufenen Hafen von Grippe noch nichts bekannt war.
Diesem Beweismittel, welches schon an sich nicht ganz überzeugend klingen will, steht das andre gegenüber, daß häufig
schon durch Schiffe die Grippe auf Inseln (so nach Island)
[* 66] gebracht wurde, woselbst sie zuvor nicht gewesen
war, wiewohl sie über den ganzen Kontinent sich verbreitet hatte. So haben sich denn, veranlaßt durch die genannten und
viele ähnliche Beobachtungen bei der letzten Epidemie, die meisten Ärzte der Überzeugung zugewendet, daß man es bei der Grippe mit
einer kontagiösen Krankheit zu thun habe, wobei jedoch die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit, daß
auch gewisse klimatische Einflüsse bei der Ausbreitung der Grippe mit ins Spiel kommen können, nicht geleugnet werden soll.
Eine Anschauung, welche versucht, den mehr bakteriologischen mit dem mehr meteorologischen Standpunkt, jedoch zu gunsten des
letztern, zu vereinigen, ist die von Aßmann, welcher nachweist, daß während des Höhepunktes der Grippeverbreitung
im MonatDezember über ganz Mitteleuropa eine wegen bedeckten
¶
mehr
Himmels der vertikalen Luftströmungen entbehrende, gleichwohl aber trockne Atmosphäre geherrscht hat, welche durch Niederschläge
nicht ausgewaschen wurde und daher staubreich sein mußte. Dieser Staubluft weist Aßmann die Rolle des Trägers der Infektionskeime
zu, ohne im Einzelfall die Kontagion zu bestreiten. Konnte auch die Ansicht von der Verbreitung der Grippe durch
die Luft sich nicht allgemeine Zustimmung verschaffen, so ist doch ein Einfluß der klimatischen Verhältnisse auf den Verlauf
der Erkrankung vielfach beobachtet und von allen Seiten zugegeben worden. Zu der Ansicht von der Kontagiosität der Grippe gelangte
man auch noch, abgesehen von den Verbreitungswegen der Seuche, durch den Schluß, daß es sich bei der
Entstehung der Grippe wohl auch wie bei andern, genauer bekannten Infektionskrankheiten um Mikroorganismen (Bakterien oder Protozoen)
handeln müsse, und von solchen ist noch niemals eine weitere Verbreitung durch die Luft als höchstens eine engl. Meile (Pockenkontagium)
beobachtet worden. Es ist demnach bei der letzten Epidemie von vielen Forschern aufs eifrigste versucht
worden, die Erreger der Grippe vermittelst der bakteriologischen Untersuchungsmethoden aufzufinden; diese Versuche haben aber
kein positives Ergebnis gehabt.
Zwar sind viele für die Beurteilung der Krankheit wichtige Beobachtungen gemacht worden, es wurde eine Reihe teils schon bisher
bekannter, teils neuer spezifischer Krankheitserreger bei Grippefällen aufgefunden, aber es muß konstatiert
werden, daß diese alle nicht die Erreger der Grippe sind, sondern
daß sie die besonders schweren Mit- und Nachkrankheiten
der Grippe hervorrufen. Dahin gehören der Nachweis von Streptokokken, des Fränkelschen Diplococcus pneumoniae u. a.
(vgl. Bakterien, S. 85). Klebs gibt auch an, daß er Flagellaten, zu den Protozoen gehörige Organismen,
gefunden habe, doch konnten andre diesen Befund nicht bestätigen. An und für sich würden Protozoen viel Wahrscheinliches
haben. Beim zehnten internationalen medizinischen Kongreß sprach sich R.Koch dahin aus, daß wir über die Erreger der Grippe noch
nichts wissen, daß es sich hier vielleicht um andre Gruppen von Mikroorganismen handle, indem er an die
bei Malaria gefundenen Plasmodien erinnerte.
Greise und jugendliche Personen wurden besonders heftig befallen, dagegen blieb am meisten verschont
das jüngste kindliche Alter;
so wurde beobachtet, daß die höhern Klassen der Schulen mehr ergriffen wurden
als die jüngern, und zwar wuchs die Erkrankungszahl von 22 Proz. der Fälle im 7. Lebensjahr auf 33 Proz. im 14. BeimMilitär
erkrankten häufiger die jüngsten Jahrgänge als die ältern, desgleichen Kadetten, Unteroffizierschüler etc. Nicht ganz
selten wird ein und dasselbe Individuum zweimal in derselben Epidemie ergriffen.
Daß der Gang
[* 68] der Grippe-Epidemie als solcher
unabhängig ist von klimatischen und tellurischen Einflüssen, haben alle frühern
Beobachtungen übereinstimmend gelehrt: dieselben sind zu jeder Jahreszeit, unter jedem Himmelsstrich, in hoch gelegenen Gegenden
wie in Niederungen, mitten auf dem Kontinent und auf Schiffen auf hoher See aufgetreten. Dagegen scheinen die Witterungsverhältnisse
Einfluß auf das mehr oder weniger häufige Erkranken gewisser Personen zu haben. In demBericht über die
Grippe-Epidemie im deutschen Heere wird das häufigere Erkranken der Rekruten und des Ausbildungspersonals derselben den Witterungseinflüssen
schuld gegeben.
Von den Grippekranken in Köln kamen 19,4 Proz. auf das israelitische Krankenhaus,
[* 71] 18 Proz. auf die städtische Irrenanstalt, 14 Proz.
auf die Gefangenenanstalt, 19 Proz. auf die Straßenbahngesellschaft, 42 Proz.
auf die Ärzte, 30,8 Proz. auf die Schulkinder und 4,2-5
Proz. auf die Arbeiter von zwei Fabriken. Alles dieses spricht jedoch mehr für Kontagiosität der Krankheit als für Witterungseinflüsse.
Welcher Prozentsatz der Bevölkerung ergriffen wurde, ist, solange die Ergebnisse der über die letzte Epidemie ins Werk gesetzten
Sammelforschung noch nicht bekannt sind, schwer abzuschätzen; in Köln wurden 70,000 Grippefälle gezählt,
was einer Erkrankungsziffer von 20 Proz. der Einwohnerschaft entsprechen würde. Von den deutschen
Heeren (einschließlich Marine) sind insgesamt 55,263 Mann an Grippe erkrankt; davon entfallen auf Gardekorps und 1.-15. Armeekorps
45,100 Mann = 105,8 pro Mille der Kopfstärke. Im 1. bayrischen Armeekorps erkrankten 5438 Mann = 208,9
pro Mille, im 2. bayrischen Armeekorps 4248 Mann = 195,2 pro Mille der Kopfstärke.
Über die Zahl der Erkrankungsfälle in den einzelnen Gegenden Deutschlands mag diejenige, welche im Heere beobachtet worden
ist, ein auch für die bürgerliche Bevölkerung ziemlich richtiges Bild geben, da eine wesentliche Verschiedenheit
in den Erkrankungsziffern wohl kaum bemerkbar gewesen sein dürfte und das vom Heere gewonnene statistische Material den Vorzug
absoluter Zuverlässigkeit besitzt. Es geht aus der Mortalitätsstatistik die bemerkenswerte Thatsache hervor, daß der Südwesten
Deutschlands erheblich mehr durchseucht wurde als alle übrigen Teile des Reiches. Näheres ergibt die der unten
citierten offiziellen Schrift entnommene Karte (S. 379), welche die Zahl der Erkrankungen in den einzelnen Armeekorps zur Anschauung
bringt.
Die Grippe gilt als ziemlich ungefährliche Krankheit, und sie genoß besonders im Beginn der letzten Epidemie noch diesen Ruf. Betrachtet
man nur die reinen Grippeformen, so wird die Krankheit auch jetzt noch als sehr ungefährlich zu bezeichnen
sein: von den 55,263 Erkrankten des deutschen Heeres (einschließlich Marine) starben 60 = 0,1 Proz. der Erkrankten. Doch ist
hierbei zu bedenken, daß eine relativ hohe Mortalität durch die Mit- und Nachkrankheiten, insbesondere Lungenentzündung,
hervorgerufen wurde, sowie daß die Grippe besonders durch Schaffung einer besondern Disposition zu andern
schweren Krankheiten gefährlich wurde, und in diesem Sinne läßt sich aus der Einwirkung der Grippe auf die Gesamtsterblichkeit
ein besseres Urteil über ihre Gefährlichkeit gewinnen, als wenn die Mortalität der Krankheit für sich allein ins Auge gefaßt
wird. Die folgende Tabelle gibt die Sterblichkeit, auf Kopf und Jahr berechnet, in den größern StädtenDeutschlands nach den Veröffentlichungen des kaiserlichen Gesundheitsamtes vor und während der Grippe-Epidemie (November einerseits
und Dezember und Januar anderseits) an.
Auch hier zeigt sich also in den Grippemonaten ein Anwachsen der Gesamtmortalität auf ungefähr das Doppelte gegen dieselben
Monate des Vorjahrs.
Das Krankheitsbild der Grippe ist nichts weniger als charakteristisch; im Gegenteil, es gibt wohl
keine Infektionskrankheit, welche durch solche Vielgestaltigkeit der Erscheinungen ausgezeichnet wäre wie sie; so läßt
sich eine Beschreibung derselben nur geben, wenn man eine große Menge von Fällen zusammen überblickt. Die Krankheit kann alle
Organsysteme befallen, die Keime scheinen in alle eindringen zu können und wählen sich bei jedem Individuum
den Ort der geringsten Widerstandsfähigkeit zum Angriffspunkt; es prävalieren gastrische Erscheinungen bei Personen mit früher
gestörter Verdauung, nervöse Erscheinungen bei solchen, die ein angestrengtes Leben hinter sich haben oder neurasthenisch
sind, die heftigsten Bronchial- und Lungenaffektionen werden beobachtet bei Personen mit ältern Katarrhen und Lungenleiden.