Bevölkerung
[* 2] stark beeinflußt und ist in derselben noch heute bemerkbar. Nur langsam erholte sich Rußland nach der
Befreiung vom asiatischen
Joch unter der
FührungMoskaus, dessen
Sprache
[* 3] seit
Peter d. Gr. die eigentliche Schriftsprache der
Russen wurde.
Die Zahl der Russen im europäischen Rußland wird von Rittich zu 52,183,207 angegeben, unter
71,500,000 Einw. überhaupt. Doch bilden diese 52 Mill. Russen keine ethnisch einheitliche
Rasse, sondern sie sind nach körperlichen, sprachlichen und Charaktereigenschaften in drei wohl voneinander geschiedene
Gruppen getrennt.
1) Die Großrussen oder Moskowiter; ihre Gesamtzahl im europäischen Rußland beträgt 34,389,871
Seelen. Sie sitzen in zusammenhängendem
Ganzen im mittlern Teil des
Reichs und senden einen breiten, ununterbrochenen
Streifen nach SO. über den
untern
Don bis zu den Nordabhängen des
Kaukasus. Außerdem wird der russische Teil der
Bevölkerung von
Taurien aus Großrussen
in einer Zahl von 470,991 gebildet. In einigen Teilen des kleinrussischen Gebiets bilden die Großrussen starke Bruchteile,
so inCherson 152,587, in
Jekaterinoslaw 60,960 und in
Charkow 497,131
Seelen.
Auch der größere Teil der über
Sibirien verbreiteten Russen muß diesem
Stamm zugerechnet werden. Die Großrussen sind ein kräftiger
Menschenschlag mit blondem oder braunem
Haar,
[* 4] blauen oder braunen
Augen.
IhrePhysiognomie ist grob geschnitzt, die
Nase
[* 5] dick,
oft kolbig, dieWangen sind rot, der Körperbau gedrungen,
Hals kurz,
Nacken stark,
Schultern breit,
Beine
kurz,
Neigung zur Wohlbeleibtheit vorhanden. Was den
Charakter betrifft, so sind dessen Grundzüge praktischer
Verstand, wehmütige
Heiterkeit,
Zähigkeit im Festhalten eines
Begriffs oder Zustandes.
Der
Russe hat
Geist genug, um einen Gegenstand rasch zu erfassen, aber nichtAusdauer genug, um in die Tiefe
zu dringen und ganz
Herr desselben zu werden. Der praktische
Verstand macht den Großrussen zu einem ausgezeichneten
Kaufmann
und tüchtigen
Handwerker; die
Reize der
Natur ziehen ihn nur da an, wo sie seinem
Zweck dienen. Überall zeigt sich bei ihm
Hang zum Realistischen, weshalb er auch weniger zum Märchenglauben als zum
Aberglauben (besonders
Glauben
an
Anzeichen) geneigt ist.
Geistererscheinungen,
Botschaften aus dem Jenseits, poetische
Sagen finden bei ihm weniger Anklang, dagegen glaubt er so fest
an den
Teufel und verschiedene
Haus- und Walddämonen wie an die
Heiligen und die
Wunder. Die Mongolenherrschaft, der nachfolgende
politische
Druck und die
Leibeigenschaft haben zu lange und zu schwer auf dem
Volke gelastet, um seiner
Fröhlichkeit ihren ursprünglichen heitern
Charakter zu lassen, und so geht ein Zug
der
Wehmut durch alle Russen, der sich in den
Volksliedern ausspricht, die alle in
Moll sind.
Besonders hervorstechend ist die
Zähigkeit der Großrussen, welche, in vielen
Fällen eine
Tugend, doch
wieder der
Aufklärung entgegentritt. Besonders zeigt sich dieselbe in dem unterwürfigen Vertrauen, mit dem der
Russe an seinem
Kaiser hängt, dessen
Person ihm gleich Gott unfehlbar ist. Mit derselben
Zähigkeit bewahrt er das Patriarchalische des Familienlebens.
Die
Glieder
[* 6] der
Familie entwickeln sich nicht selbständig, sondern stehen immer in einem Abhängigkeitsverhältnis
zu dem
Vater oder dem ältesten
Bruder, der dessen
Stelle vertritt, doch sind Mangel an Selbständigkeit im
Urteilen und
Handeln
von der einen,
Willkür und Selbstüberschätzung von der andern Seite die
Folgen eines solchen Verhältnisses.
Mißtrauen hegt der
Russe nur gegen eine
Klasse von Leuten, das sind die
Tschinowniks (Beamten), sonst
ist er offenherzig, gastfrei, aber auch träge, unordentlich, dem Trunk stark ergeben. Seine Anhänglichkeit bildet aus
ihm den besten
Vater und
Gatten, macht ihn dankbar für erwiesene Wohlthaten, zu einem treuen
Freund. Zu den Schattenseiten
des russischen
Charakters gehören nochStreben nach materiellen Genüssen,
Neigung zu
Betrug und
Diebstahl,
Bestechlichkeit.
Die
Wohnung des gemeinen Russen ist in der
Regel ein einstöckiges
Blockhaus (in den holzarmen Gegenden die halb in die
Erde
eingegrabene Lehmhütte, Semljanka genannt), und solche
Blockhäuser aneinander gereiht an beiden Seiten der
Straße bilden
ein langes, einförmiges Dorf ohne Anpflanzungen. Der Eingangsthür gegenüber, in einer
Ecke, steht das
Bild eines
Heiligen, vor dem ein
Licht
[* 7] brennt. Jeder Eintretende verbeugt sich vor dem Heiligenbild und bekreuzt sich, ehe er
die Bewohner des
Hauses begrüßt, die dem
Gast zur Bewillkommnung vor allem
»Salz
[* 8] und
Brot«
[* 9] (Chlebsol) darreichen.
Dampfbäder sind sehr beliebt und allenthalben anzutreffen. Der
Russe ist genügsam und seine Lebensart
dürftig.
SchwarzesBrot aus ungebeuteltem
Mehl,
[* 10]
Grütze,
Sauerkraut, saure Kohlsuppe (Mschtschi und Borschtsch),
Kuchen aus
Buchweizen,
Zwiebeln,
Knoblauch,
Fische
[* 11] und
Pilze
[* 12] sind seine gewöhnliche
Nahrung.
Sein Lieblingsgetränk ist der
Kwas, den man bereitet, indem
man
Kleie und
Mehl inWasser gären läßt und bisweilen manche veredelnde Zuthaten hinzufügt; aber auch
Branntwein und
Thee werden viel konsumiert und der letztere gleich unserm
Bier in öffentlichen Theehäusern (Tschajnaja) ausgeschenkt.
2) Die
Kleinrussen (Malorossi) nehmen in einem geschlossenen Ganzen den südwestlichen Teil des europäischen Rußland ein,
mit Ausschluß der
Krim
[* 13] und der anstoßenden
Landschaften des
Festlandes. Im äußersten Südosten, in
Bessarabien,
sind sie mit
Rumänen gemischt; ein größeres zusammenhängendes kleinrussisches Gebiet finden wir noch am Ostufer des
AsowschenMeers, das der sogen. Tschernomorischen
Kosaken, welche durch
Katharina II. vom
Dnjepr dorthin versetzt wurden.
Ihre Zahl in diesen
Ländern beträgt 2,800,000
Seelen; sie verbreiteten sich aber auch über die
Karpathen und wohnen als Bojken
und
Huzulen (360,000
Seelen) in den nordungarischenKomitaten. Die Anzahl aller
Kleinrussen beträgt hiernach
etwa 17½ Mill. Über ihre
Sprache s.
Kleinrussische Sprache und Litteratur. Obgleich in allen Behörden und
Schulen nur die
großrussische
Sprache angewandt wird, herrscht die kleinrussische doch im Volksverkehr. Nach der Körperbeschaffenheit stehen
die
Kleinrussen sowohl den
Polen als den Großrussen als besonderer slawischer
Typus gegenüber, wiewohl
ihre politischen
Geschicke bald mit dem einen, bald mit dem andern dieser beiden
Völker verbunden waren, ohne daß dadurch
ein Aufgeben der besondern
Nationalität herbeigeführt wurde. Erst neuerdings macht sich in Rußland eine größere
Annäherung
auf geistigem Gebiet zwischenKlein- und
¶
mehr
Großrussen geltend, während in Galizien der Ruthene dem Polen entschieden feindlich gegenübersteht. Mit dem Großrussen verbindet
den Kleinrussen die griechische Religion, doch ist er weit mehr Ackerbauer als der Moskowiter und von diesem auch körperlich
geschieden. Der Kleinrusse, der Nachkomme der am Dnjepr ehemals angesessenen Poljanen, zeigt den slawischen Typus
sehr rein und ist ziemlich frei von Mischungen geblieben. Er ist größtenteils schwarzhaarig, mit dunkeln Augen und feinen
Gesichtszügen, spitzer Nase, hagerer Gestalt.
Die Grundzüge des slawischen Charakters, Heiterkeit, Sorglosigkeit, Bequemlichkeit, zeigen sich auch bei dem Kleinrussen,
jedoch gepaart mit Verschlossenheit, namentlich gegenüber dem Fremden und Großrussen, den er als Unterdrücker
betrachtet. Der Kleinrusse ist ein sehr poetisch angelegter Mensch; seine Volkslieder atmen Innigkeit, Schwärmerei, Verständnis
des Schönen im Menschen und in der Natur; ihr Rhythmus ist lebhaft und bewegt. Diese poetische Ader macht den Kleinrussen auch
religiöser als den Großrussen, aber auch zum Aberglauben, vorzüglich Sagenglauben, geneigter. In jedem
Dorf erzählt man sich von Totenerscheinungen und Vampiren.
Das Familienleben gestaltet sich beim Kleinrussen ganz anders als beim Großrussen, denn die Familienglieder erhalten so bald
wie möglich ihre Selbständigkeit. Dadurch ist auch die Individualität bei diesem Stamm sehr stark entwickelt, während der
Großrusse durch Associationsgeist hervorragt. Die Wohnorte sind ohne Straßen unordentlich durcheinander
geworfen; das Wohnhaus
[* 15] (Chata) besteht aus Fachwerk
[* 16] von Lehm und Holz,
[* 17] mit Stroh oder Schilf gedeckt, und ist meist weiß angestrichen
und sauber, von einem Blumen- und Gemüsegarten umgeben. Die Hauptbeschäftigungen der Kleinrussen sind Ackerbau, Viehzucht,
[* 18] Fischfang, Gartenkultur, Bienenzucht
[* 19] und Fuhrmannsgewerbe. Für mechanische Arbeiten haben sie wenig Talent.
Zur Erntezeit wandern viele mit der Sense und der Bandurka (kleine Geige) in südlichere Gegenden. Der Tschumak (Fuhrmann) handelt
zugleich mit Salz, das er von den Seestädten mit zurückbringt, und mit Fischen.
3) Die Weißrussen, vielleicht so genannt nach den weißen Filzhüten und der weißen Kleidung des Landvolkes, sind
der kleinste der drei russischen Hauptstämme. Sie werden im S. von den Kleinrussen, im O. und NO. von den Großrussen, im
W. von Litauern und Polen begrenzt. Überwiegend wohnen sie in den GouvernementsWitebsk, Smolensk, Mohilew, Minsk, Grodno und Wilna,
[* 20] doch auch in Tschernigow, Suwalki, Samara, Charkow, aber hier nicht die Mehrheit bildend. Ihre Zahl beträgt
3,592,057. Die Weißrussen zeigen flachsblonde Haare,
[* 21] graue oder lichtblaue Augen, spärlichen Bartwuchs, kurze, flache Nase,
was auf Mischung mit Finnen hinweist, die einst (noch von Nestor gekannt) in diesen Gegenden lebten.
Bemerkenswert sind die häufigen Fälle von Albinismus unter den Weißrussen, namentlich in der Gegend von
Minsk. Die Weißrussen gelten als Nachkommen der slawischen Kriwitschen; sie kamen erst 1772 an Rußland und standen bis dahin
unter polnischer Herrschaft, die in Sitten und Gebräuchen sich noch bemerkbar macht, während die Sprache ungebrochen blieb.
Die Weißrussen sind friedliche, arbeitsame, gutmütige Leute mit großem Hang zur Einsamkeit; ihre Dörfer
zählen selten mehr als 20 Häuser, die große Mehrzahl hat nur 3-4 Höfe.
Die Häuser sind klein, eng, düster, aus Holzbalken errichtet. Da der Boden des Landes sehr unfruchtbar ist, so haben die Weißrussen
oft mit
Entbehrung, ja Hungersnot zu kämpfen; ihr Los ist kein beneidenswertes, und der polnische Adlige
wie der jüdische Wucherer und Hausierer haben dafür gesorgt, das Volk auf eine tiefe Stufe herabzudrücken, auf der es Trost
im reichlichen Branntweingenuß sucht. Unter solchen Umständen sind sie für Industrie und Handel unempfindlich geblieben.
Die Sprache hält die Mitte zwischen Kleinrussisch und Polnisch. IhreReligion ist unter dem Einfluß der
polnischen Herrschaft die römisch-katholische geworden. Litteratur vgl. S. 81.
[* 23] Bäder (Dampfbäder), s. Bad, ^[= # (Balneum), Eintauchung des Körpers oder einzelner Teile desselben in eine Flüssigkeit, wobei ...]
[* 24] S. 224.
[* 23] Jagd- oder Hornmusik, eine durch lauter Jagdhörner, deren jedes nur einen einzigen Ton anzugeben hatte,
zu Wege gebrachte Hornmusik. Sie wurde von dem Hornvirtuosen J. A. ^[JohannAnton] Maresch (gest. 1794), der 1748 als Kammermusiker
nach Petersburg
[* 25] kam, um 1751 erfunden. Der ganze Chor bestand aus 40-60 Hörnern. Jeder Bläser erhielt ein Notenblatt, auf dem
stets nur dieselbe Note wieder erschien, unterbrochen durch viele Pausen. Er zählte nun genau nach und
gab dann, wenn die Reihe an ihn kam, seinen Ton an. Diese wertlose Spielerei (ein Legato auch nur zweier Töne ist dabei unmöglich)
ist längst antiquiert.
Durch diese ursprüngliche Verbindung der russischen mit der griechischen Kirche ward der russische Episkopat mit in die Trennung
jener von der lateinischen Kirche hineingezogen, und die Unionsversuche der PäpsteInnocenz III. (1208),
Honorius III. (1227) und Innocenz IV. (1248) sowie später unter Clemens VIII. (1596) führten zu keinem Resultat. Die kirchlichen
Verhältnisse der Russen erlitten aber auch während der Zeit, wo die Großfürsten unter der Oberherrschaft der Tataren standen
(1240-81), keine Störung.
von Prälaten anvertraut zu sehen, und errichtete, nachdem er die Jurisdiktionsrechte des Klerus beschränkt, die Klostergesetze
revidiert hatte, den heiligen dirigierenden Synod als höchste Kirchenbehörde. Die Grundlagen der hierarchischen Ordnung und
synodalen Oberleitung blieben bestehen; aber der Kirchenverfassung wurde ihre Spitze abgebrochen, indem die kirchliche Oberherrlichkeit
des Patriarchen auf den Zaren überging. Als eine Versammlung Peter d. Gr. um Erhaltung des Patriarchats bat,
sprach er das die ganze Kirchengeschichte Rußlands von nun ab beherrschende Prinzip des Cäsareopapismus mit den Worten aus:
»Hier ist euer Patriarch«.
Katharina II. zog alles Kirchengutan sich (1764), wogegen sie für alle geistlichen Stellen und Stiftungen
einen festen, für die niedern Grade äußerst geringen Gehalt auswarf; aber da sie zu gleicher Zeit der Kirche die Versorgung
der Invaliden abnahm und auf Staatskosten Priesterseminare gründete, erlitt die Kirche wenigstens keinen bedeutenden materiellen
Nachteil. Peter d. Gr. bewilligte 1702 den Katholiken und Protestanten freie Religionsübung im ganzen Reich.
Die Protestanten aber wurden namentlich in den Ostseeprovinzen vielfach bedrückt und die lettische und ethnische Landbevölkerung 1845 von
den Popen durch die Vorspiegelung von Landerwerb zum Übertritt zur russischen Kirche bewogen.
Vgl. Harleß,
Geschichtsbilder aus der lutherischen KircheLivlands von 1845 an (2. Aufl., Leipz. 1869);
Besonders wird innerhalb des kaiserlichen Hauses die russische Kirche begünstigt: russische Prinzessinnen, die sich mit Fürsten andrer
Konfessionen vermählen, dürfen nie zu deren Glaubensbekenntnis übergehen;
dagegen müssen alle Prinzessinnen,
die durch Heirat in die kaiserliche Familie eintreten, das griechische Bekenntnis annehmen.
Man zählt in der russischen Kirche
gegen 12 Mill. Sektierer (s. Raskolniken).
Der Synod hat seinen Sitz in Petersburg. Der russische Klerus besteht aus Kloster geistlichen, auch nach ihrer Kleidung die »schwarze
Geistlichkeit« genannt, welche allein zu den höhern geistlichen Würden gelangen und zum Cölibat verpflichtet sind, und aus
Weltgeistlichen, im Gegensatz zu jenen, trotz ihrer braunen Kleidung, die »weiße Geistlichkeit« genannt,
welche bloß die niedern geistlichen Stellen bekleiden können und sich verheiraten dürfen, aber nur einmal.
Die Ordensgeistlichkeit besteht aus drei Klassen, nämlich:
1) Archierei, zu denen sämtliche Bischöfe gehören, welche
alle dem heiligen Synod zu Petersburg unterworfen sind;
Dieser Klerus ist frei vonAbgaben, steht in geistlichen Dingen unter der Jurisdiktion der Bischöfe und des heiligen Synods, in
Zivil- und Kriminalsachen aber unter der der weltlichen Gerichte. Für Bildung des Klerus ist erst unter
Alexander II. einiges geschehen; besonders der niedere ist sehr unwissend und größtenteils auf landwirtschaftliche
Thätigkeit angewiesen. Aber auch die litterarische Produktion innerhalb der höhern Geistlichkeit beschränkt sich auf Werke,
welche der Liturgie und dem populären Religionsunterricht dienen.
Eine wissenschaftliche Theologie beginnt erst in letzter Zeit und nur ganz vereinzelt aufzutreten. Die russischen Kirchen sind
viereckig und haben eine große Kuppel in der Mitte, die von vier kleinern Kuppeln umgeben ist. Die Glockentürme stehen abgesondert
von der Kirche. Man betet stehend oder auf dem Angesicht liegend. Das Priestergebet wird durch den Gemeindegesang
unterbrochen, der aber eigentlich nur aus drei Sätzen besteht: »Gospodj pomiluj!« (»Herr erbarme dich unser!«),
»Gospodj pomolimssa!«
(»Herr, wir bitten dich!«) und »Podal Gospodj!« (»Gib
das, Herr!«). Die in der alten slawischen Kirchensprache abgefaßte Liturgie zeichnet sich durch die Kraft
[* 32] der dabei üblichen
Gebete aus. Die Messe wird nur einmal des Tags gefeiert, und bei der Kommunion werden Brot und Wein im Kelch
gemischt und mit einem Löffel gereicht. Die Feste der russischen Kirche sind im allgemeinen die der andern christlichen Konfessionen;
eigentümlich sind nur die Feier des Festes der Wasserweihe (Jordansfest), welches jährlich 6. Jan., am Tag der
Mitte zwischen Ostern und Pfingsten und 1. Aug. stattfindet, und bei welchem die Heiligenbilder in das Wasser getaucht werden, daher
auch der Name »Götterwaschung«; das Gedächtnis aller im Kriege gefallenen Soldaten21. Okt. und die Pferdeweihe 9. Mai. Am ersten
Fastensonntag, dem sogen. orthodoxen Sonntag, wird noch jetzt alljährlich unter großem Zulauf des Volkes
über alle politischen und kirchlichen Ketzereien ein allgemeiner Fluch ausgesprochen.
Das Predigen ist selten, daher die wenigsten KirchenKanzeln haben. Die Strenge des Fastens wird jetzt mehrfach durch Dispensationen
gemildert.
Vgl. Murawjew, Geschichte der russischen Kirche (deutsch von König, Karlsr. 1857);
Boissard,
L'Église de la Russie (Par. 1866-67, 2 Bde.);
Philaret, Die Kirche Rußlands (deutsch, Frankf. a. M. 1872, 2 Bde.);
Makarij, Geschichte der russischen Kirche (Petersb. 1848-83, 12 Bde.);
Basarow, Die russisch-orthodoxe Kirche (Stuttg. 1873).
[* 23] Litteratur. Die russische Nationallitteratur hat in der Entwickelungsgeschichte
[* 33] Rußlands eine höhere Bedeutung
als irgend eine andre europäische Litteraturgeschichte dem Volk gegenüber, in dessen Mitte sie entstanden.
Wir haben dabei allerdings mehr die neuere Zeit, die Zeit seit Peter d. Gr.,
¶
mehr
also von dem Augenblick an, da Rußland in den Bund der europäischen Völker eintritt, im Auge.
[* 35] Als moderner Staat beruht Rußland
nicht auf der Stände- und Korporationsverschiedenheit, sondern auf andern Elementen, über die hier ausführlich zu sprechen
nicht am Platz wäre. SchonKatharina II. erkannte diese Thatsache, denn sie gedachte, was natürlich nie
gelingen konnte, auf künstlichem Weg das Dasein von Ständen hervorzurufen. Die Wege des gesellschaftlichen und staatlichen
Wachstums sind demnach in Rußland andre, und somit muß auch ein andres Verfahren beim Studium desselben angewandt werden.
Rußland entbehrte sozialer und politischer Parteien in dem Sinn, in welchem wir sie in andern europäischen
Staaten finden. In diesen ist der Kampf und das Wechselinteresse der Korporationen und Stände der Boden, auf welchem Gesellschaft
und Staat, Litteratur und Recht, überhaupt der ganze ethische Bau, erwuchsen; die Bildung tritt sozusagen als letztes Wort der
westeuropäischen Zivilisation auf, sie ist vor allem das Resultat sozialpolitischen Lebens. Umgekehrt ist
es in Rußland: da fängt das eigentliche sozialpolitische Leben erst mit der Bildung an. Während in Europa
[* 36] die Parteien durch
das ständische und korporative Interesse gebildet werden, sich gruppieren und ihre eignen Organe wählen oder gründen, sind
es in Rußland die Presse
[* 37] und die Organe der Litteratur, welche neue Parteien ins Leben rufen und ihre Existenz
bedingen.
Die sozialpolitischen Parteien entstehen erst mit der hereinbrechenden Bildung, und lediglich durch die Einflüsse der Litteratur
werden alle sozialen Bewegungen geleitet. Während in Europa jedes wirkende IndividuumRepräsentant eines Standes oder einer
Korporation war und durch sie oder ihre Rechte unterstützt wurde, vermochte in Rußland das Individuum
immer nur als solches zu wirken, nicht als Repräsentant einer Gattung. Solche Leute gingen aber in der Geschichte Rußlands
fast spurlos verloren, bis durch die vom Westen hereindringende Bildung neue Wirkungswege sich öffneten.
In der Litteratur und nur durch diese konnten jetzt Gedankenumtausch und Einfluß sich geltend machen.
Es ist demnach begreiflich, daß der Dichter und Litterat in Rußland von jeher so großen Einfluß ausübten, und daß nur
wenige der bedeutenden Männer auf dem Gebiet der Litteratur in Rußland ungestört durch Verbannung und administrative Maßregelung
ihre Tage beschließen konnten. Die größten Monarchen unterstützten ihre wichtigsten Reformen durch
Litteraturerzeugnisse, die sie teils selbst verfaßten, teils von andern verfassen ließen; so Peter d. Gr. und Katharina II.
Ersterer veranlaßte theatralische Aufführungen, in denen er die Feinde seiner Neuerungen persiflierte, und ließ den hochgebildeten
Priester Teosan Prokopowitsch in Predigt und Schrift für dieselben eine Lanze brechen; Katharina gründete
satirische Journale und schrieb selbst Theaterstücke und Abhandlungen, die aufgeführt und veröffentlicht wurden. In Rußland
ist es somit das Niveau und die Richtung der Bildung, was die Menschen gruppiert und sozialpolitische Parteien bedingt.
Man kann jahrelang in einem Kreis
[* 38] verkehren, ohne auch nur zu ahnen, ob dieses oder jenes Mitglied adligen
oder andern Standes ist; man fragt nur, welcher Bildungsrichtung es angehört. Daher kommt es auch, daß in einem zu der großen
Masse der ungebildeten verhältnismäßig so wenig zivilisierten Land wie Rußland eine so große Zahl von monatlichen
Zeitschriften oder Revuen (ähnlich der »Revue des DeuxMondes« oder »Deutschen Rundschau«) erscheint. Es
sind
dies Bücher von ca. 30 Druckbogen litterarisch-politischen Inhalts, als deren wichtigste (von den Zeitungen und Wochenschriften
abgesehen) wir hier sofort nennen: »Westnik Jewropy« (»Europäischer Bote«),
»Russkaja Rehtsch« (»Das russische
Wort«) etc. Um diese Journale gruppieren sich die eigentlichen sozialen Parteien. Da die Rechtsverhältnisse
von jeher das praktische Wirken hemmten und der zivilisatorische Fortschritt nur auf dem Gebiet der Litteratur ausgefochten
werden konnte, so hat allmählich selbst die schöne Litteratur eine sozial-ethische Bedeutung erlangt und zwar in dem Grade,
daß eine rein ästhetische Behandlung der Litteraturgeschichte zu einer Unmöglichkeit geworden ist.
Anderseits ist das Studium derselben sehr erschwert durch den Umstand, daß das Vorhandensein einer Zensur die Schriftsteller
nötigt, so zu schreiben, daß man zwischen den Zeilen zu lesen gezwungen ist, was wiederum zu vielen Mißverständnissen
verleitet oder einem Fernstehenden ganz unverständlich bleiben muß. Die Virtuosität in derartigem
Schreiben und Lesen ist so groß, daß die Regierung sich oftmals veranlaßt fand, gegen Schriftsteller, deren Erzeugnisse
die Zensur bereits passiert hatten, doch noch auf administrativem Weg einzuschreiten und sie für den verborgenen Sinn ihrer
Schriften zu maßregeln.
Über die ältere Volkslitteratur werden wir weiter unten sprechen, da die Epen und Lieder der alten, noch
vortatarischen Zeiten Rußlands erst zu Anfang des 19. Jahrh. ernstlich gesammelt worden sind und zwar
in verschiedenen Gegenden des Reichs, wo sie noch heutzutage, natürlich mit mannigfaltigen Verstümmelungen, in dem Munde des
Volkes leben. Was die Kunstlitteratur anbetrifft, so ist diese von den Donauslawen nach Rußland
hinübergekommen und zwar erst mit der Einführung des Christentums (988). Es war um 855, daß zwei griechische Mönche, Cyrillus
und Methodius, es unternahmen, hauptsächlich aus den griechischen, dann auch wohl aus den hebräischen, armenischen und
koptischen Schriftzeichen das slawische Alphabet zusammenzustellen (vgl. Krek, Einleitung der slawischen
Litteraturgeschichte, Graz
[* 39] 1874). Mit dem Christentum kamen dann auch das Alphabet und Bücher kirchlichen Inhalts nach Rußland.
Sie waren bulgarisch geschrieben, untermischt mit dem damals dem Bulgarischen sehr nahestehenden Südrussischen, und bildeten
die Schriftsprache (Kirchenslawisch), welche bis heutzutage in den Kirchen gebraucht und von jedem, auch
dem ungebildeten Russen wohl verstanden wird (s. Bulgarische Sprache). Das älteste Sprachdenkmal bildet das Evangelium von
Ostromir (hrsg. mit Glossar von Wostokow). Die vorhandene Handschrift (aus dem Jahr 1056-57) wurde für den Präsidenten (Possadnik)
der RepublikNowgorod angefertigt und ist nach Wochen und Tagen in Abschnitte geteilt, wie sie in den Kirchen
gelesen werden.
Sodann der »Isbornik von Swjatoslaw« (1073), die Bearbeitung eines Panegyrikus auf den bulgarischen ZarenSimeon. Durch die
Vermittelung der Bulgaren erhielt Rußland eine Flut von geistlichen Legenden und weltlichen Sagen, welche oft aus Byzanz oder
selbst aus dem Morgenland stammten, ein wunderliches Durcheinander von Apokryphen, Geschichte, Mythologie
und heiligen Legenden. So spielten z. B. die Sagen von Alexander d. Gr. und dem Trojanischen Krieg darin ihre Rolle;
¶
mehr
später ward manches direkt aus dem Griechischen in das Russischeübertragen, und so findet man diese Litteratur in den verschiedenen
Kodices bis ins 17. Jahrh. hinab; im Volk aber lebt manches bis heute noch. In der Mitte des 11. Jahrh. lebte auch Nestor,
der Vater der russischen Geschichtschreibung, ein KiewerMönch, von dem die älteste Chronik Rußlands stammt
(s. Nestor). Die Quellen dieser Chronik sind byzantinische Chronikschreiber, einzelne Sagen, Heiligengeschichten und Aussagen
von Zeitgenossen.
Ende des 11. Jahrh. entstand das Lied vom »Heereszug Igors gegen die Polowzer«, das vielleicht von einem Zeitgenossen des Helden
gedichtet wurde. Es enthält Spuren der Volksdichtung sowie der damals sehr einflußreichen bulgarischen
Litteratur und ist ein Gelegenheitsgedicht vom größten poetischen Schwung (vgl. Igor). Um diese Zeit kamen die Tataren über
Rußland und legten ihm ein schweres Joch auf, dessen Wucht von allen europäischen Ländern Rußland allein auf sich nehmen
mußte und über drei Jahrhunderte ertrug.
Kaum erhielten sich spärliche Reste der Kultur in den vom byzantinischen Einfluß beherrschten Klöstern, und auch nach der
Befreiung von den Tataren erholte sich Rußland nur langsam unter der Leitung Moskaus. Aber es war nicht mehr das frühere Rußland
der Kiewschen und Nowgorodschen Tage. Die despotische Herrschaft der asiatischen Völker hatte auch der
moskauischen Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Endlich, mit dem 16. Jahrh., bahnt sich neue Aufklärung langsam den Weg.
Iwan IV. Wasiljewitsch (1534-84) ließ in den StädtenSchulen anlegen und errichtete 1564 die erste russische Buchdruckerei
in Moskau. Ein litterarisches Denkmal der Bildung und Zustände jener Zeit bildet der »Domostrói« (d. h.
Das Buch von der Haushaltung),
ein Kodex praktischer Lebensweisheit und bürgerlicher Moral, zusammengestellt und teilweise
auch verfaßt von dem wohlwollenden Ratgeber des später grausamen ZarenSilvester (vgl. Brückner in der »RussischenRevue«,
Bd. 4). Das in der Kultur weiter vorgerückte Polen übte durch Kiew in litterarischer Beziehung Einfluß
auf Rußland aus, wobei es freilich nicht fehlen konnte, daß nach der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit Polen
im 16. Jahrh. das fremde Sprachelement mehr und mehr Eingang fand und der rein nationalen
Entwickelung der Sprache und Litteratur im südwestlichen Rußland Eintrag that.
Die Reformation in Deutschland
[* 41] fand in Polen einen Widerhall, wurde aber von den herbeigerufenen und sich
in den Schulen festsetzenden Jesuiten verdrängt; durch diese wurden denn auch die Schulen im südwestlichen Rußland geleitet.
Ihrem Einfluß erwuchs im 17. Jahrh. zuerst ein Feind in PetrusMogilas (gest. 1688), einem merkwürdigen, vielgereisten, in
Paris
[* 42] und an andern Universitäten gebildeten Mann, der dem in Kiew schon vorhandenen russischen Kollegium
eine größere Bedeutung verlieh, Bildung und Wissenschaft hob und gelehrte Werke von geistlich-kirchlichem Inhalt sowie auch
Gedichte nach polnischer Verskunst verfaßte.
PetrusMogilas und seinen Nachfolgern gelang es, sich bald vom Einfluß der Jesuiten zu befreien; es ward diesen untersagt,
in den Schulen Südwestrußlands zu lehren. Mit der BefreiungKleinrußlands (nebst der Hauptstadt Kiew)
von der polnischen Herrschaft und seiner Anlehnung an Großrußland machte sich der Einfluß KiewerGelehrten erst recht fühlbar.
Durch sie drang ein Hauch europäischer Wissenschaft nach Moskau, und noch Peter d. Gr. bediente sich ihrer, bevor er die
Lehrkräfte direkt aus Europa erlangen konnte.
Aus der Zahl der KiewerGelehrten, welche nach Großrußland kamen, sind namentlich
Simeon Polozkij (gest. 1682) und der heil. Dmitrij Rostowskij (gest. 1709) zu erwähnen.
Durch ihren Einfluß wurde 1679 in Moskau ein Kollegium (»slawonisch-griechisch-lateinische Akademie«) gegründet; ja, unter
dem ZarenAlexei Michailowitsch (VaterPeters d. Gr.) finden sich sogar Spuren von weltlichen Dramen, welche
im Haus des aufgeklärten BojarenArtemon Sergejewitsch Matwejew aufgeführt wurden. Ein großer Fortschritt war es, daß bei
diesen Vorstellungen auch seine Frau und Pflegetochter Natalie Naryschkin (später Zarin und MutterPeters d. Gr.) zugegen sein
und sich mit den Gesandten oder Reisenden unterhalten durften. Dramen weltlichen Inhalts dichtete Feofan
Prokopowitsch (1681-1736), der gewandte Schriftsteller und RatgeberPeters d. Gr. (vgl. Tschistowitsch, F. Prokopowitsch
und seine Zeit, in der »Sammlung von Aufsätzen der russischen Akademie etc.«, 1868).
Mit Peter d. Gr. beginnt eine neue Periode der russischen Litteratur. Es ist bereits oben bemerkt worden,
daß dieser Monarch Theaterstücke aufführen ließ und diese sowie andre litterarische Werke benutzte, um seine Reformen
zu unterstützen. Der Zar hatte persönlich nicht wenig Einfluß auf die Schriftsprache, welche unter ihm sich von den Fesseln
des Kirchenslawischen mehr und mehr befreite. Das gewaltsame Herausreißen Rußlands aus dem alten Geleise,
das Ausbilden von neuen Kräften in Person junger Leute, welche im Ausland oder von Ausländern erzogen wurden, gab zu der merkwürdigen
Erscheinung Veranlassung, daß die neue russische Litteraturperiode sofort mit der Satire, mit der Kritisierung der gegebenen
Verhältnisse, begann, demnach eine negative und zugleich belehrende didaktische Richtung annahm, die
ihr lange eigen blieb. Als erster Dichter der neuen Epoche wird der Fürst Antiochus Kantemir (1708-1744) genannt, Sohn des
moldauischen HospodarsDemetriusKantemir. Er war inParis erzogen worden, und die dort erhaltene Bildung, welche ihm die gesellschaftlichen
Verhältnisse in seiner Heimat wunderlich erscheinen ließ, machte aus ihm einen Satiriker. Sein Versmaß
ist aber noch das polnische oder französische. Sein gelehrter Nachfolger Wasilij Trediakowskij (gest. 1769) wies bereits
auf die Notwendigkeit für die russische Verskunst hin, sich an den Rhythmus des russischen Volksliedes zu halten; doch war er
selbst zu talentlos, um durchzugreifen.
Übrigens steht er als Gelehrter und Denker weit höher denn als Dichter. Lomonossows Zeitgenosse Alex. Sumarokow (1718-77),
der erste russische Dichter, der kein Amt annahm, um bloß als Schriftsteller zu wirken, und sich voll Selbstbewußtsein
für den russischen Voltaire hielt, schrieb bühnengerechte Tragödien nach französischen Mustern in Alexandrinern (die ersten
ständigen russischen Theater
[* 43] wurden 1756 in Petersburg und 1759 in Moskau gegründet), versuchte
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Der Regierungsanfang Katharinas II. (1762) schien überaus günstig für die Entwickelung der Litteratur. Sie fand es
für angemessen, die wichtigsten sozialpolitischen Fragen von der Litteratur berührt zu wissen, gründete eine Reihe von satirischen
Blättern, unterstützte junge Talente und schrieb selbst Komödien, Novellen u. dgl. Noch 1783 erließ sie einen Ukas über die
Zulassung freier Privatbuchdruckereien, um dadurch die Volksbildung zu heben. Zu derselben Zeit wirkten in
MoskauNikolaiNowikow (1744-1818) und dessen leider bald hingeschiedener FreundJohannSchwartz (erst seit 1776 in Rußland, gest.
1784) sehr förderlich für Litteratur und Bildung.
Sie gründeten Druckereien, Bibliotheken, Buchhandlungen, Zeitschriften und den »Freundschaftlichen Verein von Gelehrten«, welcher
die talentvollsten und gebildetsten Leute in ganz Rußland zu Mitgliedern zählte. Die Wirkung war groß.
Wenn vor NowikowMoskau bloß zwei Buchläden besaß, welche für die Summe von 10,000 RubelBücher verkauften, so waren am Ende
von Nowikows Thätigkeit 20 Buchhandlungen vorhanden, die jährlich für 200,000 Rub. Bücher in Umlauf setzten.
Außerdem wurden zahlreiche Bücher (meist Übersetzungen) von Nowikow unentgeltlich im ganzen Reich verteilt.
Die satirisch didaktischen Komödien der KaiserinKatharina fanden einen meisterhaften Fortsetzer in Denis v. Wisin (gest. 1792),
dem Verfasser der Stücke: »Muttersöhnchen« (»Nedorossl«)
und »Brigadier«, worin die Sucht der Zeitgenossen, trotz innerer Geistesarmut europäisch gebildet zu scheinen und das Eigne
zu vernachlässigen, scharf gegeißelt wird.
Das bedeutendste poetische Talent jener Zeit offenbarte sich aber in dem Hofdichter GabrielDershawin (1743-1816),
welcher die Zarin in seiner »Feliza« verherrlichte. Am berühmtesten ist
seine Ode »An Gott«, die in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, im übrigen aber mehr ein rhetorisches, nur hier
und da mit Perlen echter Poesie geziertes Stück ist. Ein ungewöhnliches Talent ist Dershawin nicht abzusprechen,
doch kam es wohl aus Mangel an guten Vorbildern und bei noch sehr unentwickelter Litteratursprache nicht recht zur Geltung;
seine Lieder stehen dem Volk fern. In die Nowikowsche Gesellschaft, die von allen Seiten junge talentvolle Leute an sich zog,
sie belehrte und zu ernster litterarischer oder sonstiger das gemeine Wohl fördernder Thätigkeit anleitete,
trat auch der jugendliche Karamsin (1765-1826), dessen litterarisches Wirken epochemachend wurde.
Zuerst mit Übersetzungen und Schriften für die Jugend beschäftigt, wurde er bald zu seiner weitern Ausbildung nach dem WestenEuropas gesandt, und diese Abwesenheit förderte nicht nur in gewünschter Weise seine geistige Entwickelung,
sondern rettete ihn persönlich auch von großer Gefahr, welche bald nach seinem Weggang über seine MoskauerFreunde hereinbrach.
Katharinas früheres pseudoliberales System hatte sich in ein streng repressives verwandelt; die
früher von ihr beförderten
Privatdruckereien wurden geschlossen, die Einfuhr ausländischer Bücher untersagt und in den Residenzen
wie in den Grenzstädten geistliche und weltliche Zensur eingerichtet.
Die Nowikowsche Gesellschaft war schon vorher aufgehoben, Nowikow selbst aber eingekerkert worden. Sogleich nach der Rückkehr
von seiner Reise (1790) veröffentlichte Karamsin seine berühmten »Briefe eines russischen Reisenden«, aus denen ein ganz neuer
Geist wehte. Bis dahin kannte man die europäischen Verhältnisse und großen Männer der Kunst und Wissenschaft
nur vom Hörensagen aus mangelhaft übersetzten Büchern, und man hielt sich für europäisch gebildet, wenn man die Franzosen
in ihrer Kleidung und pseudoklassischen Litteratur nachäffte.
Jetzt führte Karamsin in seinen BriefenNatur und Gesellschaft desWestens in treuen und lebensvollen Schilderungen den
Russen vor. Seine Beobachtungen, das persönliche Zusammentreffen mit den Koryphäen der europäischen Wissenschaft und Litteratur
stellte den Leser sozusagen von Angesicht zu Angesicht mit dem, was er bis dahin sich nur unvollkommen vergegenwärtigen konnte.
Dabei war die Sprache eine leichte und gefällige, glücklich kontrastierend mit der noch immer stark slawonisch
gefärbten, schweren Schriftsprache.
Karamsin gründete eine Monatsschrift: »Wesnik Jewropy« (»Der europäische
Bote«),
in welcher er litterarwissenschaftliche Mitteilungen machte und fortfuhr, seine Landsleute zu belehren. Wenn er auch
oft über den Druck der Zensur klagt, so gelang es ihm doch nicht selten, dem Verbot der Verbreitung und Übersetzung fremder
Werke zuwiderzuhandeln. Übrigens bildete sich eine starke konservative Partei gegen ihn mit Schischkow,
dem Präsidenten der Akademie, an der Spitze, und es entbrannte ein Kampf, an dem sich alles beteiligte, in dem aber doch alle
frischen Kräfte auf der Seite Karamsins standen.
Durch letztern wurden die sentimentale Dichtung und das bürgerliche Drama in Rußland eingeführt und
der Kampf gegen den Pseudoklassizismus eröffnet mit seiner Novelle »Rédnja Lísa« (»Die
arme Lisa«),
welche Tausende rührte und ganze Wallfahrten nach dem Orte der Handlung, unweit Moskau, veranlaßte. In ihm erhielt
Rußland auch einen Geschichtschreiber, welcher zuerst die ganze Geschichte des Reichs nach den Quellen bearbeitete.
Der Schwerpunkt
[* 46] seiner litterarischen Thätigkeit fällt in die Regierungsjahre KaiserAlexanders I. und somit bereits in das 19. Jahrh.,
denn die kurze Dauer der RegierungPauls war jeder geistigen Entwickelung noch mehr abhold als die letzte Zeit der Herrschaft
Katharinas, so daß nach dem AusdruckKaramsins mit der Thronbesteigung Alexanders »die Musen
[* 47] den lange getragenen
Trauerflor endlich ablegen konnten«.
Karamsin zur Seite stand sein Jugendfreund IwanDmitrijew (1760-1837), der mit seinem Vorgänger IwanChemnitzer (1745-84) als
VorläuferKrylows in der Fabeldichtung zu betrachten ist. Als Tragödiendichter ist Oserow (1769-1816) zu nennen, der seine
Helden französisch drapierte, wenn er auch hier und da zu deutschen und englischen Mustern griff. Als
Dichter ungleich höher als Karamsin steht sein jüngerer Zeitgenosse Wasilij Shukowskij (1783 bis 1852), welcher sich noch
in den litterarischen KreisenNowikows entwickelt hatte, viel mit Karamsin verkehrte und arbeitete, manche Lanze für ihn brach
und, wie dieser die sentimentale Dichtung, so seinerseits die Romantik in Rußland einführte. Hat er auch,
in das Studium der deutschen und englischen Dichter versunken, mehr diese übersetzt als
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