Reelle
Größen, alle diejenigen, welche sich ihrer Quantität nach durch positive oder negative Zahlen der Reihe 0, 1, 2, 3 etc. oder zwischen ihnen liegend darstellen lassen, im Gegensatz zu den komplexen Größen (s. d.).
Größen, alle diejenigen, welche sich ihrer Quantität nach durch positive oder negative Zahlen der Reihe 0, 1, 2, 3 etc. oder zwischen ihnen liegend darstellen lassen, im Gegensatz zu den komplexen Größen (s. d.).
Gesamtbezeichnung für Tau, im besondern ein dünnes Tau (Fallreep, Windereep, Bojereep etc.).
der seemännische Ausdruck für Seiler;
Reeperbahn, die Seilerbahn.
Stadt im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, [* 2] Kreis [* 3] Rees (mit Landratsamt in Wesel), [* 4] am Rhein, 12 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, einen schönen Marktplatz mit gotischem Rathaus, ein Amtsgericht, Strohpapier-, Zigarren-, Öl-, Kraut-, Käse-, Butter- und Korbwarenfabrikation, Ziegeleien, Käse-, Frucht- und Viehhandel, Schiffahrt und (1885) 3705 Einw. -
Rees, ursprünglich dem Erzbischof von Köln [* 5] gehörig, erhielt 1228 Stadtrecht, kam 1392 zunächst als Pfand an die Grafen von Kleve und 1614 an Brandenburg. [* 6] Die Stadt wurde 1598 von den Spaniern unter Mendoza, 1614 von den Niederländern unter Moritz von Oranien und 1761 von den Franzosen eingenommen.
Regel, s. Proportion. ^[= (lat.), Verhältnismäßigkeit, Ebenmaß; in der Mathematik die Verbindung zweier gleicher Differenz ...]
(Reez), Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, [* 7] Kreis Arnswalde, an der Ihna, hat eine gotische evang. Kirche aus dem 14. Jahrh., ein neues Rathaus, ein Amtsgericht, mechanische Weberei, [* 8] Färberei, Wassermühlen, Spiritus-, Getreide-, Vieh- und Wollhandel und (1885) 3216 Einw. Das ehemalige Cistercienser-Nonnenkloster, 1294 gegründet, wurde 1537 landesherrliche Domäne.
(holländ., franz. Réfaction), Vergütung, welche für schadhafte oder unbrauchbar Teile einer Ware gefordert werden kann (s. Fusti).
Ihr Betrag bestimmt sich nach dem Kaufvertrag oder nach dem Handelsgebrauch am Orte der Übergabe.
Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 352. Im Eisenbahnwesen versteht man unter Refaktien Rückvergütungen auf die tarifmäßig gezahlte Fracht an gewisse Versender (s. Eisenbahntarife, S. 464).
(lat.), Wiederherstellung, Erquickung, besonders durch nährende, kräftigende und belebende Mittel;
heilige Refektion, die zur Fastenzeit einzig erlaubte Mahlzeit nach 24stündigem Fasten.
(lat.), in Klöstern und Ordensburgen der gemeinschaftliche Speisesaal.
(lat.), Bericht, Vortrag. ^[= in der Buchhaltung s. v. w. Übertrag, Transport. - In der Musik, s. Ausdruck und Phrasierung.]
(lat., auch Referendär, »Berichterstatter«),
vortragender Beamter, besonders Titel derjenigen, welche im Vorbereitungsdienst bei den höhern Justiz- oder Verwaltungskollegien beschäftigt sind; im preußischen Justizdienst war das Referendariat früher die zweite Bildungsstufe, die nach einer zweiten Prüfung erreicht wurde; nach dem Gesetz vom und dem Ausführungsreglement vom werden aber nur noch zwei Prüfungen verlangt, und schon das Bestehen der ersten befähigt zur Anstellung als Referendar, welcher nach vierjährigem praktischen Vorbereitungsdienst und nach Absolvierung des zweiten Examens die Ernennung zum Assessor (s. d.) folgt; eine Einrichtung, welche auch in andern deutschen Staaten Nachahmung gefunden hat.
Vgl. Bernhardi, Anleitung des Referendars (Berl. 1886).
Die Referendare im Verwaltungsdienst heißen Regierungsreferendare. Geheime Referendäre werden in manchen Ländern die Sekretäre (Ministerialräte) der höchsten Staatsbehörde genannt. In den päpstlichen Kanzleien ist ein Beamter, der die Bittschriften mit seinem Gutachten vorträgt.
etwas ad referendum nehmen, s. v. w. zur Berichterstattung an die Beteiligten entgegennehmen.
In der Schweiz [* 9] bezeichnet Referéndum die in einzelnen Kantonen übliche Volksabstimmung über Gesetzvorschläge.
(lat.), s. Berichterstatter. ^[= (Referent, franz. Rapporteur), derjenige, welcher einem Kollegium, einer Versammlung oder einer ...]
(lat.), in der Handelssprache Beziehungen, Empfehlungen, die Personen oder Häuser, auf welche man sich berufen (beziehen) kann.
(lat.), Bericht erstatten, den Inhalt von Verhandlungen behufs einer von einer parlamentarischen Körperschaft, einem Kollegium oder von einem Dritten zu gebenden Entscheidung vortragen.
Dem referierenden Mitglied, dem Berichterstatter (s. d.) oder Referenten, wird in wichtigern Fällen ein zweiter Berichterstatter (Korreferent) zugeordnet.
Die Referierkunst bildet einen wichtigen Teil der praktischen Jurisprudenz. - Den Eid referieren, s. v. w. ihn der Gegenpartei zuschieben (s. Eid, S. 367).
Vorrichtung zur Verkürzung eines Segels durch Aufbinden (Reffen);
(spr. -fih), Geschützkonstrukteur, geb. zu Straßburg, [* 11] war 1864 Kapitän und Ordonnanzoffizier Napoleons III. und wurde Direktor der Artilleriewerkstatt zu Meudon. Hier entstand unter seiner Leitung das Canon à balles und ein nach ihm Genanntes bronzenes Hinterladefeldgeschütz von 8,5 cm Kaliber, dessen Geschoß [* 12] 7 kg wog (daher Canon de sept). Dies Geschütz wurde 1870 während der Belagerung von Paris [* 13] in Dienst gestellt und bildete nach dem Krieg die provisorische Bewaffnung der französischen Feldartillerie. Reffye starb als General 1880.
(lat.), zurückstrahlen, Lichtstrahlen zurückwerfen (s. Spiegelung [* 14] und Diffusion [* 15] des Lichts);
auch s. v. w. überlegend nachdenken, auf etwas sein Augenmerk richten.
s. v. w. Spiegelteleskop (s. Fernrohr); [* 16]
auch jeder zu kräftiger Zurückwerfung des Lichts eingerichtete (parabolische) Spiegel, [* 17] z. B. auf Leuchttürmen.
(lat.), Widerschein oder Zurückstrahlung diffusen Lichts von einem Gegenstand und die dadurch bewirkte, auf andre Gegenstände fallende Beleuchtung [* 18] (s. Diffusion des Lichts).
in der Physiologie die Summe derjenigen Erscheinungen, welche im lebenden Körper entstehen durch die Übertragung der Erregung sensibler Nervenfasern auf solche, welche die Muskelbewegung oder die Drüsenabsonderung vermitteln, ohne Dazwischentreten der Psyche, d. h. des Bewußtseins und des Willens. Es gibt reflektorische Muskelerregungen, sogen. Reflexbewegungen, und reflektorische Sekretionen. Beispiele der ersten Art sind: der Husten bei Reizung der Kehlkopfschleimhaut, das Schließen des Auges bei Berührung der Bindehaut desselben.
Reflektorische Absonderungen sind das Thränen des Auges bei äußerer Reizung desselben, die Speichelsekretion bei Benetzung der Zungenschleimhaut durch saure Stoffe etc. Die Erzeugung der Refléxerscheinungen findet statt an gewissen Stellen der nervösen Zentralorgane im verlängerten Mark im Rückenmark, im Gehirn [* 19] und im sympathischen Nerv, welche man daher als Reflexzentren bezeichnet. Hierher gelangt von der Peripherie der auf die sensibeln Nervenendigungen wirkende Reiz und wird vermittelst eines gewissen Reflexapparats, bestehend aus nervösen Zellen, übertragen auf die den betreffenden Bewegungen und Absonderungen vorstehenden Nervenfasern, durch welche er zu den ausführenden Organen, Muskeln [* 20] und Drüsen, gelangt. ¶
Es gibt positive Refléxerscheinungen, wie die bisher erwähnten, und wenn man so will, negative, solche, welche eine bisher vorhandene Thätigkeit unterbrechen, Reflexhemmungen; auf gewisse sensible Reize wird z. B. die thätige Herz- und Atembewegung reflektorisch ganz zum Stillstand gebracht. Die Intensität der ist abhängig einerseits von der Intensität der ausgeübten Reize, anderseits von dem Grade der Reizungsfähigkeit der betreffenden Reflexzentren, d. h. der Reflexerregbarkeit.
Letztere wird von verschiedenen Umständen beeinflußt. Die Thätigkeit des Großhirns, das thätige Bewußtsein, setzt die Reflexerregbarkeit herab: deshalb treten Refléxerscheinungen leichter ein im Schlaf, bei gewissen Hirnkrankheiten;
enthauptete Menschen und Tiere zeigen viel leichter und lebhaftere Refléxerscheinungen als normale.
Der Wille hat bis zu einem bestimmten Grad einen Einfluß auf gewisse Refléxerscheinungen; er kann das reflektorische Zucken des Beins, wenn die Sohle desselben gekitzelt wird, er kann den Hustenstoß bei Reizung der Luftröhre ganz oder teilweise unterdrücken; andre Refléxerscheinungen, z. B. die Verengerung der Pupille bei Lichteintritt, die Thränenabsonderung bei mechanischen Reizungen des Augapfels, zu verhindern, ist er nicht im stande. Die Reflexerregbarkeit variiert nach Alter, Spezies und individuellen Verschiedenheiten.
Von differenten Stoffen wird sie am meisten herabgesetzt durch Äther und Chloroform, am energischten gesteigert durch Strychnin. Die meisten starken organischen Gifte, namentlich die Alkaloide, Atropin, Brucin, Kaffein, Morphin etc., haben zunächst eine steigernde, in großen Dosen eine herabsetzende Wirkung. Manche Refléxerscheinungen sind von einer sehr komplizierten Beschaffenheit. Dabei tragen die meisten Refléxerscheinungen den ausgeprägte Charakter der Zweckmäßigkeit an sich (geordnete Reflexe), wie die oben angeführten Beispiele vom Augenlidschluß und vom Hustenstoß beweisen.
(lat.), die Fähigkeit der Strahlen, zurückzuprallen.
[* 22] (lat.), die »Zurückwerfung« des Lichts, der strahlenden Wärme, [* 23] des Schalles, der Wellenbewegung [* 24] des Wassers von einer dazu geeigneten Fläche, geschieht stets nach dem Gesetz, daß der Reflexionswinkel gleich ist dem Einfallswinkel, und daß die Einfallsebene mit der Reflexionsebene zusammenfällt. Dann heißt eine Form des Denkens, bei der unsre Vorstellungen selbst wieder Gegenstand eines (höhern) Vorstellens werden. Eine besondere Funktion der ist die Abstraktion (s. Abstrakt), d. h. die Isolierung des Gedachten, vermöge deren es die Gestalt eines Begriffs annimmt.
s. Spiegelsextant. ^[= Instrument zu Höhen- und Distanzmessungen, besteht aus einem Kreissektor von etwas über 60°, ...]
s. Brechung, ^[= von J. Grimm eingeführter grammatikal. Kunstausdruck zur Bezeichnung des assimilierenden Einflusses ...] [* 25] S. 375.
s. Reflexion ^[= (lat.), die "Zurückwerfung" des Lichts, der strahlenden Wärme, des Schalles, der ...] u. Spiegelung.
(lat.), rückwirkend, rückbezüglich;
Reflexiva, Wörter, welche eine Rückbezüglichkeit ausdrücken (s. Pronomen und Verbum).
krampfartige unwillkürliche Bewegungen (Zuckungen oder Starrkrämpfe), welche auf Reizung sensibler Nerven [* 26] eintreten;
näheres s. Reflexerscheinungen.
(lat.), planmäßige Umgestaltung, Veränderung, namentlich auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Staatsverfassung, während für eine Umgestaltung in kirchlicher Beziehung der Ausdruck Reformation (s. d.) gebräuchlich ist;
Reformer (engl. Reformers), Anhänger der Reformpartei, welche bestimmte Gebiete der Gesetzgebung reformiert haben wollen, wie z. B. die sogen. Steuer- oder Wirtschaftsreformer (Agrarier) die Agrargesetzgebung. Im Gegensatz zur Revolution (s. d.) versteht man unter Reform die planmäßige Veränderung der Staatsverfassung auf gesetzlichem Weg.
(lat., ital. Riformati), in Italien [* 27] s. v. w. Rekollekten (s. d.).
(lat., »Umgestaltung, Verbesserung«),
die Bewegung des 16. Jahrh., welche die Entstehung der lutherischen und reformierten Kirchen, überhaupt des Protestantismus (s. d.), zur Folge hatte. Dieselbe ist eins von denjenigen weltgeschichtlichen Ereignissen, welche in alle Gebiete des Kulturlebens der sich daran beteiligenden Völker mächtig eingegriffen und eine lange Reihe neuer Gestaltungen auf dem politischen und kirchlichen Leben angebahnt, ja die ganze moderne Entwickelung Europas bedingt haben.
Viele Anzeichen kündigten schon seit langem das Herannahen einer neuen Epoche des Menschenlebens an, und es ist die Reformation nicht als das Werk Eines Mannes, sondern als das Resultat vieler und bedeutsamer vermittelnder Vorgänge anzusehen. Wir erinnern hier nur an die Erfindung der Buchdruckerkunst, an die Erweiterung der Weltanschauung durch die überseeischen Entdeckungen, vornehmlich aber an das Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften im 15. Jahrh., an alles, was man in der Regel unter dem Kunstausdruck Renaissance (s. d.) zusammenfaßt. Speziell die Notwendigkeit einer »Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern« war durch die großen Kirchenversammlungen des 15. Jahrh. wiederholt anerkannt worden, und die reformatorischen Ideen, vor allen eines Wiclef und Huß, hatten dazu beigetragen, einen Umschwung der religiösen Grundideen anzubahnen.
Geringfügig im Vergleich mit den Folgen erscheint die unmittelbare Veranlassung der Kirchenreformation Martin Luthers (s. Luther), Professors und Predigers in Wittenberg, [* 28] die Bekämpfung des Ablaßhandels (s. Ablaß), wie solcher damals namentlich durch Tezel in Thüringen aufs schamloseste betrieben ward, durch den Anschlag von 95 Thesen an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg In kürzester Frist durchzogen diese Thesen ganz Deutschland. [* 29] Doch erst auf der Disputation, welche vom 27. Juni bis zu Leipzig [* 30] statthatte, vollzog Luther innerlich den Bruch mit der katholischen Religiosität, indem er sich zu der Behauptung drängen ließ, der Papst sei nicht nach göttlichem, sondern nur nach menschlichem Recht Oberhaupt der Kirche. Von Melanchthon (s. d.) mit seiner Beredsamkeit und dialektischen Gewandtheit unterstützt, von seinem Kurfürsten Friedrich dem Weisen beschützt (vgl. Kolde, Friedrich der Weise und die Anfänge der Reformation, Erlang. 1881) und von dem Enthusiasmus fast des ganzen deutschen Volkes getragen, gewann Luther immer neue und einflußreiche Anhänger, namentlich einen großen Teil des deutschen Adels, voran die tapfern Ritter von Schaumburg, von Sickingen und von Hutten (s. d.), für seine Sache. An diesen deutschen Adel, als an echte Repräsentanten seines Volkes, richtete er seine Schrift »Von des christlichen Standes Besserung« (Juni 1520),
worin die Artikel der Reformation als große Volkssache dargelegt und Fürsten und Reichsstände aufgefordert wurden, selbst Hand [* 31] anzulegen, um das römische Unwesen in Deutschland abzuschaffen. Im Buch »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« (Oktober 1520) führte er durch, wie der ganze Ablaß eine römische Schalkheit und das Papsttum nur menschlichen Ursprungs sei, wie der Kelch auch den Laien gebühre, die Messe nicht Opfer, noch gutes Werk und die neuerfundene ¶
Wandlungslehre ein schriftwidriger Irrtum sei. Die Sakramente werden auf Taufe, Buße und Abendmahl beschränkt, und gegen die ganze Bedeutung der Kirche als äußerer Anstalt wird die Kraft [* 33] des Glaubens geltend gemacht. Endlich schrieb er in demselben Jahr noch, gleichsam als dritte Urkunde der Grundsätze der deutschen Reformation, das Buch »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, worin er vornehmlich die Lehre [* 34] vom Glauben behandelte, durch den der Christenmensch ein Herr über alle Dinge, ein König und Priester, keinem Gesetz unterthan und durch nichts Äußerliches gebunden, aber auch ein Knecht aller sei, sofern er um Gottes willen jedermann diene.
Zugleich aber schritt er zur befreienden That vor, indem er, seine unwiderrufliche Lossagung vom Papsttum besiegelnd, vor dem Elsterthor in Wittenberg die päpstliche Bulle, wodurch Leo X. den Bann gegen ihn geschleudert hatte, samt dem kanonischen Rechtsbuch ins Feuer warf. Wie aber die päpstliche, so hatte sich alsbald auch die kaiserliche Autorität der neuen Bewegung gegenüber in ihrer Ohnmacht erwiesen. Im März 1521 wurde Luther durch Karl V. unter Zusicherung freien Geleits auf den Reichstag zu Worms [* 35] entboten. Am 17. u. 18. April stand er vor der Reichsversammlung.
Gegen die ersten Folgen der nunmehr wider ihn ergehenden Reichsacht durch die ihm von seinem Kurfürsten auferlegte Zurückgezogenheit auf der Wartburg geschützt, kehrte er, durch die Überstürzungen seiner Anhänger in Wittenberg bewogen, dahin zurück. Der Verbreitung und Vertiefung der evangelischen Erkenntnis sollte die von ihm schon auf der Wartburg begonnene Bibelübersetzung dienen. Vollständig erschien sie erst 1534. In der Zwischenzeit hatte die Reformation feste Wurzeln allenthalben in Deutschland geschlagen. Aus dem Reichstag zu Nürnberg [* 36] hatten im Dezember 1522 die Stände 100 Beschwerden gegen den römischen Stuhl aufgesetzt, worin des Papstes Kunstgriffe, Geld zu erpressen, nachgewiesen, die menschlichen Satzungen als der Grund alles Unheils und Verderbens aufgedeckt und zuletzt mit Eigenhilfe gedroht ward, wenn solchen unleidlichen Übelständen nicht bald gesteuert würde.
Schon jetzt fielen aber dem Bekenntnis der Wahrheit nicht wenig Opfer. 1523 brach in den Niederlanden eine heftige Verfolgung aus, in welcher zwei junge Augustinermönche zum Scheiterhaufen verdammt und verbrannt wurden. Ferner kamen Enthauptungen und Verbrennungen evangelische Ketzer vor in Wien, [* 37] München, [* 38] Köln, auch in Schwaben und im Elsaß. In Dithmarschen ward Heinrich von Zütphen (s. Moller) ein Opfer der Wahrheit. Gleichwohl gewann die Reformation das Übergewicht seit 1519 in Ostfriesland, seit 1522 in Pommern, [* 39] Livland [* 40] (durch Knöpken, Tegetmaier, Briesmann und Lohmüller), Schlesien, [* 41] Preußen [* 42] (durch den Hochmeister Albrecht von Brandenburg, der 1522 durch Osiander auf dem Reichstag zu Nürnberg gewonnen wurde), Mecklenburg, [* 43] seit 1523 in Frankfurt a. M., Nürnberg (durch Osiander [s. d.] und den Ratsschreiber Lazarus Spengler), Straßburg (woselbst Matthes Zell schon seit 1518 das Evangelium predigte, an den sich später Capito [s. d.], Bucer [s. d.], Hedio und Fagius anschlossen), Schwäbisch-Hall (durch Johann Brenz, s. d.), seit 1524 in Magdeburg, [* 44] Bremen [* 45] und Ulm. [* 46]
Die süddeutschen Städte folgten übrigens bereits jetzt teilweise in Lehre und Gottesdienstordnung mehr demjenigen Typus der Reformation, welcher in der benachbarten Schweiz seine Heimat hatte. Auch hier war es zunächst der Ablaßunfug gewesen, welcher schon 1518 Ulrich Zwingli (s. d.) zum Widerspruch gegen die päpstlichen Satzungen veranlaßt hatte. Seit 1519 erhob dieser humanistisch gebildete Theolog in Zürich [* 47] seine volkstümliche Rede für die Reformation der Kirche und der Sitten.
Durch das Studium der Heiligen Schrift zu einer selbständigen religiösen Überzeugung gelangt, sagte er sich noch entschiedener als Luther von den Prinzipien des Katholizismus los, sobald ihm einmal deren Gegensatz zum biblischen Christentum klar geworden war (s. Reformierte Kirche). Auf seine Veranlassung erließ der Große Rat (1520) ein Gebot, daß alle Prediger des Freistaats sich allein an die heiligen Evangelien und die Schriften der Apostel halten sollten, und durch Disputationen brach er der Sache der Reformation bald in andern schweizerischen Städten Bahn. In Basel [* 48] entschied sich Ökolampadius (s. d.) für die in Bern [* 49] Berthold Haller (s. d.) und Nikolaus Manuel (s. d.). Nur das Landvolk in den Gebirgskantonen, am Alten hangend und von den Mönchen und Priestern geleitet, verstattete den reformatischen Ideen keinen Eingang; ja, die drei Waldstätte nebst Zug und Luzern [* 50] schwuren einander, jeden Verächter der Messe und der Heiligen zu töten. Als einzelne blutige Gewaltthaten den Ernst ihres Beschlusses bewiesen, gebrauchten die reformierten Kantone Repressalien, und bei Kappel floß das erste im Religionskampf vergossene Blut.
In Deutschland war das Kurfürstentum Sachsen [* 51] das erste Land, in welchem die Reformation die gesetzliche Genehmigung von seiten Johanns des Beständigen (1525 bis 1532) erhielt; auf Grundlage des Visitationsbüchleins erfolgte die Kirchenvisitation 1528-29. Etwa gleichzeitig führte der Landgraf Philipp von Hessen [* 52] 1527 sein ganzes Land durch Lambert von Avignon auf der Homberger Synode der Reformation zu. Schon 1524 aber war die lange gärende Unzufriedenheit des hart belasteten Bauernstandes, durch die mächtige Bewegung, welche die in die niedern Schichten des Volkes brachte, gefördert, in offenen Aufstand gegen den weltlichen und geistlichen Adel zur Erlangung von Christen- und Menschenrechten ausgebrochen und hatte blutig unterdrückt werden müssen.
Diese Vorgänge trugen vornehmlich dazu bei, Luther in einer Richtung zu bestärken, welche schon seit seiner Rückkehr von der Wartburg angebahnt worden war: neben die Selbstherrlichkeit des christlich-freien Bewußtseins oder Glaubens trat wieder die Bedeutung des äußern Kirchentums;
das kühne Vorgehen wurde ermäßigt durch die Achtung vor der Geschichte.
Leider erhob sich nun unter den Lehrern der evangelischen Kirche jener unselige Zwiespalt, der auf Jahrhunderte hinaus einen Riß in die kaum entstandene Gemeinschaft machte, zunächst als Streit über das heilige Abendmahl (s. d.). Alle Versuche, denselben durch Religionsgespräche beizulegen, scheiterten an Luthers leidenschaftlicher Heftigkeit. Diese Trennung war aber um so unzeitiger, als die Existenz der evangelischen Kirche noch so wenig gesichert war und den ersten Bündnissen, welche 1526 hauptsächlich auf Betreiben des hessischen Landgrafen unter einigen evangelischen Reichsständen geschlossen wurden, sofort katholische Gegenallianzen gegenübertraten.
Auf dem im Sommer des gleichen Jahrs gehaltenen Reichstag zu Speier [* 53] hielten sich beide Teile schon fast die Wagschale, so daß der Reichsrezeß vom dahin lautete, bis zur Berufung eines allgemeinen Konzils solle sich jeglicher Stand in Bezug auf das Wormser Edikt so gegen seine Unterthanen verhalten, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten könne. Jedoch schon auf dem neuen Reichstag zu Speier 1529 ward der Beschluß des vorigen wieder zurückgenommen, so daß ¶
die evangelischen Stände zu einer förmlichen Protestation schritten, welche die geschichtliche Veranlassung des Namens Protestanten geworden ist (s. Protestantismus). Der Kaiser verwarf die Protestation und schrieb einen Reichstag nach Augsburg [* 55] aus. Jetzt hielten es die protestantischen Stände für angemessen, die Grundlehren ihres Glaubens in der Kürze zusammenzustellen und sie dem Kaiser vorzulegen. So entstand, unter grundsatzmäßigem Ausschluß der Schweizer Reformatoren, die Augsburgische Konfession (s. d.), die verlesen ward, und zu welcher sich bald auch die nordischen Reiche Dänemark, [* 56] Schweden [* 57] und Norwegen sowie die Ostseeländer bekannten, während die oberdeutschen Reichsstädte Straßburg, Konstanz, [* 58] Lindau [* 59] und Memmingen [* 60] in der Tetrapolitana bei ihrer Zwinglischen Auffassung beharrten. In Deutschland aber begann seitdem der Kampf um das gute Recht der Reformation, zu deren Schutz 1531 zwischen den protestantischen Ständen der Bund von Schmalkalden [* 61] geschlossen wurde.
Jetzt zog der Kaiser mildere Saiten auf, und es kam in Nürnberg zu einem Friedensschluß, worin den Gliedern des Schmalkaldischen Bundes das Verbleiben bei ihrer Lehre und ihrem Kultus bis zu einem allgemeinen Konzil oder bis zur Entscheidung eines neuen Reichstags zugesichert wurde. Als der Papst auf Mai 1537 ein solches Konzil nach Mantua [* 62] ausschrieb, gab der Kurfürst von Sachsen seinen Theologen auf, die Glaubensartikel zu erwägen und zusammenzustellen, auf denen zu bestehen sein möchte, und so entstanden die von Luther (Februar 1537) aufgesetzten Schmalkaldischen Artikel (s. d.), welche den Gegensatz zum Katholizismus und die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der protestantischen Kirche weit bestimmter und schärfer als die Augsburgische Konfession aussprachen.
Der kriegerisch gesinnte Landgraf Philipp von Hessen hatte inzwischen (1534) durch die Zurückführung des vom Schwäbischen Städtebund vertriebenen und vom Kaiser zu gunsten seines Bruders Ferdinand des Throns entsetzten Herzogs Ulrich von Württemberg [* 63] dem protestantischen Glauben ein ganzes Land erobert. Ulrich übertrug die Reformation seines Landes Blarer (s. d.) und Schnepf (s. d.). Ohne Unterlaß war inzwischen der Landgraf auch bemüht gewesen, den seit dem Marburger Gespräch (Oktober 1529) besiegelten Zwiespalt der Wittenberger und Schweizer Reformatoren über die Abendmahlslehre zu beseitigen, und seine Bemühungen hatten wenigstens einen provisorischen Stillstand der Streitigkeiten durch den Abschluß der Wittenberger Konkordie (Mai 1536) zur Folge.
Auch der neue Kurfürst von Brandenburg, Joachim II. (1535-71), bekannte sich seit 1539 offen zur evangelischen Lehre und führte dieselbe mit Hilfe des Bischofs von Brandenburg, Matthias von Jagow, in sein Gebiet ein; gleichzeitig wurden auch des eifrig katholischen Herzogs Georg von Sachsen Lande durch dessen Nachfolger Heinrich für dieselbe Sache gewonnen. Selbst der Kurfürst von Köln, Hermann, Graf zu Wied (s. d.), ließ 1543 einen Reformationsplan im Druck erscheinen, welcher im ganzen mit der evangelischen Lehre übereinstimmte.
Doch scheiterte dieser Reformationsversuch am Widerstand seines Domkapitels. Dagegen wurde ein heftiger Feind der Reformation, Herzog Heinrich von Braunschweig, [* 64] von Sachsen und Hessen aus seinem Land verjagt (1542). Fast in allen Reichsstädten hatte die reformatorische Partei ein entschiedenes Übergewicht. Von weltlichen Fürsten war eigentlich nur noch der Herzog von Bayern, [* 65] der sich jedoch der evangelischen Sympathien seines eignen Volkes und der Stände nur mit Mühe erwehren konnte, eine Stütze des Papsttums.
In den nächstfolgenden Zeiten wurden die evangelischen Stände weniger beunruhigt. Der Kaiser war durch seine auswärtigen Unternehmungen sehr in Anspruch genommen und bedurfte der Reichshilfe gegen die Türken, die Ungarn [* 66] bedrohten, und suchte auf den Religionsgesprächen (s. d.) zu Hagenau [* 67] (1540), Worms (1540) und Regensburg [* 68] (1541) eine Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken herbeizuführen. Das Regensburger Kolloquium brachte einen angeblichen Religionsvergleich (Regensburger Interim, s. d.) zu stande, den der Kaiser den Protestanten aufzwang.
Das konnte Karl V. nur wagen, weil innere Zwistigkeiten im Lager [* 69] der protestantischen Stände dem Schmalkaldischen Bund seine Kraft raubten. Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen (1539) rief eine tiefe, in heftiger Korrespondenz sich äußernde Mißstimmung zwischen ihm und dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen (1532-47) sowie Ulrich von Württemberg hervor, welche den Schritt ihres Bundesgenossen in scharfen Ausdrücken tadelten; der Landgraf, um sich vor der kaiserlichen hochnotpeinlichen Halsgerichtsordnung zu schützen, sah sich genötigt, Karl V. in einer die Interessen der Protestanten gefährdenden Weise gefällig zu sein. Die Beendigung des Kriegs mit Frankreich (1544) gab dem Kaiser endlich freie Hand gegen die schmalkaldischen Verbündeten. Er nahm die Klage des kölnischen Domkapitels gegen den Erzbischof an und ließ eine Untersuchung gegen letztern einleiten.
Luther erlebte den Ausbruch des Kriegs nicht, er starb in Eisleben. [* 70] Bald darauf ward wider den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen die Reichsacht ausgesprochen, und der Papst Paul III. predigte (4. Juli) einen Kreuzzug zur Ausrottung der Ketzerei. Nachdem im Spätjahr der Süden und im Frühjahr 1547 der Norden [* 71] mit Hilfe des Herzogs Moritz von Sachsen unterworfen worden, zeigte der Kaiser plötzlich Mäßigung, indem er nur die Anerkennung des Ende 1545 eröffneten Konzils zu Trient [* 72] von den Besiegten forderte. Ein Reichsgesetz, welches zu Augsburg publiziert ward, ordnete an, wie es mit der Religion bis zum Austrag des Konzils gehalten werden solle. Dieses Interim (s. d.) ward vielen oberdeutschen Städten mit Gewalt aufgezwungen, indes der vom Kaiser mit dem sächsischen Kurhut begnadete Moritz vornehmlich unter Melanchthons Mitwirkung das Leipziger Interim (s. d.) ausarbeiten ließ.
Während aber die Gewissen durch das aufgedrungene Interim auf das äußerste beunruhigt wurden, beschloß Moritz, durch eine kühne That seine verlorne Ehre wiederzugewinnen und damit dem Reich und der Kirche die Freiheit zurückzugeben. Die ihm übergebene Achtvollstreckung an Magdeburg gab ihm einen Vorwand zur Aufstellung eines Heers, und so brach er 1552, nachdem er ein schamloses Bündnis mit Frankreich geschlossen, aus Thüringen auf und stand schon 22. Mai vor Innsbruck. [* 73]
Der Kaiser floh durch die Engpässe der Alpen, [* 74] und es kam nun 29. Juli der Passauer Vertrag zu stande, kraft dessen das Kammergericht zu gleichen Teilen mit Bekennern der beiden Kirchen besetzt und zur Abstellung der Klagen über verletzte Reichsgesetze sowie zur Einigung in den kirchlichen Angelegenheiten ein Reichstag in nahe Aussicht gestellt ward. Auf diesem Reichstag, der nach mancherlei Verhinderungen 1555 zu Augsburg eröffnet ward, wurde das Recht der Reformation den Reichsständen trotz des vom römischen Stuhl dagegen ¶
erhobenen Protestes zuerkannt, aber der geistliche Vorbehalt (reservatum ecclesiasticum) aufgenommen, wonach jeder zur lutherischen Kirche übertretende Prälat eo ipso geistliche Würde und weltliche Stellung verlieren sollte. Den andersgläubigen Unterthanen wurde das Recht des freien Abzugs zugestanden. Über die Aufrechthaltung dieses Friedens wachten das Corpus Catholicorum und das Corpus Evangelicorum (s. d.). Noch einmal machte das Wormser Religionsgespräch den Versuch (1557), eine Einigung der Katholiken und Protestanten in der Lehre herbeizuführen. Er war ebenso vergeblich wie der zweite Reformationsversuch des Erzbischofs Gebhard (s. d. 3) von Köln 1582. Die Gegenreformation (s. d.) erstickte hier sowie in Mainz, [* 76] Trier, [* 77] Steiermark [* 78] und Kärnten bereits mit Hilfe der Jesuiten (s. d.) jede protestantische Regung.
Der Westfälische Friede stellte endlich nicht bloß den Status quo des Passauer Vertrags und Augsburger Religionsfriedens 1648 wieder her, sondern dehnte auch die in beiden den Lutheranern gemachten Zugeständnisse auf die Reformierten aus. Aber die Sache der Reformation, wie sie endlich durch den Westfälischen Frieden zur rechtlichen Existenz gelangte, war nicht mehr die ursprüngliche. Fraglos hat schon den Reformatoren selbst zu einer folgerichtigen Durchführung der Grundsätze der Reformation vieles gefehlt.
Ihre wiederholten Schwankungen und Unsicherheiten, ihre Zugeständnisse an das katholische System, ihre offenen Rückfälle und Selbstwidersprüche können und sollen nicht mehr verhehlt werden. Ihre Schuld ist aber verschwindend gering gegenüber denjenigen, welche im weitern Verlauf der Geschichte jene Fehler, Mißgriffe, Inkonsequenzen und katholisierenden Verirrungen nicht bloß nicht als solche begriffen, sondern sie vielmehr erst recht in ein System brachten.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrh. machte die Reformation die Runde durch die damalige zivilisierte Welt. Rom [* 79] zitterte; sogar die romanische Welt schien ihr wie eine reife Frucht in den Schoß zu fallen. Aber schon im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. war der Protestantismus von sich selbst abgefallen und hatte die »reine Lehre« zu einem neuen Gesetzeskodex erhoben, den Theologendruck an die Stelle des Priesterjochs gesetzt. Anstatt die volle Kraft der religiösen Begeisterung und der sittlichen Erhebung nach außen zu wenden, verzehrten die Protestanten sich in Lehrgezänk nach innen und verfielen dem Irrtum, göttliche Wahrheit in ihren dogmatischen Formeln festgebannt zu haben. Jetzt folgte Niederlage auf Niederlage; die Jesuiten sogar trieben vielfach eine freiere Theologie als die orthodoxe Epigonenschaft der Reformation, und mit dem Sieg der Konkordienformel (1580) ward die anfängliche Siegesgeschichte der Reformation, wenigstens auf deutschem Gebiet, zur erschütternden Leidensgeschichte, ja zuweilen fast zur Tragikomödie.
Richtig gewürdigt wird die Sache der Reformation nur da, wo man sich entschließen kann, von den Mängeln ihrer Ausführung abzusehen und die leitende Idee ins Auge [* 80] zu fassen, welche nur einen durchaus neuen Ansatz zur Verwirklichung des christlichen Prinzips selbst bedeuten kann. Hatte sich dieses im Katholizismus eine einseitig religiöse und kirchliche Ausprägung gegeben, so läuft die Tendenz der Reformation durchaus auf ein im guten Sinn des Wortes weltliches Christentum, auf eine Verwirklichung des christlichen Prinzips vor allem im sittlichen Leben hinaus, daher es sich lediglich von selbst versteht, wenn die Reformation auf dem Gebiet der Kirchenbildung mit dem Katholizismus nicht wetteifern kann; sie bedeutet vielmehr im Prinzip nichts andres als die Zerstörung des »gesellschaftlichen Wunders«, welches als Kirche über den natürlichen Organismen der sittlichen Welt stehen will.
Von Haus aus suchte und fand daher die Reformation Fühlung mit dem Staat; sowohl in Deutschland als in der Schweiz sehen wir eigentümliche Formen des Staatskirchentums entstehen, das sich, wo die reformatorischen Prinzipien zu ungehemmter Entfaltung kommen, überall in ein eigentliches Volkskirchentum umzusetzen bestrebt ist. Anstatt einer von einer wunderbaren Legende als ihrer theoretischen Voraussetzung getragenen Kirche über den Völkern zu dienen, will die Reformation das religiöse Leben der Völker ihrer gesamten sonstigen Seinsweise eingliedern, so daß es zu einer gesunden Funktion eines einheitlichen, aus sich selbst heraus lebenden gesellschaftlichen Organismus wird.
Darin liegt die politische und soziale Mission der Reformation beschlossen. S. Protestantismus.
Vgl. Marheineke, Geschichte der deutschen Reformation (2. Aufl., Berl. 1831-34, 4 Bde.);
Hagenbach, Geschichte der Reformation (5. Aufl., Leipz. 1887);
Döllinger, Die Reformation, ihre innere Entwickelung und ihre Wirkungen (2. Aufl., Regensb. 1851, 3 Bde.);
Kahnis, Die deutsche Reformation (Leipz. 1872, Bd. 1);
Hagen, [* 81] Deutschlands [* 82] litterarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter (Erlang. 1841-44, 3 Bde.);
Ranke, Deutsche [* 83] Geschichte im Zeitalter der Reformation (6. Aufl., Leipz. 1880, 6 Bde.);
Egelhaaf, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (2. Aufl., Berl. 1885);
Keller, Die Reformation und die ältern Reformparteien (Leipz. 1885);
v. Bezold, Geschichte der deutschen Reformation (Berl. 1886 ff.);
Hoop-Scheffer, Geschichte der in den Niederlanden (deutsch, Leipz. 1886).
Das Hauptwerk von ultramontaner Seite ist die »Geschichte des deutschen Volkes« von Joh. Janssen (s. d.).
Fest der evangel. Kirche zur Erinnerung an den an welchem Tag Luther seine 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug.
Das Reformationsfest wurde zum erstenmal 1667 in Sachsen auf Befehl der höchsten Kirchenbehörde als allgemeiner (halber) Feiertag begangen.
(lat.), der eine Reformation, besonders der Kirche, Bewirkende.
Urteil, abändernde Entscheidung einer Rechtssache in höherer Instanz mit gänzlicher oder teilweiser Aufhebung der Vorentscheidung.
in England jede Bill, welche eine Reform bezweckt, besonders aber die 1830, 1867 und 1885 über die Parlamentsreform eingebrachten Bills (s. Großbritannien, [* 84] S. 810, 825, 836).
s. Reform. ^[= (lat.), planmäßige Umgestaltung, Veränderung, namentlich auf dem Gebiet der Gesetzgebung ...]
(lat.), umgestalten (s. Reform);
eine Entscheidung in höherer Instanz ganz oder teilweise abändern.
Kirche, im Gegensatz zur lutherischen Kirche diejenige Kirchengemeinschaft, welche sich ebenfalls im 16. Jahrh. von dem Papsttum lossagte, sich von jener durch einen radikalen Charakter unterscheidet u. besonders in Süddeutschland, der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden und in Schottland vorherrschend ist. Die Reformation (s. d.) begann in Zürich ziemlich gleichzeitig wie in Wittenberg und war 1525 in allem Wesentlichen zum Abschluß gekommen. Gleichzeitig erschien auch der erste Teil der 1531 vollendeten Bibelübersetzung.
Vgl. hierüber Mezger, Geschichte der deutschen Bibelübersetzung in der schweizerisch-reformierten Kirche (Basel 1876).
Den Glaubensbegriff der neuen Kirche bestimmte Ulrich Zwingli (s. d.), namentlich in seinem »Kommentar von der wahren u. falschen Religion« (Zürich 1525) sowie in seiner »Fidei ratio ad Carolum ¶
Imperatorem« (das. 1530),
am bestimmtesten aber kurz vor seinem Tod in einer Auseinandersetzung des christlichen Glaubens: »Christianae fidei brevis et clara expositio ad regem christianum« (hrsg. von Bullinger, das. 1536). Neben Zwingli ließen zu Augsburg auch die Städte Straßburg, Konstanz, Memmingen und Lindau ein von Bucer (s. d.) verfaßtes Bekenntnis, die sogen. »Confessio tetrapolitana«, überreichen, woran sich spätere Bekenntnisse der Schweizer Kirchen anschlossen. S. Baseler Konfession und Helvetische Konfessionen. Aber trotz eines bedeutenden Anhangs, worunter namentlich das seit 1528 zur Reformation übergetretene Bern imponierend dastand, schien die Sache der Kirchenverbesserung in der deutschen Schweiz seit der Schlacht bei Kappel keiner weitern Ausdehnung [* 86] auf die fünf katholischen Urkantone fähig zu sein.
Dafür aber trat an die Stelle der deutschen Schweiz die französische, an die Stelle Zwinglis Calvin (s. d.) mit seinen Gehilfen, welchem die reformierte Kirche ihre Entwickelung und Ausbreitung in der südlichen und westlichen Schweiz und dem angrenzenden Frankreich verdankte. In Genf [* 87] hatte bereits 1534 nach Vertreibung des Bischofs protestantische Religionsübung Platz gegriffen. Seit 1536 schlug hier Calvin seinen Sitz auf. In Neuchâtel reformierte seit 1530 Farel (s. d.), in Lausanne [* 88] seit 1531 Viret (s. d.). Calvins Glaubenslehre hebt die Verderbnis und Unfreiheit des gefallenen Menschen und als Gegengewicht vor allem die unbedingte göttliche Vorherbestimmung hervor.
Zwinglis mehr im Geiste des Humanismus gehaltene Auffassung der christlichen Glaubenslehre trat seitdem in der reformierten Kirche zurück. Die von ihm auf die Bedeutung einer Gedächtnisfeier reduzierte Auffassung des Abendmahls aber, worüber er mit Luther zerfallen war, wurde von Calvin dahin gewendet, daß die Gläubigen eine von dem verherrlichten Leib Christi ausgehende Kraft geistig, aber wahrhaft genießen. Daß aber der Mund in Brot [* 89] und Wein nur Zeichen empfange, stand, im Gegensatz zu Luther, für beide Schweizer Reformatoren fest.
Durch seine Schriften, insbesondere seine »Institutio rel. christ.«, durch seine Ratschläge und die zahlreichen Schüler, die er sich heranzog, machte Calvin seinen Einfluß bald über die ganze reformierte Kirche geltend und erhob Genf zu deren Mittelpunkt. Neben ihm übte Theodor Beza (s. d.) eine bedeutende, sowohl gelehrte als kirchliche Wirksamkeit aus. Diese weite Verbreitung, welche die in reformierte Kirche Hessen, in der Pfalz, in Norddeutschland (Hamburg, [* 90] Bremen, Brandenburg, Schlesien), in Polen und Ungarn, in Frankreich, England, Schottland und den Niederlanden fand, brachte es auch mit sich, daß sie in so verschiedenen Ländern sich auch sehr verschiedenartig entwickelte und gestaltete.
War auch die Genfer Universität die Pflanzschule reformierter Geistlichen, so gelang es Calvin doch nicht, seinem strengen Lehrbegriff von der Prädestination ganz unbedingte Geltung zu verschaffen. Unter den schweizerischen Bekenntnissen vertreten in dieser Beziehung seine reine Lehre nur der »Consensus pastorum Genevensis ecclesiae« (1554) und die »Formula consensus Helvetica« (1675). In den meisten außerschweizerischen Bekenntnissen wird dieses Dogma entweder infralapsarisch (s. Infralapsarii) behandelt, oder geradezu umgangen.
Mit der Entstehung dieser weitern Bekenntnisse verhält es sich folgendermaßen: Schon 1557 entstand für die reformierten Gemeinden in Ungarn die »Confessio Hungarica« oder »Czengeriana«. Zuerst unter den deutschen Fürstenhäusern wandte sich der Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz der reformierten Kirche zu. In seinem Auftrag schrieben 1563 Ursinus und Olevianus den »Heidelberger Katechismus« (s. d.), der in der deutsch-reformierten Kirche fortan als Bekenntnisschrift galt.
Für Friedrich III. zunächst war auch die große Bekenntnisschrift Bullingers (s. d.) bestimmt, die als zweite Helvetische Konfession ein nicht minder weit reichendes Ansehen erlangte. In Sachsen wurde das reformierte Element, welchem die Schule Melanchthons im Interesse einer evangelischen Union Aufnahme verschafft hatte, in der Konkordienformel (s. d.) ausgeschieden (1577). Dagegen trat zu Anfang des 17. Jahrh. (1604) der Landgraf Moritz von Hessen-Kassel zur reformierten Kirche über, nachdem er sich vergeblich um Vereinigung der beiden verwandten Kirchen bemüht hatte.
Auch im Anhaltischen, wo der mildere Lehrausdruck Melanchthons schon früher vorherrschend gewesen war, siegte seit 1589 der Calvinismus. Von bedeutendem Einfluß aber war der Übertritt des Kurfürsten Siegmund von Brandenburg zum Calvinismus (1614), als dessen Bekenntnis die sogen. »Confessio Marchica« gilt. Die Reformierten waren zwar in den Augsburger Religionsfrieden nicht ausdrücklich mit eingeschlossen, galten aber als augsburgische Konfessionsverwandte, sofern sie die veränderte Augsburgische Konfession (s. d.) von 1540 als Symbol anerkannten, und der Westfälische Friede von 1648 brachte ihnen eine vollkommen ebenbürtige Stellung neben Lutheranern und Katholiken auch in Deutschland. In Großbritannien entstand neben der katholisierenden Anglikanischen Kirche (s. d.) das echt reformierte Kirchenwesen der Presbyterianer (s. d.), welche sich zuerst in Schottland in der »Scotica« (1560),
dann zu London [* 91] in der »Confessio Westmonasteriensis« (1648) Bekenntnisse gaben. In den Niederlanden wurde zur Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Arminianern (s. d.) und Schülern des Gomarus (s. d.) als ökumenisches Konzil der reformierten Kirche die Synode zu Dordrecht [* 92] bis abgehalten, deren Beschlüsse jedoch keineswegs ganz ungeteilte Anerkennung in allen reformierten Ländern fanden. Die »Confessio Belgica« und die »Confessio Gallicana« wurden auf der Synode unterzeichnet, welche die während des spanischen Terrorismus nach dem deutschen Niederrhein geflüchteten holländischen Reformierten 1571 in Emden [* 93] hielten (Emdener Glaubensbekenntnis); an diese Flüchtlingsgemeinden schloß sich dann mit der Zeit die in reformierte Kirche den jetzigen preußischen Rheinlanden an. Auch bildeten sich im 19. Jahrh. in Holland, der Schweiz, in Frankreich und Schottland (seit 1843) Freie Gemeinden (s. d.). In Frankreich hatten die Reformierten (s. Hugenotten) durch Antoine de Chandieu, Prediger zu Paris, ihr Bekenntnis erhalten, das als »Gallicarum ecclesiarum confessio fidei« auf einer Synode zu Paris 1559 angenommen und dann auf einer Nationalsynode zu La Rochelle 1571 von neuem als Bekenntnisschrift der französisch-reformierten Gemeinden anerkannt ward. Nachdem sie durch das Edikt von Nantes [* 94] 1598 Duldung erlangt hatten, sahen sie sich infolge der Aufhebung des letztern 1685 neuen heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Erst die Revolution machte diesen traurigen Verhältnissen ein Ende, und erst 1830 erlangte die in reformierte Kirche Frankreich Gleichstellung mit der katholischen. Aber jetzt kam es wegen des auch hier ausbrechenden Kampfes zwischen der Orthodoxie und der freien Richtung zu den ¶