Indes die Schwierigkeit, das neuerworbene
Belgien mit den nördlichen
Niederlanden zu verschmelzen, vermochte er nicht zu überwinden.
Die beiden Teile der Niederlande waren zu lange voneinander getrennt gewesen und hatten sich zu
verschieden entwickelt. Die nördlichen
Provinzen wollten die Einkünfte aus hohen
Grundsteuern und Luxusabgaben ziehen, die
südlichen, vorzugsweise
Ackerbau und
Industrie treibend, die
Zölle erhöhen. Die große Schuldenlast der Niederlande (1000 Mill.
Gulden)
wurde von
Belgien nur mit Unwillen getragen.
Das
Gefühl der Demütigung, welches
Wilhelm I. über dieses Ende des von ihm gegründeten
Reichs empfand,
die Unzufriedenheit des
Volkes mit den erhöhten Geldforderungen der
Regierung und das allgemeine Verlangen nach einer durchgreifenden
Verfassungsreform bewogen den König, zu gunsten seines
Sohns abzudanken und sich mit einem ungeheuern
Vermögen,
das er durch Handelsspekulationen erworben, nach
Berlin
[* 15] zurückzuziehen, wo er starb.
Wilhelm
II. (1840-49) bewilligte sofort die Verantwortlichkeit der
Minister und verringerte den
Stand des
Heers um ein Bedeutendes.
Dadurch erlangte er die Zustimmung der
Generalstaaten zu einer außerordentlichen
Vermögenssteuer, zur Rentenumwandlung behufs
Verminderung der
Zinsen und zu einer freiwilligen
Anleihe, wodurch die
Finanzen in
Ordnung gebracht und die
Mittel für den
Bau vonEisenbahnen und die Trockenlegung des
HaarlemerMeers gewonnen wurden. Zu der Verfassungsreform entschloß
er sich aber erst nach der
Februarrevolution 1848. Eine verdoppelte Zweite
Kammer trat zusammen und ließ durch
einenAusschuß unter
Thorbeckes Vorsitz einen liberalen Verfassungsentwurf ausarbeiten, der die
Einteilung
der Provinzialstaaten in
Stände abschaffte und für die Zweite
Kammer direkte
Wahlen, allerdings mit einem hohen
Zensus, vorschrieb.
Das neue
Grundgesetz wurde verkündet. Nicht lange darauf, starb
Wilhelm II.
Die päpstliche
Allokution vom welche dies verkündete, erregte einen
Sturm der Entrüstung
in der protestantischen
Bevölkerung,
[* 16] die der König, des herrschsüchtigen
Ministers überdrüssig, in seiner Antwort auf
die
Adresse von
Amsterdam billigte (15. April).Thorbecke forderte und erhielt darauf seine Entlassung, und ihm folgten nun einige
konservative Ministerien unter van
Hall,
[* 17] van der Brugghen, Zuylen u. a., die sich aber nur dadurch im
Amt zu halten vermochten, daß sie auf alle reaktionären
Wünsche einer Verfassungsrevision verzichteten und 1857 sogar ein
ganz liberales Unterrichtsgesetz, welches den Religionsunterricht aus allen staatlichen
Elementarschulen ausschloß, in den
Kammern zur
Annahme brachten. Dafür ließen die
Liberalen das bestehendeKolonialsystem unangefochten. Die
Liberalen hatten die Mehrheit in den
Generalstaaten, waren aber zerfahren und von
¶
mehr
Parteiinteressen beherrscht. Dies zeigte sich, als im Januar 1862 Thorbecke zum zweitenmal an die Spitze derRegierung trat.
Dieser reformierte das Steuersystem, indem er die Accise gänzlich abschaffte, erlangte die Zustimmung zu wichtigen öffentlichen
Anlagen (direkten Kanälen von Amsterdam und Rotterdam
[* 19] bis zur See), scheiterte aber an dem Versuch, die Verwaltung
der Kolonien umzugestalten und den 1830 auf Java eingeführten Kulturzwang, ein hartes, aber für den Staat einträgliches Fronsystem,
abzuschaffen; nur der Bau der ersten Eisenbahn auf Java wurde genehmigt und die Sklaverei in Westindien
[* 20] aufgehoben.
Erst Fock, dann Thorbecke (Anfang 1871) bildeten neue liberale Ministerien, welche den drückenden Zeitungsstempel und die Todesstrafe
abschaffen. WiderWillen sahen sie sich auch genötigt, die Frage der Heeresreform in die Hand
[* 26] zu nehmen. Der deutsch-französische
Krieg 1870/71 erregte die Gemüter in den Niederlanden um so mehr, als er deren Interessen nahe berührte. Die leitenden Kreise
hatten das Emporkommen Preußens, auf das sie bisher herabgesehen hatten, und mit dem sie nun rechnen
mußten, mit Neid und Eifersucht beobachtet und bewirkten es, daß bei Beginn des Kriegs die Armee so aufgestellt wurde, daß
sie im Fall des sicher erwarteten Siegs der Franzosen in Deutschland feindlichem Sinn eingreifen konnte.
Die gewaltigen und raschen Erfolge der Deutschen zwangen nun zwar die Niederlande zu einer strengen Neutralität,
erregten aber die Furcht vor deutschen Annexionsabsichten auf die Niederlande selbst oder wenigstens ihre Kolonien. Unter diesen Umständen
hielt selbst Thorbecke, der bisher sowohl als Abgeordneter wie als Minister stets für die größtmögliche Beschränkung des
Militärbudgets eingetreten war, eine Verstärkung
[* 27] der Verteidigungsmittel durch neue Festungsanlagen
und Vermehrung der Streitkräfte für unvermeidlich.
Das liberale MinisteriumFransen van den Putte scheiterte wiederum an der Kolonialpolitik. Im Dezember 1871 hatten die Niederlande ihre
Besitzungen in Guinea an England verkauft und dafür dessen Zustimmung zur Ausbreitung ihrer Herrschaft auf Sumatra erlangt.
Die Regierung hatte darauf vom Sultan von Atschin (s. d.) Unterwerfung unter gewisse Bedingungen gefordert
und, als er das ablehnte, 1873 Krieg gegen ihn begonnen. Der erste Feldzug scheiterte aber gänzlich, und auch als General van
Swieten im Januar 1874 den Kraton, die Hauptfestung der Atschinesen, erobert hatte, war damit wenig gewonnen, während das mörderische
Klima
[* 28] ungeheure Opfer an Menschenleben forderte und die Rüstungen
[* 29] große Ausgaben verursachten.
Dagegen lehnten die Kammern das Wehrgesetz, die Rentensteuer und ein Kanalgesetz ab, und das Defizit erreichte
eine so bedenkliche Höhe (40 Mill.), weil der Krieg in Atschin alle Überschüsse des Kolonialbudgets verschlang, daß Kappeyne 1879 zurücktrat.
Das mittelparteiliche Kabinett van Lynden führte nur die Regierung weiter, ohne außer einem neuen Strafgesetzbuch (1881) gesetzgeberische
Thaten zu versuchen; unter ihm wurde 1879 der Krieg in Atschin durch General van der Heyden siegreich beendet,
wenn auch die völlige Unterwerfung des Landes damit keineswegs erreicht wurde.
Das Verlangen nach einer Verfassungsreform wurde inzwischen immer dringender laut, und Heemskerk, der wegen der Uneinigkeit
der Liberalen 1883 ein »außerparlamentarisches« Ministerium bildete, nahm nun die Verfassungsrevision energisch in die Hand.
Dieselbe war um so nötiger, als mit dem Tode des KronprinzenAlexander die männliche Deszendenz
des Königs erlosch, auch außer dem hochbetagten König kein andrer männlicher Sproß des Königshauses vorhanden war und
daher die Thronfolge gesetzlich geregelt werden mußte.
Heemskerk beantragte, den Wahlzensus herabzusetzen, das Land von neuem in Wahlbezirke einzuteilen,
die Mitgliederzahl der Ersten Kammer auf 50, die der Zweiten auf 100 zu bestimmen und die Thronfolge in der Weise zu ordnen,
daß zuerst die Tochter des Königs, PrinzessinWilhelmine, dann seine Schwester, die Großherzogin von Weimar
[* 30] und ihre Kinder,
zuletzt die Nachkommen der Geschwister seines Vaters erbberechtigt sein sollten; die allgemeine Wehrpflicht
ward nicht berührt. Aber bei den Neuwahlen, welche nach der Auslösung der Generalstaaten Anfang 1885 stattfanden, wurden gerade
so viel Liberale als Antiliberale (43) gewählt,
¶
mehr
und die letztern machten die Aufhebung der Schulgesetze zur Bedingung der Verfassungsrevision; als die Regierung hierauf nicht
einging, vereitelten sie jeden Beschluß der Kammer. Dieselbe wurde daher zum zweitenmal 1886 aufgelöst, und diesmal erlangten
die Liberalen eine Mehrheit von acht Stimmen. Die öffentlichen Zustände, namentlich das Anwachsen der Sozialdemokratie in
den Niederlanden, welche im Sommer 1886 in Amsterdam und an andern Orten erhebliche Unruhen erregten, die nur mit blutiger Gewalt
unterdrückt werden konnten, mahnten endlich die Antiliberalen, Orthodoxe und Ultramontane, dem parlamentarischen Stillstand
ein Ende zu machen. 1887 ward daher die Verfassungsrevision nach sechsjährigen Verhandlungen von den Generalstaaten endgültig
angenommen und 30. Nov. die neue Verfassung verkündet, welche die Zahl der Wähler um 200,000 vermehrt. Bei
der Wahl der Kammern nach dem neuen Gesetz im März 1888 erlangten die Liberalen bloß in der Ersten Kammer die Mehrheit, in der
Zweiten nur 45 gegen 55 antirevolutionär-klerikale Stimmen. Heemskerk nahm daher seine Entlassung, und
BaronMackay bildete daher im April ein antirevolutionär-ultramontanes Ministerium.
Vgl. Wagenaar, De vaderlandsche historie vervattende de geschiedenissen der vereenigde Nederlanden (Amsterd.
1749-60, 21 Bde.; Supplement bis 1790, das. 1789-90, 3 Bde.;
Fortsetzung von 1776 bis 1802, das. 1788-1810, 48 Bde.);
[* 35] Litteratur. Die schöne oder Nationallitteratur der Niederländer hat eine nur wenig über die Grenzen
[* 38] des Landes hinausgehende allgemeinere Bedeutung; sie zeichnet sich im ganzen, dem Charakter des Volkes entsprechend, weniger
durch dichterischen Gehalt und kühnen Schwung der Phantasie als durch eine gewisse behagliche Hausbackenheit
und Beförderung lauterer Religionsmeinungen und rechtlichen Bürgersinns aus. Die ältesten Denkmäler derselben sind eine
Anzahl höfischer Epopöen aus dem 13. Jahrh., welche meist Stoffe aus dem karolingischen und britischen Sagenkreis behandeln,
aber mit wenigen Ausnahmen Übersetzungen französischer Originale sind und insofern nur geringe Bedeutung haben.
Wir nennen davon: »Carel ende Elegast« (hrsg.
von Jonckbloet, Amsterd. 1859);
»Partenopeus« (hrsg. von Maßmann, Berl. 1847) und »Ferguut« (hrsg.
von Verwijs u. Verdam, Groning. 1881).
Weit über diesen Epopöen steht der »Reinaert« (hrsg.
von Jonckbloet, Groning. 1856), das einzige bekannte Produkt niederländischer Volksdichtung aus jener Zeit
(s. Reineke Fuchs). Jene Epopöen wurden infolge des Aufschwunges des Bürgertums und des Verfalls des Rittertums von einer
andern Dichtungsart verdrängt, welche meist aus lateinischen Quellen schöpfte und vorwiegend didaktische Zwecke verfolgte.
Hauptrepräsentant derselben ist Jakob van Maerlant (13. Jahrh.), der in seinen Werken alle Fragen der Zeit,
wie die Leibeigenschaft, die Pflichten des Regenten, und im »Spiegel
[* 40] historiael« den Inbegriff der allgemeinen Geschichte behandelt.
An ihn schließt sich unmittelbar der bedeutendste Dichter des 14. Jahrh. an, Jan Boendale,
genannt Jan deClerc, Schreiber der Schöffen zu Antwerpen (gest. 1351),
Verfasser zweier Reimchroniken, der »Brabantsche yeesten«
(hrsg. von Willems 1839-43, 2 Bde.) und »Van den derden Edewaerd«, sowie mehrerer Lehrgedichte, von denen
die bedeutendsten »Der leken spiegel« (1325-30; hrsg.
von de Vries, Leid. 1844-48, 3 Bde.) und »Jans Teesteye« (1331; hrsg. von Snellaert, 1867). Auch das »Dietsche doctrinal« von 1345 (hrsg.
von Jonckbloet, Haag 1842) und der »Cato« (hrsg. von Jonckbloet, Leid. 1846) sind anzuführen. Erwähnung
verdienen außerdem Jan van Heelus Beschreibung der Schlacht von Woeringen (hrsg. von Willems 1836),
der »Brandaen« (hrsg. von Blommaert, das. 1838-41) und die »Beatrijs«
(hrsg. von Jonckbloet, Amsterd. 1859),
die schönste Blüte
[* 42] mittelniederländischer Poesie. Auch
¶
mehr
»Van den levene ons heren« (hrsg. von Vermeulen, Utr.
1843) gehört hierher. Während von den lyrischen Produkten dieser Zeit nur wenig erhalten ist, zeichnen sich die dramatischen,
obgleich noch Erstlingsversuche, bereits durch eine gewisse Unabhängigkeit vom kirchlichen Dogma und keckes Eingreifen in
das wirkliche Leben aus. Eine »Altniederländische Schaubühne« gab
Hoffmann von Fallersleben in den »Horae belgicae« (Bd. 6) und später Moltzer (1870) heraus.
Um die Mitte des 14. Jahrh. wurden, während die Prosa sich zu bilden anfing (Bibelübersetzungca. 1300, Jan van Ruysbroekca.
1350), statt der Reimchroniken, Sittenspiegel etc. kürzere Gedichte, öfters Improvisationen, worin Erzählung und Sittenlehre
vereinigt waren, vorherrschend, und zwar wurde diese Poesie von Dichtern gepflegt, welche oft ein Wanderleben
führten und Sprekers hießen. Die berühmtesten unter ihnen sind Willem van Hildegaersberch (um 1350-1400), dessen PoesienBisschop und Verwijs (Haag 1870) veröffentlichten, und Boudewijn van der Loren, dessen Dichtungen zum Teil von Blommaert (»Oude
vlämische gedichten«, Gent 1838 ff.) herausgegeben wurden.
Der bedeutendste Dichter des 15. Jahrh., DirkPotter (gest. 1428),
verfaßte »Der minnen loep« (hrsg. von
Leendertz, Leid. 1845-47, 2 Bde.), ein auf der bürgerlichen Basis der Spruchdichtung beruhendes Werk, worin eine Reihe von
Liebesgeschichten abwechselnd mit moralisierenden Vorträgen zu einem anziehenden Ganzen verwoben sind.
Daß die Kluft zwischen den adligen und bürgerlichen Kreisen sich mehr und mehr auszugleichen begann, beweisen vornehmlich
die zu Anfang des 15. Jahrh. entstandenen Kammern der Rederijker (s. d.), in denen sich beide Stände zu gemeinsamer Verfolgung
litterarischer Zwecke die Hand reichten. Es waren dies poetische Vereine mit zünftiger Verfassung, deren
Mitglieder sich zu bestimmten Zeiten zu poetischen Übungen und Vorträgen, namentlich auch zur Aufführung von Schauspielen,
vereinigten.
Wenn auch die hier erzielten Produkte von sehr geringem poetischen Wert sind, so sind jene Vereine doch insofern von Wichtigkeit,
als sie sich mit Eifer an den damaligen politischen Händeln beteiligten und durch ihre dramatischen Arbeiten
unmittelbar auf das Volk zu wirken suchten. Ihre patriotischen und liberalen Bestrebungen zur Zeit der reformatorischen Bewegungen
führten in den südlichen Provinzen ihre Unterdrückung durch die spanische Regierung herbei, während sie in den nördlichen
noch bis ins 18. Jahrh., wiewohl zuletzt hinter der Zeit zurückbleibend, fortbestanden.
welche den gegen Ende des 16. Jahrh. von Antwerpen hierher übersiedelten Kaufleuten und sonstigen Notabilitäten
einen Vereinigungspunkt zu geselligen und litterarischen Unterhaltungen darbot und zum Ausgangspunkt patriotischer Bestrebungen
für die Pflege der Muttersprache und für Schöpfung einer Kunstpoesie wurde, deren Charakter keineswegs
unvolkstümlich war. Unter denen, welche sich durch Läuterung der unter der burgundischen Herrschaft durch welsche Elemente
sehr verunreinigten Sprache, durch grammatische Regelung derselben und den Versuch, poetische und prosaische Mustererzeugnisse
aufzustellen, hohes Verdienst um dieniederländische Litteratur erwarben, stehen Filips van Marnix (gest. 1598), DirkCoornhert
(gest. 1590) und die Kaufleute Roemer Visscher (gest. 1620) und Hendrik Laurenszoon Spiegel (gest. 1612) obenan.
Doch waren sie nur die Vorläufer
der drei originellsten niederländischen Dichter, die in derselben Kammer verkehrten, Hoofts,
Vondels und Huygens', durch welche dieniederländische Litteratur rasch fast zu ihrer höchsten Blüte gelangte. Pieter Corneliszoon
Hooft (1581-1647) wußte italienische Form, Schönheit mit gedankenvollem Inhalt aufs glücklichste zu vereinigen und hob Poesie
und Prosa zu gleicher Vollendung, so daß er in der niederländischen Litteratur Epoche macht.
Joost van den Vondel (1587-1679), an poetischer Begabung Hooft noch übertreffend, leistete in der Lyrik und Satire
wie auch in den übrigen Gattungen, mit Ausnahme des Epos, Vorzügliches, wenn auch seine Schauspiele in dramatischer Hinsicht
mangelhaft sind. KonstantinHuygens (1596-1686), der Vater des berühmten Mathematikers, zeichnete sich durch die umfassenden
Sprach- und Litteraturkenntnisse aus, verfiel aber in seinen lyrischen, beschreibend-lehrhaften, satirischen Gedichten
und Epigrammen im Streben nach gehaltvoller Gedrungenheit nicht selten ins Gesuchte, Dunkle und Schwerfällige.
In Gegensatz zu diesen drei AmsterdamerGrößen trat JakobCats (1577-1660) zu Dordrecht,
[* 44] indem er nicht für ein auserlesenes,
sondern für das große Publikum schrieb und in Allegorie und heiterer Erzählung Treffliches leistete. Das Buch des »Vader Cats«
hat über ein Jahrhundert lang neben der Bibel
[* 45] als zweites Hausbuch gegolten. Außer diesen drei Hauptdichtern
verdienen besonders Erwähnung in der Lyrik und Elegie: DanielHeinsius, der bekannte Philolog (gest. 1655);
die Töchter des
oben genannten Roemer Visscher, Anna (gest. 1651) und Maria Tesselschade (gest. 1649), beide besonders in kleinern Poesien ausgezeichnet;
G. A. Bredero (gest. 1618);
D. R. Camphuisen (gest. 1626), dessen geistliche Lieder lange populär geblieben
sind;
Jeremias deDecker (gest. 1655),
bekannt durch gefühlvolle kleine Gedichte;
Jakob Westerbaen (gest. 1670) und Joachim Oudaen (gest. 1692), deren
politische Gedichte viel gelesen wurden;
endlich der beste LehrlingVondels, Joannes Antonides van der Goes (gest. 1684), dessen
Gedicht »De Istroom« ^[eigentlich: »De Ystroom«], eine Verherrlichung Amsterdams, sowie seine kleinern Poesien viele Schönheiten
enthalten, aber nicht selten an Überschwenglichkeit leiden.
Als Epigrammatiker verdient neben Huygens besonders G.Brandt (gest.
1685), der Historiker, genannt zu werden. Beachtenswerte Fortschritte machte in dieser Periode das Drama.
Eine wirklich klassische Tragödie hat aber dieniederländische Litteratur nicht aufzuweisen, obwohl Hooft (»Geraert van Velsen«, »Bato«) und Vondel
(»Lucifer«, »Adam in ballingschap« etc.) Vorzügliches geleistet. Vondels »Gijsbrecht van Amstel« wird noch immer am Neujahrstag
aufgeführt, aber das Stück hat nur seinen lyrischen und beschreibenden Episoden seinen Ruhm zu verdanken.
Die übrigen Tragödiendichter folgten fremden Mustern. Originell dagegen ist das holländische Lustspiel, und selbst, wo das
Motiv aus der Fremde entlehnt ist, sind die Zustände ganz auf holländischen Boden verpflanzt. Als Hauptdichter gilt hier unbestritten
G. A. Bredero (gest. 1618), dessen »Spaansche
Brabander«, »Moortje« u. a. wirklich
dramatisches Talent verraten. Auch Hooft (»Warenar«) und Huygens (»Trijntje Cornelis«) haben in diesem GenreGutes geleistet.
- Die holländische Prosa ward besonders durch Dirk V. Coornhert (s. oben) ausgebildet. Hooft schrieb einen kernhaften Stil, ahmte
aber zu einseitig Tacitus nach. Die bessern von den übrigen, wie G.Brandt, J. ^[Johan] van
¶
W. Swinnas, sind öfters zu breit oder zu gekünstelt.
Einen nachteiligen Einfluß auf dieniederländische Litteratur übte Ende des 17. Jahrh.
die Einwanderung der durch den Widerruf des Edikts von Nantes
[* 47] (1685) aus ihrem Vaterland vertriebenen französischen Protestanten,
welche den Geschmack für ihre großen Dichter, aber auch die Verachtung der eignen Poesie herbeiführten.
Dazu kam, daß durch den langen Frieden von 1713 bis 1780 die Thatkraft der Nation erlahmte; übermäßiger Reichtum erzeugte
Üppigkeit und wiegte das so energische Volk in einen lethargischen Schlummer.
Die Poesie ward Zeitvertreib müßiger Dilettanten, welche gewöhnliche Alltagsprosa mühsam zu glatten Reimen drechselten.
Jeder eigne und nationale Ton verstummte allmählich vor der Nachäffung der französischen Klassizität, welche jetzt Mode wurde.
Fortwährendes Unglück seit 1780 infolge von Krieg und Wassersnot schadete dem Wohlstand der Nation; fremde Heere tummelten
sich in dem durch Parteiungen zerrissenen Land und schienen den Mut der Bevölkerung völlig erdrücken zu
wollen.
Doch unter dem stets härter werdenden Druck regte sich die Vaterlandsliebe von neuem. Die Erinnerung an die großen Zeiten der
Väter feuerte die Dichter an, den Nationalgeist zu wecken. Die Wirkungen dieses Bestrebens zeigten sich erst recht deutlich
nach dem Frieden von 1814, und Künste und Wissenschaften sind seitdem in erfreulichem Fortschreiten begriffen.
Wir haben also im ganzen 18. Jahrh. nur wenige ausgezeichnete Namen zu nennen. Eigentlich noch ins 17. durch seine erotischen
Gedichte gehören der treffliche Kupferstecher Jan Luyken (gest. 1712), welcher später als religiöser Dichter sehr beliebt
ward, und der Lyriker Jan van Broekhuizen (gest. 1707). Auch der Landmann Hubert Corneliszoon Poot (gest.
1733) erinnert, besonders in seinen erotischen und ländlichen Gedichten, durch treffliche Diktion und poetischen Schwung
noch an Vondel und Hooft.
Die besten Vertreter des Lustspiels waren Pieter Bernagie (gest. 1696), Abraham Alewijn und Pieter Langendijk (gest. 1756),
deren Leistungen sich durch Laune und lebendige Charakterzeichnung, aber nicht durch Feinheit empfehlen.
An Tragödien und an epischen Gedichten ist während dieser Periode kein Mangel, doch ward in beiden Gattungen nichts Ursprüngliches
geleistet. Nur die Brüder Willem und Onno Zwier van Haren, friesische Edelleute, machen eine günstige Ausnahme, besonders
der zweite (gest. 1779), dessen episch-lyrisches Gedicht »De Geuzen« wohlverdienten Ruhm erwarb, während
die gerühmten EpopöenArnold Hoogvliets (gest. 1763; »Abraham de aartsvader«) und Lucretia Wilhelminas van Merken (gest. 1798)
heute der wohlverdienten Vergessenheit verfallen sind. Den holländischen Roman haben am Ende des Jahrhunderts die zwei FrauenElisabethWolff, geb. Bekker (gest. 1804), und AgathaDeken (gest. 1804) geschaffen, deren »Sara Burgerhart«
und »Willem Leevend«, voll Geist und Menschenkenntnis, die lebendigste Schilderung des Bürgerlebens ihrer Zeit enthalten.
Einen neuen Aufschwung erhielt die Poesie am Ende des 18. Jahrh. mit Rhijnvis Feith (gest. 1824) und Willem Bilderdijk (gest.
1831). Der erste, SchülerKlopstocks, machte sich besonders als religiöser Dichter bekannt; der zweite
hat in vielen Genres Treffliches geleistet, besonders in dem epischen Gedicht »De ondergang der eerste wereld«. Als patriotischer
Dichter ward am Anfang des 19. Jahrh. Jan Frederik Helmers (gest. 1813)
populär durch seine beschreibende Dichtung »De hollandsche
natie« und etwas später H. Tollens (gest. 1856),
auch besonders durch seine häuslichen Gedichte. Sein
bestes größeres Gedicht ist unstreitig: »De overwintering der Hollanders op Nova Zembla«. Ein echter Naturdichter und einer
der wenigen humoristischen Dichter, welche dieniederländische Litteratur aufzuweisen hat, ist A. C. W. Staring, (gest. 1840). Als Lyriker dieser
Periode sind ferner Corn. Loots (gest. 1834) u. Jan Kinker
hervorzuheben, welch letzterer in seinem Lehrgedicht »Das Allleben« naturphilosophische Gedanken an die Stelle der hergebrachten
Moral zu setzen suchte.
Sie alle wurden aber überragt durch Isaakda Costa (gest. 1860),
dessen sogen. »Politieke poëzy« und dessen
»Slag bij Nieuwpoort« zu den besten niederländischen Gedichten gehören.
Um 1830-40 übte die neuere Romantik (Byron, Scott, Hugo) einen großen Einfluß. Namentlich war es Jakob
van Lennep
[* 48] (1802-68), welcher den romantischen Anschauungen in HollandBahn brach und dem falschen französischen Klassizismus
durch seine nationalen Dichtungen erfolgreich entgegentrat. Neben ihm traten als erzählende Dichter und Lyriker auf: Nikolaas
Beets (»Don José«, »Guy de Vlaming«),
Die Prosa sank nachBrandt sehr herab und ward im 18. Jahrh. nur von wenigen, wie Justus van Essen
[* 52] (»De hollandsche
spectator«, 1731) oder O. Z. van Haren und dem Geschichtschreiber Jan Wagenaar, mit Erfolg gepflegt. Seit den Schriftstellerinnen
Wolff und Deken (s. oben) ward sie ungezwungener, aber nur bei einzelnen, wie z. B. beiArend Fokke Simons (gest. 1812), der in seinen satirischen Schriften (»ModernHelikon«, »Boertige reis door Europa«
[* 53] etc.) viel
Witz und Gewandtheit entwickelte. Eine völlige Änderung trat erst um 1840 ein. Vorläufer dieser Bewegung waren JakobGeel (»Onderzoek
en phantasie«) und Petrus van Limburg-Brouwer, der neben Romanen aus dem altgriechischen Leben (»Charicles
en Euphorion« etc.) das satirisch-humoristische Werk »Het
leesgezelschap te Diepenbeek« schrieb; dann folgten Beets mit seiner witzigen »Camera obscura«,
[* 54] van Lennep mit seinen Romanen,
Oltmans (van den Hage, gest. 1854) mit den Erzählungen: »Het slot Loevenstein« und »De schaapherder«, Kneppelhout mit seinen
»Studententypen«, Potgieter mit seinen Erzählungen, ter Haar, J. ^[Johannes] Bosscha u. a. Von den Zeitgenossen
sind am meisten hervorragend: FrauBosboom-Toussaint (gest. 1886) durch ihre trefflichen historischen und Familienromane, J.
J. ^[Jacobus Jan] Cremer durch seine Dorfgeschichten, E. Douwes Dekker (Multatuli) durch seine glühende Schilderung sozialer
Mißbräuche, namentlich auf Java (»Max Havelaar«),
Ungleich erfolgreicher als auf dem Felde der poetischen Litteratur erscheint die Thätigkeit der Niederländer auf wissenschaftlichem
Gebiet: hier sind ihre Leistungen in verschiedenen Fächern groß und umfassend und haben einen bedeutenden Einfluß auf die
allgemeine litterarische Kultur ausgeübt. Schon im frühen Mittelalter war das Land durch seine vorzüglichen
Schulen ein berühmter Sitz wissenschaftlicher Studien und die Bildungsstätte, aus welcher zahlreiche ausgezeichnete Gelehrte
und Staatsmänner Deutschlands
[* 56] wie Frankreichs hervorgingen.
Durch diese Gelehrten, die meist ihre Bildung in Italien
[* 59] vollendeten, wurde das eben neuerwachte Studium der klassischen Litteratur
nach dem Norden
[* 60] verpflanzt und dadurch vorzugsweise der Reformation der Weg gebahnt, durch deren Einführung in den
Niederlanden das wissenschaftliche Leben daselbst einen neuen Impuls erhielt, wie sie anderseits zum Befreiungskampf gegen die
spanische Gewaltherrschaft und schließlich zur nationalen Selbständigkeit des Landes führte.
Unter den einzelnen Disziplinen, welche daselbst mit besonderm Fleiß und Erfolg kultiviert wurden, nimmt die Philologie die
erste und breiteste Stelle ein. Während das Studium des klassischen Altertums mit dem Anfang des 17. Jahrh.
in Italien zu sinken begann, fand es gerade auf den holländischen Universitäten die sorgsamste Pflege und hat sich dieser
Teilnahme bis in die Neuzeit fast ununterbrochen zu erfreuen gehabt. Noch im 16. Jahrh. zeichneten sich durch philologische
Gelehrsamkeit besonders die Professoren zu Löwen, Peter Nannius (gest. 1557) und W. Canter (gest. 1573),
aus; als scharfsinnige Kritiker sind Lucas Fruytier (Fruterius) in Brüssel
[* 62] und Justus Lipsius (gest. 1606) zu nennen.
Lebendiger noch entwickelte sich der Eifer für die humanistischen Studien
in dem freien Norden besonders an der Universität
zu Leiden, deren erster Kurator, der Staatsmann Jan Douza (gest. 1606), zugleich zu den bedeutendsten
Gelehrten jener Zeit gehörte. Es bildete sich daselbst eine neue Art von Wissen, die sogen. Polyhistorie, aus, die man als
Nachfolgerin des italienischen Humanismus betrachten kann. Die Leidener
[* 63] Gelehrten gingen nämlich bei ihren Bemühungen um die
alten Schriftsteller wohl auch auf die Verbesserung der Texte und auf das Sprachliche aus; aber sie suchten
insbesondere die Realien, die sogen. Altertümer, zu erklären und sammelten zu diesem Zweck eine Unmasse von Kenntnissen auf.
Es wurde nicht nur das Staatswesen, die Chronologie, die Münzkunde behandelt, sondern auch die Trachten der Griechen und Römer,
[* 64] ihr Gottesdienst, ihr Hauswesen, ihre Schiffahrt, ihre Kriegswaffen, ihre Belagerungskunst etc. in Betracht
gezogen, um so das Altertum in seiner Totalität wiederzugewinnen. Als Begründer dieser Richtung galt Joseph Justus Scaliger,
der seit 1592 in Leiden lehrte und 1609 daselbst starb. Unter den Nachfolgern auf der von ihm gebrochenen Bahn sind hervorzuheben:
der vielseitige Gelehrte und Staatsmann HugoGrotius (gest. 1645), die ausgezeichneten GelehrtenGerhardJoh.
Vossius (gest. 1649) und DanielHeinsius (gest. 1655) und die aus Deutschland eingewanderten Joh. Friedr. Gronovius (gest. 1671),
der eigentliche Stifter der holländischen Latinistenschule, und der gleichberühmte, aber schon ziemlich oberflächliche
Joh. G. Grävius (gest. 1703), mit dem der Verfall des philologischen Studiums beginnt, das dann in P. Burmann
(gest. 1741) u. a. zur Kompilation herabsinkt. Um die historische
Kenntnis des Altertums insbesondere machten sich Joh. Meursius (gest. 1639) und ClaudiusSalmasius (gest. 1653) verdient, letzterer
ein Riese an Gelehrsamkeit, der aber sein ungeheures Material nicht geistig zu sichten und zu verknüpfen
verstand. Eine zweite Glanzperiode der holländischen Philologie begann um die Mitte des 18. Jahrh., hervorgerufen durch den
LeidenerProfessorTiberiusHemsterhuis (gest. 1766), den Stifter der holländischen Hellenistenschule, zu welcher als Hauptvertreter
derselben David Ruhnkenius, einer der größten Philologen des Jahrhunderts (gest. 1798),L. K. Valckenaer (gest.
1785) und Dan. Wyttenbach (gest. 1820) gehörten.
Von jüngern verdienen Hervorhebung: die Gräzisten van Heusde (gest. 1859), Cobet, van Herwerden etc.;
die Latinisten Hofman-Peerlkamp
(gest. 1825), J. ^[Jan] Bake (gest. 1864), Naber u. a. Auch in der lateinischen Poesie haben sich von alters her die Niederländer
zahlreich und mit Vorliebe versucht;
Das Studium der orientalischen Sprachen wurde ebenfalls bereits im 17. Jahrh. gefördert und zwar vorzugsweise durch
Th. Erpenius und J. ^[Jacobus] Golius, der ein arabisches und persisches Wörterbuch herausgab, im 18. Jahrh. durch Reland und
namentlich Albr. Schultens (gest. 1750), der den Nachweis der Verwandtschaft der semitischen Sprachen führte
u. darauf zuerst ein methodisches Studium derselben begründete. Aus seiner Schule gingen zahlreiche verdienstliche Orientalisten
hervor, wie sein Sohn Joh. Jakob und sein Enkel Heinr. AlbertSchultens, W. Schröder, E. Scheidius, Greeve und besonders Hamaker,
denen sich später Roorda, Weyers, Juynboll, Uylenbroek und in jüngster Zeit Dozy, Land, de Goeje u. a.
anreihten. Auch die Sprachen des Indischen Archipels fanden seit den
¶