Die Fähigkeit des Nervs, durch gewisse Einwirkungen, die man als Reize bezeichnet, in den thätigen Zustand übergeführt
zu werden, nennt man seine Erregbarkeit oder Reizbarkeit. Dieselbe ist zunächst abhängig von der normalen chemischen Zusammensetzung
des Nervs. Ferner ist sie gebunden an die Verbindung des Nervs mit einem nervösen Zentralapparat; nach
der Lösung dieser Verbindung nimmt die Reizbarkeit zuerst zu, um dann bis zum völligen Erlöschen abzusinken.
Anhaltende Unthätigkeit eines Nervs verringert seine Erregbarkeit und kann selbst zur Degeneration des Nervs führen. Übermäßige
Thätigkeit bewirkt Ermüdung und Verengerung der Erregbarkeit; Ruhe stellt den normalen Zustand wieder her. Einen eigentümlichen
und sehr eingehend studierter Einfluß auf die Erregbarkeit des Nervs bekundet der konstante elektrische
Strom. Führt man durch eine beliebig lange Strecke eines Nervs einen konstanten Strom, so gerät der ganze Nerv in einen Zustand,
in welchem seine Erregbarkeitsverhältnisse eigentümlich modifiziert erscheinen.
Mechanisch reizend wirken alle mit einer gewissen Schnelligkeit und einer gewissen Stärke
[* 4] erfolgenden mechanischen Erschütterungen
des Nervs. Läßt man eine Anzahl mechanischer Reize mit genügenden Schnelligkeit hintereinander auf den Nerv einwirken, so
gerät der Muskel in tetanische Kontraktion. Thermisch reizend wirken rasche Übergänge sowohl zu höherer
als zu niedrigerer Temperatur. Ein ganz konstanter, den Nerv in seiner Längsrichtung durchfließender Strom stellt keinen Nervenreiz
dar, sondern nur Veränderungen der Stromdichte wirken erregend und zwar umso stärker, je schneller diese Veränderungen
vor sich gehen.
Die Erscheinung, daß ein Reiz, der an irgend einer Stelle den Nerv trifft, eine Veränderung im entsprechenden
Endorgan bewirkt, spricht für eine Fortpflanzung der Erregung durch die Nervenfaser. Man spricht deshalb von einem Leitungsvermögen
der Nerven. Die Nervenfaser ist nur dann im Besitz dieses Vermögens, solange ihr Zusammenhang an keiner Stelle unterbrochen ist.
Ist letzteres aber geschehen, so kann sich der Reiz über die verletzte Stelle hinaus nicht fortpflanzen.
Die Erregung geht auch nie auf eine benachbarte Nervenfaser über; die Leitung jeder Faser ist vielmehr vollkommen isoliert,
und die Erregung pflanzt sich stets nur in der gereizten Faser fort. Erfolgt die Leitung in der Richtung
von der Peripherie nach dem Zentrum, so nennt man sie zentripetal, in umgekehrte Richtung aber zentrifugal: Die Nerven leiten für
gewöhnlich nur
in einer Richtung;
man unterscheidet deshalb zentripetal von zentrifugal leitenden Nervenfasern.
Hieraus darf
man aber nicht schließen, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen diesen Fasern bestehe, und daß jede
Faser überhaupt nur in einer einzigen Richtung zu leiten im stande sei. Vielmehr besteht sehr wahrscheinlich ein doppelsinniges
Leitungsvermögen. Die Erregung pflanzt sich mit einer meßbaren Geschwindigkeit im Nerv fort. Die mittlere Geschwindigkeit
im Froschnerv fand Helmholtz = 26,4 m in der Sekunde.
Am Nerv beobachtet man elektrische Erscheinungen, die eine große Ähnlichkeit
[* 5] mit denen des Muskels besitzen.
Bringt man nämlich ein Galvanometer
[* 6] mit einem natürlichen Längsschnitt und einem künstlichen Querschnitt eines noch nicht
abgestorbenen Nervs in Verbindung, so überzeugt man sich von dem Vorhandensein eines elektrischen Stroms, der ähnliche Gesetze
befolgt wie der Muskelstrom. Die elektromotorische Kraft des Nervs ist nun am größten im Zustand der
Ruhe. Wie beim Muskel, so ist auch hier die Abnahme des Stroms bei der Erregung von Du Bois-Reymond als negative Stromesschwankung
bezeichnet worden.
1) zentrifugal leitende, 2) zentripetal leitende und 3) interzentrale Fasern. Je nach der Arbeitsleistung,
welche ihre Erregung in den peripheren Organen hervorruft, bezeichnet man die zentrifugal leitenden Fasern a) als motorische
Fasern, d. h. solche, auf deren Erregung Muskelkontraktion erfolgt. Nerven, welche
an die Muskulatur von Blutgefäßen treten, bezeichnet man als vasomotorische Nerven, und man unterscheidet hier zwischen Vasokonstriktoren
und Vasodilatatoren; auf Reizung der erstern verengern sich, auf solche der letztern erweitern sich die
Blutgefäße; b) als sekretorische Fasern; ihr peripheres Endorgan ist eine Drüsenzelle, und durch die Erregung dieser Fasern
wird der Absonderungsvorgang in der Drüse angeregt.
Die zentripetalen Fasern leiten Erregungen der peripheren Endorgane nach dem Zentrum hin und lösen hierselbst
entweder Empfindungen aus, oder die im Zentrum anlangende Erregung wird auf zentrifugale, d. h. also auf motorische oder sekretorische,
Fasernübertragen. Im erstern Fall spricht man von sensibeln, im letztern von reflektorischen oder excitomotorischen Nervenfasern.
Die sensibeln Nerven lassen sich einteilen 1) in die gewöhnlichen sensibeln Fasern, durch deren Erregung
Gemeingefühle, wie z. B. der Schmerz, ausgelöst werden, und 2) in Sinnesnerven, d. h. solche, deren Erregung
spezifische Empfindungen, wie Sehen,
[* 7] Hören, Riechen etc., bewirkt. Die reflektorischen Fasernübertragen ihre Erregung entweder
auf motorische oder auf sekretorische Fasern; im erstern Fall spricht man von Reflexbewegungen, im letztern von Reflexabsonderungen.
- Interzentrale Fasern sind solche, welche nervöse Zentralapparate in leitende Verbindung setzen.
Hierher gehört die Mehrzahl der Fasern des Gehirns und des Rückenmarks, Fasern des sympathischen Nervs etc. Nicht immer wird
durch die Erregung von Nervenfasern eine Thätigkeit in Gang
[* 8] gesetzt oder unterhalten; es gibt auch Fasern, die eine regulierende
Thätigkeit ausüben, und durch deren Erregung eine Thätigkeit verzögert oder angehalten wird; man
bezeichnet sie als Hemmungsfasern. Über die Erkrankungen der s. Nervenkrankheiten.
(Distensio nervorum), ein 1873 von Nußbaum angegebenes und dann vielfach geübtes Verfahren, bei dem
zur Heilung von Nervenleiden, namentlich Hüftweh und andrer Neuralgien, der Nerv der erkrankten Gegend mit
stumpfen Instrumenten stark gedehnt wird.
Der Dehnung folgt unmittelbar eine außerordentliche Besserung des Übels;
allein
der Erfolg ist nicht von langer Dauer, und namentlich sind die Hoffnungen, welche 1881 allseitig von der Nervendehnung als Heilmittel
gegen Rückenmarksschwindsucht (Tabes dorsalis) gehegt wurden, nicht in Erfüllung gegangen.
(Neuritis), entzündlicher Prozeß in der bindegewebigen Scheide (Perineurium) oder in den eigentlichen
Nervenfasern, verläuft stets mit großer Schmerzhaftigkeit und später eintretenden Lähmungen mit folgendem Muskelschwund.
Die eiterige Entzündung der Nervenscheide ist eine Wundinfektionskrankheit, welche sich namentlich an
Quetschungen und Zerreißungen größerer Nervenstämme anschließt, wenn die Wunden unsauber gehalten werden und Bakterien
sich in ihnen ansiedeln.
Schmerzen, welche dem Verlauf der entzündeten Nerven folgen und sich bis in die peripherische Verbreitung derselben erstrecken,
bilden das wichtigste und häufigste Symptom der Nervenentzündung. Die Schmerzen vermehren sich bei einem auf den Nerv
ausgeübten Druck, pflegen aber nicht anfallsweise aufzutreten, wie bei den Neuralgien, sondern sind mehr beständig vorhanden.
Während des Bestehens dieser Schmerzen ist gewöhnlich der Tastsinn im Bereich derselben vermindert. Anfangs haben die Kranken
an den betroffenen Stellen der Peripherie ein Gefühl von Taubheit; später, wenn sich die Entzündung nicht
verteilt, entwickelt sich vollständige Unempfindlichkeit gegen äußere Reize, während die Schmerzen häufig noch fortbestehen.
Enthält der entzündete Nerv auch Bewegungsfasern, so gesellen sich zu den Schmerzen Zuckungen und Kontrakturen, während das
Vermögen der Kranken, die Muskeln willkürlich in Kontraktion zu versetzen, beeinträchtigt wird oder gänzlich
verloren geht. Der Verlauf ist bald akut, bald chronisch. Der Nerv bleibt, auch wenn sich die Entzündung zerteilt, gewöhnlich
für längere Zeit in gewissem Grad funktionsunfähig. Bei chronischen Verlauf der Nervenentzündung tritt, wenn der Nerv zerstört wird,
gleichfalls Unempfindlichkeit und Lähmung ein; bleibt aber der Nerv erhalten, und erfährt er nur von
seiten der angeschwollenen und verdickten Nervenscheide einen beständigen Druck, so leiden die Kranken oft jahrelang an Nervenschmerzenoder an krampfhaften Zufällen im Bereich des kranken Nervs.
Die Behandlung hat die Aufgabe, etwa in den Nerv eingedrungene Fremdkörper zu entfernen, im übrigen geschieht sie nach den
Regeln der Wundbehandlung: Reinigung, antiseptischer Verband.
[* 14] Die idiopathische Nervenentzündung führt ohne ein besonders
erkennbares entzündliches Stadium zum Schwund von Nervenfasern und gleicht somit mehr den entzündlichen Prozessen, welche am
Gehirn
[* 15] und Rückenmark vorkommen, mit denen sie auch in den klinischen SymptomenÄhnlichkeit hat, zumal mit der aufsteigenden
Rückenmarkslähmung.
Die Krankheit beginnt plötzlich unter
heftigen Fiebererscheinungen, Frost, Hitze, Appetitmangel, Schmerzen
im Rücken und Kreuz
[* 16] und den Beinen, zuweilen mit Anschwellung der Gelenke. Bald darauf stellen sich Lähmungen in den Beinen ein,
die schon in wenig Tagen hohe Grade erreichen können und zuweilen durch Übergang auf die Atmungsmuskeln tödlich werden.
Auch in den leichtern Fällen folgt auf die Lähmungen ein Muskelschwund, welcher bis zu voller Heilung,
selbst wenn die Schmerzen und die mangelhafte Erregbarkeit des Nervs gehoben sind, oft noch monatelanger Behandlung mit Hautreizen,
elektrischem Strom etc. bedarf. Über die Ursachen dieser Nervenentzündung ist nichts bekannt; es gilt jetzt für ausgemacht, daß die
epidemisch in Ostasien auftretende Beriberi oder in Japan
[* 17] als Kak-ke benannte Krankheit mit der primären Nervenentzündung gleichartig ist.
(Neuroma) wurde früher jede an Nerven vorkommende Geschwulst genannt. Die Nervengeschwülste sind
meist weich und bestehen aus losem Bindegewebe, oder sie sind wirkliche aus Nervenfasern bestehende Knoten,
wie solche an Amputationsstümpfen am häufigsten vorkommen. Jede Nervengeschwulst ist sehr schmerzhaft, die Schmerzen sind periodisch.
Ein leiser Druck auf die Geschwulst steigert die Schmerzen zu unerträglicher Höhe. Die Leitungsfähigkeit der Nerven kann durch
die Neurome leiden, so daß sich zu den Schmerzen das Gefühl von Taubheit und eine mehr oder weniger vollständige
Empfindungslosigkeit der Haut
[* 18] im Bereich des kranken Nervs gesellen. Selten kommen durch Beeinträchtigung motorischer Fasern
Zuckungen und Kontrakturen und im weitern Verlauf Lähmungen vor. Die Behandlung einer Nervengeschwulst besteht in operativer Entfernung.
Vgl. Courvoisier, Die Neurome (Basel
[* 19] 1885).
im weitesten Sinn umfassen alle Krankheiten des Gehirns, des Rückenmarks, des Sympathikus und der peripherischen
Nerven, von denen nur die Geisteskrankheiten (s. d.) auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch ausgenommen
sind. Im engern Sinn versteht man unter Nervenkrankheiten oder Neurosen nur die Anomalien der Empfindungs- und Bewegungsnerven;
allein da die Symptome, z. B. Schmerz, Krampf (s. d.), Lähmung (s. d.), sowohl bei Erkrankung der Zentralorgane als auch bei
örtlichen Leiden
[* 20] der Nerven selbst vorkommen, so kann nur ein wissenschaftlich gebildeter Nervenarzt entscheiden, ob im gegebenen
Fall eine Nervenkrankheit im engern oder weitern Sinn vorliegt.
Erkrankte Empfindungsnerven zeigen nun die folgenden Symptome:
1) Abnahme der Gefühlswahrnehmung (Anästhesie), und zwar hat der Arzt zu prüfen, ob diese Unempfindlichkeit die empfindenden
Endapparate betrifft, d. h. den Tastsinn, oder den Drucksinn, welcher uns über die Schwere der Körper unterrichtet, oder den
Muskelsinn, der uns die Lage und Haltung unsers Körpers zum Bewußtsein bringt und die Kraft
[* 21] abschätzt, mit
welcher wir zu den verschiedenen Zwecken unsre Hände und Füße in Thätigkeit zu setzen haben, oder ob die Anästhesie im Verlauf
der Nervenbahn, z. B. in einer Geschwulst oder in einem Druck, zu suchen ist, welcher den Nervenstamm betroffen hat,
oder ob sie endlich zentralen Ursprungs ist, d. h. von einem Leiden des Gehirns (Hysterie, Blutungen etc.) oder des
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mehr
Rückenmarks (Rückenmarksschwindsucht, Tabes dorsalis) ihren Ausgang nimmt. Die Erscheinungen beginnen mit dem leichtesten Taubsein
und können sich zur vollen Gefühllosigkeit, zuweilen mit Ameisenkribbeln, oft verbunden mit heftigen Schmerzen, Ernährungsstörungen
der gefühllosen Teile, steigern. Sofern man die Behandlung gegen ein örtliches Leiden oder gegen eine mit dem Beruf zusammenhängende
Störung der Haut richten kann, wie bei der Anästhesie der Wäscherinnen, nach Karbolgebrauch, Frostschaden,
ist eine Aussicht auf völlige Heilung vorhanden, während bei den zentralen Ursachen das Grundleiden kaum je direkt in Angriff
genommen werden kann; der Arzt ist alsdann genötigt, sich auf örtliche Reizungen der Haut, namentlich mit dem elektrischen
Pinsel, sowie auf Hebung
[* 23] des Ernährungszustandes zu beschränken.
3) Lähmung, welche entweder nur den Verbreitungsbezirk eines einzigen Bewegungsnervs betrifft (Monoplegie), oder halbseitig
ist (Hemiplegie), oder beide Seiten betrifft (Paraplegie). Auch diese Form der Nervenkrankheiten ist nur als ein Symptom anzusehen, welches
nur in einer gewissen Anzahl von Fällen, namentlich der Monoplegien, auf eine Erkrankung oder Verletzung im
Lauf des Nervenstammes selbst zu beziehen ist, während die Ursache der halbseitigen Lähmungen, z. B. des Gesichtsnervs (Nervus
facialis), im Gehirn, diejenige der doppelseitigen im Rückenmark zu liegen pflegt.
Namentlich die letzte Gruppe der reinen Rückenmarkslähmungen ist oft von einem auffallenden Muskelschwund begleitet, ein
Umstand, aus welchem man auf einen eigentümlichen Einfluß der grauen Rückenmarkshörner auf die Ernährung
der Muskeln schließt. Ist der gelähmte Teil leicht beweglich durch den untersuchenden Arzt, so liegt eine schlaffe Lähmung
vor; wenn der gelähmte Muskel einen gewissen Widerstand entgegensetzt, so ist die Lähmung eine spastische. Über die von der
neuern Nervenheilkunde aufgestellten typisch wiederkehrenden Krankheitsbilder vgl.
Lähmung.
4) Krämpfe, d. h. Reizerscheinungen im Gebiet der Bewegungsnerven, welche sich in Bewegungen der Muskeln kundgeben, die ohne
den Einfluß des Willens, ja gegen denselben zu stande kommen (s. Schreibkrampf). Unter mannigfachen technischen Bezeichnungen
unterscheidet man: a) epileptiforme Konvulsionen, bei welchen der ganze Körper in stoßende oder schüttelnde Krämpfe
gerät (s. Epilepsie); b)
rhythmische Zuckungen in einzelnen Muskelgebieten, welche in regelmäßigem Tempo erfolgen, z. B.
nach Gehirnschlag; c) Zitterbewegungen, wie sie bei chronischem Alkoholismus (s. Trunksucht), bei der Paralysis agitans vorkommen
(s. Lähmung); d) einzelne Zuckungen, welche vom Rückenmark ausgehen; e) fibrilläre Muskelzuckungen, welche keine Bewegungen
auslösen, sondern nur in kleinen Gruppen von Muskelfasern sich abspielen und in atrophierenden Muskeln
beobachtet werden; f) choreatische Bewegungen (s. Veitstanz); g) athetose (»gesetzlose«) Bewegungen, d. h. langsam ablaufende,
meist an den Händen vorkommende Spreizungen mit nachfolgendem krampfartigen Zusammen- oder Übereinanderlegen der Finger,
welche zuweilen bei Kindern neben halbseitigen Lähmungen vorkommen; h) Zwangsbewegungen, welche sich als
Lachkrämpfe, Schreikrämpfe, Weinkrämpfe, in Fällen schwerer Erkrankungen oder Verletzungen der Gehirnrinde auch in drehenden,
wälzenden, überschlagenden Bewegungen des ganzen Körpers äußern; i) tonische Krämpfe (s. Krampf u. Wundstarrkrampf); k)
kataleptische Starre, ein Zustand, bei welchem die Muskeln nicht dem Willen unterliegen und in der Stellung, in welche sie durch
einen andern gebracht werden, verharren.
7) Als vasomotorische oder trophische Neurosen faßt man eine Gruppe von Nervenkrankheiten zusammen, welche in ihrem Wesen noch wenig bekannt
sind, wahrscheinlich aber in besonders naher Beziehung zum sympathischen Nervengeflecht stehen. Hierhin gehört die Migräne
(s. d.), ferner die erst in letzter Zeit näher beobachtete halbseitige Gesichtsatrophie
(Hemiatrophia facialis) und die Basedowsche Krankheit (s. d.). Die Bezeichnung Neurose ist für alle Nervenkrankheiten im Gebrauch, vor allem
für solche Nervenkrankheiten, bei denen anatomische Veränderungen nicht nachgewiesen werden
können, welche wir demnach als funktionelle Nervenkrankheiten anzusehen pflegen (s. Nervenentzündung).
Vgl. Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (3.
Aufl., Berl. 1857);
(Nervina), Arzneimittel, welche vorzugsweise auf die Nerven wirken und zwar reizend,
eine gesteigerte Thätigkeit hervorrufend, wie Wein und andre Spirituosen, Ätherarten, ätherische Öle
[* 25] etc., oder herabstimmend,
beruhigend, lähmend, betäubend, wie namentlich die narkotischen, betäubenden Mittel, oder umstimmend, die Ernährung und
die Thätigkeit des Nervensystems abändernd, wie die giftigen Metallsalze. Die Nervenmittel lassen sich in dieser Weise nicht streng
klassifizieren. Viele betäubende Mittel (wie das Opium) wirken in geringen Mengen stark aufregend, die Reizmittel (wie Wein,
Äther, Kampfer) wirken in großen Dosen betäubend, und manche Metallgifte (wie Blei,
[* 26] Arsen, Kupfer)
[* 27] wirken lähmend. GewisseStoffe,
wie das Curarin, die sogen.
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mehr
Nervengifte, wirken in sehr geringen Dosen lähmend und tötend auf die Nerven, ohne andre Organe zu beeinträchtigen.
(Neuralgie) im Gegensatz zu Schmerzen überhaupt, die ja alle durch Nerven vermittelt werden, eine solche
Schmerzhaftigkeit, bei welcher anatomische Veränderungen oder nachweisbare Erkrankungen am Nerv nicht vorhanden sind. Am
häufigsten werden vom Nervenschmerz die Empfindungsnerven des Gesichts (s. Migräne), der Augenbrauen- und Stirn- oder Schläfengegend
befallen (s. Gesichtsschmerz), nächstdem die Beinnerven (s. Hüftweh), aber auch an allen übrigen Empfindungsnerven wird
zuweilen Nervenschmerz beobachtet.
Unter den Ursachen der eigentlichen Neuralgie ist Überanstrengung und Erkältung am häufigsten, seltener entsteht Nervenschmerz infolge
von Vergiftungen durch Quecksilber, Blei, Kupfer, durch Sumpffieber, oft ist die Entstehung unbekannt. Bei den meisten Neuralgien
kann man zwei Arten des Schmerzes unterscheiden, nämlich einen anhaltenden, durch Druck vermehrten, auf umschriebene Punkte
einer Nervenbahn beschränkten, nicht sehr heftigen, aber lästigen Schmerz und einen in Anfällen auftretenden, von jenen
Punkten nach dem Verlauf des Nervs ausstrahlenden, überaus quälenden und fast unerträglichen Schmerz.
Die Kranken geben gewöhnlich an, daß der Schmerz nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe sitze; gewöhnlich sind
mehrere Zweige eines Nervenstammes, aber nur selten alle Zweige eines Nervs an der Affektion beteiligt. Nicht selten breitet
sich der Nervenschmerz von einem Nerv auf einen andern aus, welcher nicht denselben Ursprung hat. Manchmal werden
im Verbreitungsbezirk des von dem Nervenschmerz heimgesuchten Nervs Unregelmäßigkeiten der Blutverteilung sowie
der Sekretion und der Ernährung beobachtet, ohne daß es bekannt wäre, wie die krankhafte Erregung der sensibeln Nerven sich
auf die Gefäßnerven überträgt. Im Beginn neuralgischer Anfälle bemerkt man bisweilen, daß die Haut
bleich wird, noch häufiger auf der Höhe der Anfälle, daß sie sich rötet, daß die Absonderung der Nasenschleimhaut, die
Thränen- und Speichelsekretion vermehrt wird.
Bei manchen Neuralgien, namentlich denjenigen der Zwischenrippennerven, entwickeln sich im Verbreitungsbezirk der kranken
Nerven eigentümliche Ausschläge (Herpes zoster). Der Verlauf der Neuralgien ist bis auf diejenigen Formen,
welche unter dem Einfluß der Malaria entstehen, ein chronischer. Derselbe ist fast niemals ein gleichmäßiger, sondern es
wechseln Verschlimmerungen und Nachlässe der Krankheit ab. Zuzeiten wiederholen sich die Schmerzanfälle häufiger und erreichen
eine bedeutendere Höhe, zu andern Zeiten kehren sie seltener wieder und sind weniger heftig.
Bei den durch Malaria bedingten Neuralgien kehren die Schmerzanfälle zur regelmäßigen Stunde wieder. Die Dauer des Schmerzes
kann sich auf Jahre erstrecken, doch wird eine direkte Gefahr für das Leben durch den Nervenschmerz allein nicht gegeben; nur kann dauernde
Schlaflosigkeit, durch den Nervenschmerz hervorgebracht, zur Entkräftung führen. Die Behandlung
ist ableitend durch Blasenpflaster, Veratrinsalbe, Schröpfköpfe etc. oder allgemein bei rheumatischem Nervenschmerz, wo
römische Bäder, Schwitzkuren, Knetkuren empfehlenswert sind; bei Malaria hilft Chinin, gegen die Schmerzen nach VergiftungenOpium, später Schwefelbäder. Zur Betäubung wirkt vorzüglich das Morphium. Zur dauernden Heilung wendet man neuerlich
die Nervendehnung (s. d.) an. Schmerzen, welche durch erkennbare Krankheiten des Nervs oder Geschwülste und
fremde Körper oder
Druck innerhalb enger Knochenkanäle hervorgerufen werden, sind dem Nervenschmerz sehr ähnlich, sie erfordern
örtliche Behandlung, besonders Entfernung des Druckes durch Operation.
Ähnlich ergeht es auch den jungen Lebemännern, welche zu viel geschwelgt und zu wenig geschlafen haben;
ähnlich aber auch zahllosen Männern, denen ihre schwere Berufspflicht, die angespannte Geistesarbeit, der rastlose Kampf ums Dasein
mehr Arbeit zugemutet hat, als Körper und Geist auf die Dauer ohne Schaden ertragen können. Ganz irrig ist aber die vielverbreitete
Annahme, daß die Nervenschwäche nur ein Leiden der begüterten und gebildeten Klassen sei, denn Not und Sorgen, Entbehrungen
der notwendigen Nahrung bei harter körperlicher Arbeit, Überreizung durch Alkohol und Tabak,
[* 30] Kummer und Niedergeschlagenheit
führen zu der gleichen Anomalie
[* 31] des Nervensystems.
Die Nervenschwäche ist eine Funktionsstörung, keine eigentliche Krankheit; sie besteht, ohne daß man im Gehirn oder
in den Nerven eine Entzündung oder sonstige anatomische Veränderung nachweisen kann, wie es bei den echten Nervenkrankheiten
(s. d.) der Fall ist. Dennoch ist die Unterscheidung oft ganz außerordentlich schwer, manche Fälle von nervösem Zittern sind
z. B. leicht mit dem Zittern beim Beginn von Gehirnlähmungen zu verwechseln, manche Klagen über gestörte
Verdauung sind den Erscheinungen bei Magen- und Darmkrankheiten so ähnlich, daß nur die sorgfältigste Untersuchung eines
erfahrenen Arztes hier die Grenzen
[* 32] ziehen kann.
Allmählich hat sich in der Lehre
[* 33] der Nervenkrankheiten der NameNeurasthenie eingebürgert für einen Symptomenkomplex, welcher
bei aller Mannigfaltigkeit im einzelnen bei scheinbar schwerem Leiden innerer Organe doch dadurch ausgezeichnet
ist, daß diese Leiden nicht auf wirklichen anatomisch nachweisbaren Veränderungen beruhen, sondern auf Ernährungsstörungen
des Nervensystems, woraus dann als wichtigste Schlußfolgerung hervorgeht, daß alle jene verschiedenartigen Klagen lediglich
durch eine geeignete Behandlung der Nervenschwäche verschwinden können.
Diese Neurasthenie im engern Sinn ist vorwiegend beim männlichen Geschlecht zu beobachten, obwohl auch
Frauen, welche den gleichen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, davon befallen werden; im allgemeinen leiden dagegen Frauen mehr
an jenem, gleichfalls auf Nervenschwäche zu beziehenden Komplex von Erscheinungen, welche die Neuropathologie als Hysterie (s. d.) zu bezeichnen
pflegt. Die Ursache der Neurasthenie ist außer der erwähnten Überanstrengung ausschweifender Lebenswandel, zuweilen
schließt sich der Prozeß an schwere Krankheiten, namentlich Unterleibstyphus, an, zuweilen führen gewaltsame Kuren,
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mehr
welche zur schnellen Entfettung eingeschlagen werden, jenen Schwächezustand herbei, zuweilen forcierte Schwitz-, Trink-,
Hunger- oder Kaltwasserkuren, welche zu den modernen »Heilmitteln« gehören und welche sehr zum Schaden der Patienten oft ohne
ärztliche Vorschrift und Überwachung auf eigne Hand
[* 35] unternommen und durchgeführt werden. Vorzugsweise betroffen werden
die geistig arbeitenden Klassen und naturgemäß in höherm Maß in dem lebhaften Treiben der großen Städte
als auf dem Land; Beamte, Offiziere, Ärzte, Gelehrte und Künstler stellen das größte Kontingent.
Bei der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Symptome sei hier an einem Beispiel dargethan, wie bei einem ehrgeizigen Mann die
Nervenschwäche aus Überanstrengung sich zu entwickeln pflegt: Im besten Mannesalter stehend,
bisher gesund und kräftig, hat er zehn Stunden und darüber angestrengt arbeiten können, ohne an Frische dabei einzubüßen.
Unter dem Einfluß einer Gemütsaufregung fühlt er sich plötzlich bei der Arbeit unruhig und zerstreut, zeitweise schwinden
die Gedanken, indessen rafft er sie zusammen und arbeitet weiter, bis er wiederum von Aufregung und Angstgefühl
befallen wird.
Anfangs wird der Schwächezustand gewaltsam überwunden, allmählich versagen die Kräfte, es tritt Unfähigkeit zur Arbeit
ein, die Zeit wird mit Grübeln über den krankhaften Zustand ausgefüllt, es stellt sich ein Gefühl von Druck im Kopf ein,
welches den Kränkelnden zwingt, sich in den stillsten Winkel
[* 36] seiner Wohnung zurückzugehen. Dabei wird
er leicht erregbar, schreckhaft über jedes Geräusch (nervöse Hyperakusie), der Schlaf ist unruhig, gleicht mehr einem unerquicklichen
Halbschlummer. Am Morgen erwacht er wieder, es gelingt ihm nicht, Zeitung oder Bücher zu lesen (nervöse Asthenopie), er leidet
an nervösem Herzklopfen, fühlt sich beängstigt, die Brust zusammengeschnürt.
Die Behandlung erfordert die größte Umsicht eines Nervenarztes, welche sich in jedem Fall zunächst auf die Beseitigung
etwa vorhandener Organleiden, alsdann aber auf die Nervenschwäche als solche richten muß. Vor allem bedarf es eines
tröstenden, den Kranken ermutigenden Zuspruchs. Es muß für einen geeigneten Aufenthalt in reiner Wald-,
Gebirgs- oder Seeluft
gesorgt werden; unter Umständen sind Bäder, Kaltwasserkuren, Massage mit elektrischer Reizung der Nerven,
nervenstärkende Mittel, Bromkali, Chinin, Eisen am Platz.
Die Ernährung muß geregelt werden, und unter allen Umständen muß für die Zukunft den Schädlichkeiten, welche die Nervenschwäche hervorgebracht
haben, vorgebeugt werden. Die Heilung ist gewöhnlich langsam, aber bei rationeller Behandlung und gutem
Willen des Kranken oft von vollkommenem Erfolg.
Vgl. Beard, Die Nervenschwäche, Neurasthenie (deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1884);
die Gesamtheit aller Organe der Empfindung im tierischen Körper. Ursprünglich wohnt
einer jeden Zelle
[* 40] die Fähigkeit, die äußern Reize zu empfinden und sich demgemäß zu bewegen, also zusammenzuziehen, auszudehnen
etc., inne; daher ist auch bei den niedersten Tieren ein gesondertes Nervensystem noch nicht vorhanden. Bei Zusammensetzung des Körpers
jedoch aus mehreren Schichten, wie sie bei weitaus den meisten Tieren stattfindet, beschränkt sich die
Empfindlichkeit mehr und mehr auf die äußerste Schicht, die Haut, welcher daher auch das Nervensystem angehört.
In der einfachsten Form, welche das Nervensystem einnimmt (vgl. Haut), besteht es aus Hautzellen, welche entweder einzeln oder zu Gruppen
angeordnet sich vor den übrigen Hautzellen durch größere Reizbarkeit auszeichnen und unter sich mittels
seiner Ausläufer in Verbindung stehen. So noch bei Quallen und Seerosen. Bei den übrigen Tieren jedoch hat sich das Nervensystem mehr
oder weniger von der Haut in das schützende Innere des Körpers zurückgezogen und steht mit der Oberfläche meist nur noch
an einigen Stellen (Sinnesorgane, s. d.) in Verbindung.
Doch zeigt sich während der Entwickelung jedes höhern Tiers aus dem Ei,
[* 41] wie das gesamte Nervensystem auch hier aus einem Teil der Haut
hervorgeht und sich erst später in die Tiefe des Körpers versenkt. Man unterscheidet übrigens am Nervensystem in seiner vollkommenen
Ausbildung zwei Teile: den zentralen und den peripherischen. Ersterer ist vorzugsweise aus Ganglienzellen
[* 42] (s. unten) zusammengesetzt, letzterer besteht meist aus Nervenfasern (s. unten) und verbindet die Zentralorgane mit den in der
Haut gelegenen Endapparaten, den Sinnesorganen, oder mit den Muskeln etc. Bei den höhern Tieren lassen sich ferner nach einer
andern Richtung hin zweierlei Arten von Nervensystemen unterscheiden: das animale zur Besorgung der bewußten
Empfindungen und willkürlichen Bewegungen, das vegetative für die Vorgänge der Ernährung, Absonderung etc. sowie für die
damit verbundenen unwillkürlichen Bewegungen. Im Zentralteil des animalen Systems treten bei den meisten Tieren die Ganglienzellen
zu Gruppen, den sogen. Ganglien (Nervenknoten), zusammen, die unter sich durch Bündel von Nervenfasern (Kommissuren)
verbunden sind und die peripherischen Nerven von sich ausstrahlen lassen. Bei den gegliederten Tieren sind dann gewöhnlich
für jeden Abschnitt des Körpers zwei nebeneinander liegende Ganglien vorhanden, so daß mittels der
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