Kirche gegenüber das
Recht derKetzer und Irrlehrer verfocht. Natürlich rief diese pietistische Geschichtsbetrachtung eine
Menge Gegner in die
Schranken, unter welchen
Weismann (»Introductio in memorabilia eccl.«,
Tübing. 1718, 2 Bde.), die beiden
Walch (s. d.) und Siegm.
Jak.
Baumgarten (s. d.) die namhaftesten sind. Auf einen wirklich objektiven Standpunkt,
den man als eine
Versöhnung des orthodoxen und pietistischen
Gegensatzes fassen kann, hat zuerst
JohannLorenz v.
Mosheim (s. d.) die Kirchengeschichte erhoben, während
Semler (s. d.) planlos und schwerfällig, aber als eigentlicher
Vater der
Quellenkritik schrieb.
Auf dem hierdurch gewonnenen Standpunkt lieferte
JohannMatthiasSchröckh (s. d.) ein kirchengeschichtliches Riesenwerk. Die
mit ihm beginnende pragmatische Kirchengeschichtschreibung, welche sich nicht mit der Aneinanderreihung
der
Thatsachen begnügt, sondern deren
Werden aus den
Motiven der Handelnden zu erklären sucht, fand einen weitern VertreteranL. T.
Spittler (s. d.); H.
Ph. Kirchengeschichte
Henke (s. d.) gab eine energische
Kritik der
Thatsachen, sah jedoch in der Kirchengeschichte eigentlich
nur eine Geschichte religiöser Verirrungen; Stäudlin
war in seiner »Universalgeschichte der
Kirche« (5.
Aufl., Hannov. 1833) in
Gefahr, den objektiv historischen Standpunkt einem allzu subjektiven Pragmatismus zu opfern, während
G. J.
^[GottliebJakob]
Planck (s. d.) in
Göttingen
[* 2] durch die Befolgung der pragmatischen
Methode ein tieferes Verständnis des
Entwickelungsganges der neuern Kirchengeschichte ermöglichte. Von der pragmatischen Geschichtsauffassung
sich abwendend, wollte eine andre
Richtung die
Thatsachen feststellen und ohne subjektive Beimischung zur
Darstellung bringen;
hierher gehören: J.
^[Johann]
ErnstChristianSchmidt (»Handbuch der christlichen Kirchengeschichte«,
Gießen
[* 3] 1801-20, 6 Bde.; 2. Aufl.,
1.-4. Bd., 1825-27; fortgesetzt von F. W.
Rettberg, 7. Bd., das. 1834)
und
Gieseler (s. d.), dessen kompendiöses, aber dennoch durch Mitteilung der
wesentlichsten Quellenauszüge umfangreiches Werk ein
Muster besonnener wissenschaftlicher Forschung ist. In steiferer Form,
aber mit gleich umfassender Gründlichkeit wandelt in seinen Fußstapfen
Niedner (s. d.). Als der eigentliche
Vater der neuern
protestantischen Kirchengeschichte gilt aber
Neander (s. d.). Seine Geschichtsbetrachtung ist indes mehr
erbaulicher als objektiv wissenschaftlicher Art, und sein oberster
Satz, die
Kirche sei übernatürlich in Bezug auf ihr Entstehen,
natürlich dagegen im Bestehen, ist selbst ein
Dogma. Er ist stets darauf bedacht (die Kehrseite des die äußern Verhältnisse
zu sehr betonenden Pragmatismus), die innere
Entwickelung der
Kirche in
Dogma,
Kultus und
Sitte zur
Darstellung
zu bringen.
Den milden irenischen
GeistNeanders atmet auch die Kirchengeschichte seines
Schülers Kirchengeschichte R.
Hagenbach (s. d.). An
Neander und
Gieseler schließen
sich an die auf dem Gebiet der
Kirchenverfassung und des kirchlichen
Lebens neue
Gesichtspunkte eröffnenden Vorlesungen
RichardRothes (s. d.) über Kirchengeschichte.
Eigne Wege schlägt die konfessionelle Kirchengeschichtschreibung ein. Vertreter
des orthodoxen
Luthertums sind
Guericke, H.
Schmid,
Lindner und
Kurtz (s. diese Art.). Den reformierten Standpunkt vertritt J.
J.
^[JohannJakob]
Herzog (s. d.) u. noch entschiedener als er
Ebrard (s. d.). Unbekümmert um die
Vorurteile konfessioneller Geschichtschreibung, angeweht vom
Geist Hegelscher
Philosophie,
gibt
Hasse ( Kirchengeschichte«, hrsg.
von A.
Köhler, 2. Aufl., Leipz. 1872) eine den innern Zusammenhang aufzeigende
Darstellung.
Ebenfalls im
Gegensatz zu der einreißenden Vermengung theologisch-religiöser und wissenschaftlicher
Gesichtspunkte bietet
Kirchengeschichte
Hase
[* 4] (s. d.) eine objektiv besonnene,
geistreiche und frische
Darstellung dar, die freilich zum Verständnis ihrer zahlreichen
Andeutungen schon eine gewisse Vertrautheit mit dem
Stoffe voraussetzt. Eine neue
Epoche der Kirchengeschichtschreibung
datiert von der
Tübinger Schule, auch hier geführt von F.
Ch.
Baur (s. d.), welcher den Entwickelungsgang der christlichen
Idee in großartigen, nur das Allgemeine zu sehr auf
Kosten des Individuellen hervorhebenden
Zügen beleuchtet hat. Eine
»Zeitschrift
für Kirchengeschichte« wird von
Brieger (Gotha
[* 5] 1876 ff.) herausgegeben.
Vgl. auch
Weingarten, Zeittafeln zur Kirchengeschichte (2. Aufl.,
Leipz. 1874),
und die unserm
Artikel
»Kirche« beigegebene »Zeittafel«.
Auch in der katholischen
Kirche haben sich neuerdings verschiedene Geistesrichtungen bei dem
Ausbau der Kirchengeschichte beteiligt und zwar
sowohl vom modern-spekulativen als vom ultramontanen Standpunkt aus. Ohne Schroffheit, aber auch ohne
Kritik vertritt
die ultramontane Geschichtschreibung
Stolberg
[* 6] (s. d.); eine durch ihre milde und tiefe Auffassung sowie geschmackvolle
Darstellung ausgezeichnete Kirchengeschichte lieferte Katerkamp (Münst.
1819-34, 5 Bde.).
Immer mehr brach sich auch hier
Bahn eine wissenschaftlichere, von den
Resultaten protestantischer Forschung
nicht unbeeinflußte
Richtung, als deren hauptsächliche Vertreter gelten: Ritter (»Handbuch der Kirchengeschichte«, 6. Aufl.,
Elberf. u.
Bonn
[* 7] 1862, 2 Bde.),
Die von den
Organen der
Kirchengewalt zur
Ordnung kirchlicher Angelegenheiten erlassenen
Normen sind an
und für sich nicht
Gesetze, sondern Gesellschaftsstatuten, daher durch die
Gesetzgebung des
Staats beschränkt. Allein die
staatsartig entwickelte vorreformatorische päpstlicheKirche schrieb sich das
Recht voller
Gesetzgebung
zu und erlangte damit vermöge ihrer sozialen
Mittel in ihren
Kreisen allgemeine
Anerkennung. In der Form erst von Konzilienbeschlüssen,
dann von päpstlichen
Bullen,
Breven etc. hat sie eine reiche gesetzgeberische Thätigkeit entwickelt.
Die heutige
römisch-katholische Kirche beansprucht zwar die gleiche
Stellung, findet sich in derselben
aber von seiten des
Staats nicht mehr anerkannt. Der
Staat hält vielmehr nur so viel von ihren Gesellschaftsstatuten in der
Eigenschaft gesetzlichen
Rechts aufrecht, als er selbst genehmigt. Die evangelischen Kirchengesetze der landeskirchlichen Entwickelungsperiode,
z. B.
Kirchenordnungen, Konsistorialordnungen etc., sind gewöhnliche Landesgesetze, die der
Staat in kirchlichem
Interesse
erlassen hat. Seit der
Entwickelung einer selbständigen evangelisch-kirchlichen Vereinsverfassung nimmt
das
Verhältnis der evangelischen statutarischen Gesellschaftsordnungen, regelmäßig Synodalbeschlüsse, dieselbe Gestalt
wie das staatlich anerkannte der römisch-katholischen an. S.
Kirchenpolitik.
angestellten Bischof für den Bezirk seiner Diözese auf Lebenszeit überträgt, um sie als eigne (propria) zu verwalten; nach
dem Episkopalsystem besitzt jeder Bischof dieselbe Gewalt als göttlich verliehene. Der Bischof hat die volle Kirchengewalt (plenitudo potestatis),
d. h. sowohl die der Wort- und Sakramentsverwaltung (potestas ordinis) als die des Regierens durch Aufsicht,
Gerichtsbarkeit, Gesetzgebung etc. (potestas jurisdictionis); er überträgt die eine wie die andre in ihm
beliebigem Maß den pastoralen oder andern Gehilfen, welche er sich bestellt.
Die römisch-katholische Kirche faßt beiderlei als seelsorgende auf; die evangelische geht davon aus, daß Seelsorge nur durch
Wort- und Sakramentsverwaltung geschehe, und legt die gottgegebene Gewalt hierzu (potestas clavium) der
gläubigen Gesamtkirche bei, von welcher sie durch die Träger
[* 10] des Lehramtes geübt werde. Dagegen legt sie die Gewalt des
äußern kirchlichen Regiments, soweit sie dieselbe überhaupt noch anerkennt, nicht dem Lehramt, sondern in ihrer landeskirchlichen
Formation der Landesherrschaft, in ihrer vereinskirchlichen der Synode bei. Die landeskirchliche Gestalt
kommt zuweilen, z. B. in der anglikanischen und der schwedischen Kirche, in Formen vor, welche an vorreformatorische erinnern,
ohne jedoch ihrem Wesen nach mit ihnen identisch zu sein. Vgl. Kirchenhoheit.
(Jus circa sacra), der Inbegriff der Hoheitsrechte, welche dem Staatsoberhaupt gegenüber den anerkannten
christlichen Kirchen und den sonstigen Religionsgesellschaften zustehen. Es liegt in dem Wesen des Staats und der Souveränität
des Staatsbeherrschers, in seiner Selbständigkeit und seiner Macht, alle ihm unterstehenden Lebens- und Rechtsverhältnisse
so zu normieren, daß auch die Kirche sich dem Majestätsrecht der Staatsgewalt nicht entziehen kann.
Auf der andern Seite sind die Grenzen
[* 11] des Kirchenhoheitsrechts wie jedes andern Hoheitsrechts durch den Staatszweck gezogen,
und die ausschließlich innerhalb der Sphäre der Kirchengemeinschaft liegenden innern Verhältnisse entziehen sich dem staatlichen
Einfluß, indem der moderne Staat zudem die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit seiner Bürger anerkennt.
Gewöhnlich bezeichnet man folgende Rechte als den Inhalt der Kirchenhoheit, welch letztere nichts andres als ein Teil der Staatshoheit
überhaupt ist:
1) das Ausnahmerecht (jus reformandi, jus receptionis), d. h. das Recht der Zulassung von Religionsgesellschaften überhaupt,
jetzt nur noch die Verleihung der Korporationsrechte enthaltend;
3) das Recht der Oberaufsicht (jus supremae inspectionis), mittels dessen der Staat namentlich etwanigen übergriffen der Kirche
entgegentritt. In letzterer Hinsicht ist namentlich das landesherrliche Placet, d. h. die staatliche Zustimmung zu kirchlichen
Gesetzgebungsakten, von Wichtigkeit. Hierher gehören ferner der Recursus ab abusu (appel comme d'abus),
d. h. das Rechtsmittel der Berufung an die Staatsbehörde wegen Mißbrauchs der geistlichen Gewalt, ferner die Mitwirkung bei
der Besetzung geistlicher Stellen und die Kontrolle der geistlichen Disziplinargerichtsbarkeit.
Während aber der Einfluß der Kirche auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse durch die Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit,
die Einführung der Zivilehe und
die Beseitigung der kirchlichen Schulaufsicht im wesentlichen beseitigt ist, bildet die Abgrenzung
der staatlichen Kirchenhoheit gegenüber der katholischen Kirche den Gegenstand langwieriger und heftiger Streitigkeiten. Sie ist der
Kernpunkt des sogen. Kulturkampfes (s. Kirchenpolitik). Nicht zu verwechseln mit der Kirchenhoheit ist die Kirchengewalt (Kirchenregiment,
jus in sacra), d. h. der Inbegriff der Rechte, welche einer Kirche als gesellschaftlichem Verein ihren Mitgliedern
gegenüber zustehen in Gemäßheit des Zwecks und der innern Einrichtung dieser Verbindung. Sie wird von den Organen der Kirche
selbst ausgeübt, in der protestantischen Kirche allerdings auch von dem Landesherrn, da dieser nach protestantischen Grundsätzen
das Oberhaupt des Staats wie dasjenige der Kirche ist.
regelmäßig im Laufe von einem Jahreszeitraum sich begebende Wiederkehr der von der Kirche gefeierten
Sonn- und Festtage. Das Kirchenjahr mit seinen drei Festcyklen, dem Weihnachts-, Oster- und Pfingstfestkreis, beginnt, unabhängig vom
bürgerlichen Jahr, in der katholischen und protestantischen Kirche mit dem ersten Adventsonntag (s. Advent),
welcher stets zwischen den 26. November und 4. Dezember fällt, in der griechischen mit dem 1. September, in England mit Mariä Verkündigung(25. März). S.
Feste und Festcyklus.
Vgl. Strauß,
[* 12] Das evangelische in seinem Zusammenhang dargestellt (Berl. 1850);
Bobertag, Das evangelische
Kirchenjahr (Bresl. 1853);
Alt, Das Kirchenjahr mit seinen Festen etc. (2. Aufl., das. 1860).
s. v. w. Geistliche Gerichtsbarkeit (s. d.). ^[= Nicht nur in Disziplinarangelegenheiten, und zwar hier in viel größerm Umfang als die evangelische ...]
der Kostenaufwand, welcher durch die Unterhaltung der Kirchen und der Kirchendiener in sachlicher und
persönlicher Hinsicht erwächst.
Insoweit das Kirchenvermögen (s. d.) zur Bestreitung der Kirchenlasten nicht ausreicht,
werden diese Kosten durch Kirchensteuern und sonstige kirchliche Abgaben gedeckt.
Der früher übliche Kirchenzehnte ist jedoch
fast überall durch Ablösung beseitigt.
Dahin gehörten die ehemaligen Patronatslehen, Pfarrlehen, Altarlehen, Zehntenlehen, durch ausgeliehene Zehnten begründet,
Glockenlehen, deren Vasallen zum Läuten bei bestimmten Gelegenheiten verpflichtet waren, u. dgl.
Die mit einem rechten Lehen verbundene Verpflichtung zum Kriegsdienst übertrug der Klerus, da ihm der Gebrauch der Waffen
[* 13] untersagt
war, auf einen Provasallen. Vgl. Lehnswesen.
die in den christlichen Kirchen zur Verschönerung des Kultus eingeführte Musik,
¶
mehr
besonders die religiösen Gesänge mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Die älteste Kirchenmusik war durchaus nur Gesangsmusik, doch
scheint es, daß schon im frühen MittelalterBlas- und Saiteninstrumente zur Begleitung im Einklang angewandt wurden; wenigstens
berichtet ein Schriftsteller des 13. Jahrh. (Engelbert von Admont), daß alle Instrumente außer der Orgel aus der
Kirche gewiesen wurden, weil sie an das weltliche Musizieren erinnerten. Im Lauf des 16. Jahrh. wurde die Verstärkung
[* 15] der
Singstimmen durch Blasinstrumente oder auch Saiteninstrumente (Violen, Lauten) wieder allgemein, und mit der Einführung des
Basso continuo um 1600 war der erste Schritt zu einer eigentlichen begleiteten. Kirchenmusik geschehen, welche sich
nun schnell entwickelte (Carissimi, Schütz, J. S. Bach).
Auch die reine Instrumentalmusik wurde zu Ende des 16. Jahrh. in die Kirche eingeführt und zwar wohl zuerst in Venedig
[* 16] durch
die vorzüglichen Organisten der Markuskirche, Claudio Merulo und die beiden Gabrieli, deren »Intonationen« in ähnlicher Weise
den Chorgesang vorbereiteten (wenn auch nur der Tonart nach, nicht thematisch) wie die von den deutschen
Meistern zur höchsten Vollendung gebrachten Choralvorspiele. Die Geschichte der Kirchenmusik ist fast das ganze
Mittelalter hindurch die Geschichte der Musik überhaupt, und wir können daher auf diese verweisen (s. Musik). Hier nur wenige
Bemerkungen über die Entstehung der Formen der Kirchenmusik. Der Ritualgesang der katholischen Kirche ist alt, teilweise
wohl von den Juden übernommen, auch mögen heidnische Melodien mit christlichen Texten versehen worden sein; fest steht, daß
in der byzantinischen Kirche sich zuerst der Antiphonengesang entwickelte und durch Ambrosius (gest. 397) nach Italien
[* 17] verpflanzt
wurde, während der Gradualgesang in Italien aufkam. Der vonAmbrosius besonders gepflegte Hymnengesang
mag dagegen im heidnischen Kultus wurzeln. PapstGregor d. Gr. (gest. 604) unterwarf den Ritualgesang
einer Revision, bei welcher, wie es scheint, besonders viele Hymnen ausgeschieden wurden; in der Hauptsache war es jedenfalls
auf Herstellung völliger Einheitlichkeit des Ritualgesanges der abendländischen Kirche abgesehen, welche
auch durch Kanonisierung des sogen. Gregorianischen Antiphonars erzielt wurde (nur die Offizien für die speziellen Schutzheiligen
unterschieden und unterscheiden das Ritual verschiedener Orte). Der Gregorianische Gesang hat sich bis heute erhalten, so gut
dies bei einer so höchst mangelhaften Notierung wie der bis ins 12. Jahrh. fast einzig gebrauchten
Neumenschrift möglich war. Wenigstens scheinen die Melodien ziemlich intakt geblieben zu sein; dagegen ist die alte Rhythmik
desselben gänzlich verloren gegangen. Der Gesang zur Zeit des Ambrosius war nach dem Zeugnis des heil. Augustin (gest. 430)
ein jubelndes Jauchzen, und auch andre Schriftsteller beschreiben denselben als bunt verziert und schwer
auszuführen.
Noch im 11. Jahrh. scheint er rhythmisch vielgestaltig gewesen zu sein und ist wohl erst
zum langweiligen rhythmischen Einerlei erstarrt, als das Diskantieren und der Kontrapunkt aufkamen. Daß der Gregorianische
Gesang immer nur einstimmig war, steht durchaus fest; ebenso zweifellos ist aber, daß im 10. Jahrh.
(Hucbald) eine uns jetzt sonderbar erscheinende und doch so natürliche Art primitiver Mehrstimmigkeit
aufkam, die darin bestand, daß die Gregorianische Choralmelodie in der höhern Quinte oder tiefern Quarte oder beides und
obendrein noch in der höhern OktaveNote für Note von andern Stimmen begleitet wurde (Organum).
Der Versuch O. Pauls, das
Organum als ein antiphonisches Singen, eine Art Fugato, zu erklären, ist durchaus
unhaltbar. Es ist uns ausdrücklich bestätigt (Hucbald), daß das Organum sich nur in langsamer Bewegung hielt; dadurch zerfällt
die ganze Schrecklichkeit der Quintenparallelen in nichts: man erfreute sich am Wohlklang der einzelnen Quinte. Ohne dieses
Durchgangsstadium wäre die moderne polyphone Musik undenkbar gewesen. Von der strengen Parallelbewegung
wurde bald abgewichen.
SchonHucbald spricht von Haltetönen in der organisierenden Stimme, und bei Guido von Arezzo kommen schon Terzen vor. Im 12. Jahrh.
verfiel man ins Gegenteil: es erfolgte die vollständige Emanzipation der kontrapunktierenden Stimme im sogen. Diskantus, der
zwar ein fortwährendes Konsonieren in Oktaven und Quinten vorschrieb, aber hervorgebracht durch stete
Gegenbewegung;
und nun verfiel man auf die Idee, den Cantus firmus (die Choralmelodie) nicht Note für Note zu begleiten, sondern
noch weitere Töne einzufügen, die im Durchgang zur folgenden Konsonanz genommen werden konnten.
Zur zweiten Stimme gesellte
sich bald eine dritte und vierte, und die Schriftsteller des 13. Jahrh.
berichten bereits von bedeutenden Kontrapunktisten (Organistae), welche vortreffliche drei- und vierstimmige »Conductus«,
Motetten etc. geschrieben haben sollen (Magister Leoninus, Perotinus Magnus, Robert de Sabilone, Petrus [de Cruce], Johannes [de
Garlandia] und die beiden Franco). Bedeutende Theoretiker, deren Werke zum Teil auf uns gekommen sind
(Franco von Köln, Philipp vonVitry, Johannes de Muris), entwickeln allmählich die noch heute geltenden Satzregeln (Oktaven-
und Quintenverbot), und so finden wir denn bereits um die Mitte des 15. Jahrh. bei den Niederländern
den Kontrapunkt zu hoher Vollkommenheit entwickelt.
Diese überkünstelte Musik stach grell ab gegen die schlichte Einfachheit des die Form des volkstümlichen
(vierstimmigen) Liedes nachahmenden protestantischen Chorals, und wohl aus diesem Grund beschloß das Tridentiner Konzil die
Verbannung der mehrstimmigen Musik aus der Kirche, wenn es nicht gelänge, einen schlichtern, angemessenern Stil für die kirchlichen
Gesänge zu schaffen. So wurde durch äußere Anregung der großartig einfache Palestrinastil geschaffen,
dessen Vertreter außer Palestrina (gest. 1594) besonders die Nanini, Vittoria und die beiden Anerio sind.
Vaterland verpflanzt wurden, haben die Italiener indirekten Anteil an der weitern großartigen Entwickelung der Kirchenmusik, welche in
den Kantaten und Passionsmusiken J. S. Bachs gipfelte. Bach steht als ein ungeheurer Markstein in der Musikgeschichte, alte und
neue Zeit berühren sich in ihm; er erscheint als Abschluß der vorausgegangenen Epoche der polyphonen
Kunst, zugleich aber als ein so imposanter Vertreter der neuen Periode der harmonischen Musik, daß er noch heute nicht übertroffen,
vielleicht nicht erreicht ist.
Was seit Bach an noch geschrieben worden ist, atmet den Geist der neuern Zeit, ist im Aufwand der instrumentalen Mittel hier
und da glänzender, im Melodischen weicher, sentimentaler, wir können getrost sagen: opernhafter, im
Harmonischen pikanter, dissonanzenseliger (Bach scheute wahrlich nicht die Dissonanz, aber sie wirkt bei ihm kräftiger, herber),
reicht aber in Bezug auf die Größe der Totalanlage und den sittlichen Ernst der Auffassung nur in wenigen Fällen an Bach heran.
Die größten Vertreter der neuern Kirchenmusik sind: Beethoven (Missa solemnis), Mozart (Requiem), Cherubini, Liszt
und Kiel.
[* 21] Ein »Kirchenmusikalisches Jahrbuch«, redigiert von Haberl, erscheint seit 1886 in Regensburg.
[* 22]
Bezeichnung für die Politik, welche die
Kirche im allgemeinen und namentlich dem Staat gegenüber befolgt,
aber auch Bezeichnung für die Politik der Staatsgewalt und der politischen Parteien im Staate der Kirche gegenüber. Bei der
großen Bedeutung der letztern für das gesamte Kulturleben des Volkes und bei dem Einfluß, welchen die
Kirche und die kirchlichen Organe auf das staatliche Leben auszuüben vermögen, ist die Regelung der Beziehungen des Staats
zur Kirche eine der wichtigsten Aufgaben der Politik auf dem Gebiet der Gesetzgebung wie auf demjenigen der Staatsverwaltung.
Die zur Regelung dieses Verhältnisses zwischen Kirche und Staat bestimmten Gesetze werden kirchenpolitische
genannt. Von einer in dem modernen Sinn des Wortes ist im Altertum kaum die Rede; denn die vorchristliche Zeit kannte keine vom
Staatsleben gesonderte öffentliche Gottesverehrung, betrachtete diese vielmehr als Funktion des Staats selbst. Auch das römische Reich
behauptete den gleichen Gesichtspunkt, und da die älteste christliche Kirche am Staatskultus teilzunehmen
ablehnte, so wurde sie als staatsgefährlich verboten und verfolgt.
Sie bildete um so selbständiger ihre Vereinsverfassung aus, bis dann im Anfang des 4. Jahrh.
Konstantin d. Gr. und seine Söhne sich ihr anschlossen und nunmehr für die Aufrechterhaltung und Fortbildung der christlichen
Kirche die Staatsgewalt mit in die Wagschale legten. Unter dem fortwirkenden Einfluß des alten Gedankens,
daß das den Gottesdienst betreffende RechtStaatsrecht sei, übten die Kaiser ihr Schutzverhältnis zur Kirche häufig so, daß
sie dieselbe geradezu regierten. Diese Stellung der Staatsgewalt ist in der griechischen Kirche noch heute im wesentlichen Rechtens.
- Im europäischen Westen nahm dagegen das Verhältnis zwischen Staat und Kirche eine andre Gestalt an. Die
apostolische Mutterkirche dieses großen Patriarchatsprengels war Rom;
[* 33] seit dem 5. Jahrh. aber erhob der römische Patriarch,
der Papst, den Anspruch, daß er nach göttlicher Stiftung zugleich geistliches Haupt, Primas, der Gesamtkirche sei.
Zugleich machte er sich, vermöge der aus der Völkerwanderung hervorgehenden politischen Entwickelung
des Westens, von dem oströmischen Kaiserregiment unabhängig, und schon unter den Karolingern konnten in der fränkischen
MonarchieStimmen laut werden, durch welche für den Papst, als den in der Kirche unbedingt herrschenden Stellvertreter Christi,
in allem, was kirchlich sei, die Unterordnung der Staatsgewalt beansprucht wurde. Allerdings setzten die
Päpste diese Ansprüche damals nicht durch, vielmehr behandelten auch noch die sächsischen und ersten fränkischen
Kaiser die Bischöfe nach wie vor als von ihnen angestellte und abhängige, vielfach auch weltlich von ihnen verwendete Beamte
und den Papst nur als den ersten dieser Reichsbichöfe ^[Reichsbischöfe].
Unterdes hatte aber auf den Gebieten der Gesellschaft die Bildung der mittelalterlichen Innungen begonnen,
und die kirchliche bildete sich, schon vermöge ihrer Ausdehnung,
[* 34] vorzugsweise mächtig aus. Zugleich verschaffte dem Papst,
so oft er im Interesse kirchlicher Selbständigkeit den Kaiser bekämpfte, das gleichzeitige Auftreten der Landesherren gegen
diesen brauchbare Verbündete. Als daher das Reich durch die lange und unruhige RegierungKaiserHeinrichs
IV. schwach wurde, zu Zeiten, in denen eine mit Energie sich geistlichen Interessen zuwendende Strömung (neue geistliche Orden
seit 1084, Kreuzzüge seit 1096) in PapstGregor VII. einen bedeutenden und besonnenen Führer fand, da
¶
mehr
ergab sich ein plötzlicher Aufschwung nicht bloß des kirchlichen Selbstbewußtseins, sondern auch seiner sozialen Machtmittel;
nach einer Übergangsperiode gegenseitigen Ringens wurde der Staat von der kirchlichen Genossenschaft für lange unterjocht.
Das in und von der Kirche damals zur Geltung gebrachte kuriale oder papale System beruht auf dem Satz, der Papst
sei Stellvertreter Christi, und fordert demgemäß seitens der übrigen Kirchenobern die Anerkennung, daß niemand von ihnen
kirchliche Regierungsgewalt besitzen könne, außer auf Grund päpstlicher Vollmacht, seitens der christlichen Staatsgewalten
aber die Anerkennung, daß sie jedem vom Papst in Christi, d. h. Gottes, Vertretung gestellten Verlangen als Christen zu gehorchen
haben.
Diese Herrschaft der Kirche über den Staat dauerte so lange, als im Occident auch die gesamte geistliche
Kultur von der Kirche vertreten war. Als aber aus ihrer lateinischen Einheit die modernen nationalen Litteraturen sich entwickelten,
lockerte sich gleichzeitig das Regiment der Kirche: die Bischöfe entzogen sich der römischen Kurie, und die
Staatsgewalten erkannten die Unbedingtheit der kirchlichen Oberherrschaft nicht mehr an. Die Päpste hatten, während ihrer
Residenz zu Avignon (1305-78) thatsächlich vielfach von den französischen Königen abhängig, die dringend nötige kirchliche
Reformation auf unverantwortliche Weise verabsäumt.
Dem gegenüber erklärten jetzt die Bischöfe sich auch ihrerseits selbstverantwortlich; sie behaupteten, als Generalkonzilium
über dem Papst zu stehen (sogen. Episkopalsystem), und nahmen auf den großen Konzilen zu Konstanz
[* 36] (1414-18)
und zu Basel
[* 37] (1431-43) jene Reformation in ihre eigne Hand.
[* 38] Die Staatsgewalten aber begannen die Geltung neuer kirchlicher Anordnungen
in ihrem Land von staatlicher Genehmigung abhängig zu machen. Die Staatseinrichtungen des landesherrlichen »Placet« (regium
exequatur) und der an die Staatsbehörden eröffneten Beschwerde wegen Mißbrauchs derKirchengewalt (recursus
tanquam ab abusu) treten in Spanien
[* 39] seit dem zweiten Dritteil des 14. Jahrh., in Frankreich und in deutschen, zuerst städtischen
Territorien um weniges später auf.
Das Deutsche Reich
[* 40] als Ganzes, wenn es auch den Anspruch des Papstes auf Erteilung der Kaiserwürde zurückwies
(Kurverein zu Rhense 1338) und an die Kirche wegen weltlicher Rechtsverweigerungen zu appellieren verbot (Goldene Bulle 1356),
war freilich in jener Zeit schon zu wenig mehr der lebendige Träger deutscher Staatsgedanken, als daß es deren umfänglichere
Vertretung der kirchlichen Genossenschaft gegenüber hätte übernehmen können. Es hatte die Durchführung
der Staatsidee im wesentlichen schon an die Territorialgewalten abgegeben, welche nunmehr ein Aufsichtsrecht über die Kirche
in Anspruch nahmen.
Die Theorie, daß der Staat nicht nur unabhängig von der Kirche, sondern diese vielmehr verpflichtet sei, sich ihm unterzuordnen,
ja einzuordnen, wurde im 15. Jahrh. von den Hussiten, in dem nächstfolgenden Jahrhundert aber von Luther
wieder aufgenommen. Die Reformation brachte in allen protestantischen Territorien das Kirchenregiment an die Landesherrschaften.
Sie war der erste praktisch durchgeführte Versuch des Staats, eine selbständige Stellung zur Kirche zu nehmen.
Das zu Grunde liegende Prinzip einer religiösen Pflicht der Staatsobrigkeit, für richtigen Gottesdienst im
Lande zu sorgen, hatte indes noch einen konfessionell-kirchlichen Charakter. Als daher die religiösen Motive des 16. Jahrh.
allmählich zurücktraten und man sich humanistisch gewöhnte, auch die
Politik unmittelbar aus den Alten zu lernen, ersetzte
man jenes religiöse Prinzip vielfach durch die antike Idee, daß es in der Natur des Staats liege, auch
die religiöse Einheit seiner Bürger zu bedingen.
Diese in späterer Zeit als Territorialismus bezeichnete Auffassung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche wurde wissenschaftlich
von Hobbes, Spinoza, vor allen von Grotius vertreten. Aber dieser territorialistische Staat war ebenso unduldsam aus politischen
Gründen, wie es der landeskirchliche aus religiösen gewesen war: beide litten nur Eine Kirche im Land.
Nachdem dann der WestfälischeFriede (1648) den beiden deutschen Hauptkonfessionen ihren kirchlichen Besitzstand von 1624 garantiert
hatte, wurde es in einer Mehrzahl deutscher Staaten zur politischen Notwendigkeit: sei es protestantische oder katholische,
sei es zweierlei protestantische Kirchen zugleich im Land zu haben, und mehr und mehr machte sich jetzt
folgende Auffassung geltend: Die Kirchen sind Privatvereine, Kollegia, deren es in einem Staate die verschiedensten nebeneinander
geben kann.
Sie werden von demselben geschützt, zugleich aber im Interesse des öffentlichen Wohls beaufsichtigt und, wenn nötig, in der
Freiheit ihrer Bewegung umgrenzt. Möglich, daß der Staat sich bewogen findet, einen einzelnen Kirchenverein
ganz zu verbieten (reprobatio); möglich, daß er andern die Grenzen jener Bewegung enger oder weiter zieht; möglich, daß
er einen oder mehrere sogar mit Privilegien ausstattet: immer behält er neben seiner Pflicht, sie zu schützen (jus advocatiae),
das Recht, sie zu beaufsichtigen und eventuell zu beschränken (jus inspectionis et cavendi).
Sie hat das große Verdienst, für das Verhältnis des Staats zur Kirche ein richtigeres Prinzip, das der Toleranz, aufgestellt
zu haben, welches, von allen modernen Staaten angenommen, das heutige Staatskirchenrecht beherrscht. Allerdings
hat die römisch-katholische Kirche das Toleranzprinzip niemals förmlich anerkannt, wie sie schon das reformatorische Landeskirchentum
nicht anerkannte; sie hat vielmehr allen seit dem 14. Jahrh. gegen sie erhobenen Widersprüchen gegenüber ihr altes Kurialsystem
festgehalten.
Als im 16. Jahrh. von einer Reihe deutscher Landesherren die lutherische Bewegung in Schutz genommen wurde,
auch nachdem sie vom Papst für eine ketzerische erklärt worden war, machte die Kurie das alte Ketzerrecht geltend und erreichte,
daß im WormserEdikt von 1521 dasselbe reichsseitig angewandt ward. Der Kaiser und die katholisch gebliebenen Fürsten hatten
aber gegenüber der schon seit dem 15. Jahrh. gewonnenen landespolizeilichen Stellung der Territorialherren
die Macht nicht, es durchzuführen, sondern erkannten im AugsburgerReligionsfrieden von 1555 und, nach einem erneuten Versuch,
im WestfälischenFrieden von 1648 die protestantische Religionsübung im Reich reichsgesetzlich an. Diese Friedensbestimmung
erklärte jedoch der Papst in der BulleZelo domus Dei vom für null und nichtig, und er hat
die Verwerfung der Toleranz bis heute festgehalten (vgl. »Syllabus errorum« vom
¶
mehr
Nr. 77, 78). Auf der andern Seite muß aber die römische Kirche thatsächlich mit dem Protestantismus leben; sie
muß in Staaten mit einer Bevölkerung
[* 42] von verschiedenem Glaubensbekenntnis eine Art und Weise des Nebeneinanderbestehens (modus
vivendi) finden, und sie muß namentlich einer protestantischen Regierung gegenüber ihre Bestrebungen und
ihre ganze Haltung den staatlichen Verhältnissen anpassen oder doch mit diesen rechnen. Auf die Gestaltung dieser Beziehungen
zwischen Staat und Kirche sind in diesem Jahrhundert ganz besonders zwei in Wechselwirkung stehende Entwickelungen von bestimmendem
Einfluß gewesen, von denen die eine im Staate, die andre in der Kirche vor sich ging.
Der Staat gestaltete sich nämlich aus dem polizeilich-absoluten in den konstitutionellen Rechtsstaat um. Durch das Repräsentativsystem,
durch die Öffentlichkeit des modernen Staatslebens, die Vereinsfreiheit und die Freiheit der Presse
[* 43] wird dem Einzelnen oder
dem Verein auch auf den gesetzgebenden und indirekt auf den verwaltenden Staatswillen selbst bestimmend einzuwirken ermöglicht;
insbesondere sind zur Leitung der politischen Wahlen soziale Einflüsse benutzbar, so daß dann die leitende
Genossenschaft, indem sie ihre Vertreter in die Gemeinderäte, Provinzialstände und Abgeordnetenkammern sendet, auf die Regierung
der entsprechenden Kreise
[* 44] einen Einfluß ausübt.
Die römisch-katholische Kirchengenossenschaft erhielt in einem so gestalteten Staatsleben einerseits größere Freiheit ihrer
selbständigen sozialen Existenz und Entwickelung, anderseits eine größere politische Macht, als sie
im absoluten Polizeistaat gehabt hatte. Daher trat der am Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland herrschende Episkopalismus
mehr und mehr gegen den wieder vordringenden Kurialismus zurück. Allerdings hatte diese Erscheinung auch einen keineswegs
zu unterschätzenden idealen Grund in der Gesamtströmung, die als Entwickelung der romantischen Schule
bezeichnet zu werden pflegt.
Nun hatte bei der Säkularisation von 1803 das Reich ein über die Neueinrichtung der deutschen Diözesen mit dem Papst abzuschließendes
Konkordat in Aussicht genommen und die künftigen Bistümer zu dotieren versprochen. Als dies Reichskonkordat nicht zu stande
gekommen war, schlössen nach der Restauration von 1815 die deutschen Einzelstaaten, welche katholische
Unterthanen in nennenswerter Menge hatten, über Neueinrichtung und Dotierung der BistümerVerträge mit Rom.
Die Staatsregierungen gingen hierbei von einer kollegialistischen Auffassung, nämlich davon aus, es gelte die Reorganisierung
solcher katholischer Religionsgesellschaften, deren je eine von den Katholiken eines Staats gebildet werde.
Die Kurie hingegen hielt den Gesichtspunkt fest, daß sie eine einzige über die Welt ausgebreitete und nicht bloß die Katholiken,
sondern rechtlich alle Christen umfassende Kirchengenossenschaft vertrete. Sie gab diesem Standpunkt, obwohl sie ihn gelegentlich
als einen für jetzt unpraktischen bezeichnet hat, in jenen Verhandlungen unverhüllten Ausdruck; die Regierungen
aber, die von der sozialen und staatlichen Entwickelung, welche bevorstand, noch keine Ahnung hatten, würdigten dessen politische
Bedeutung damals nicht; Bayern
[* 45] ging sogar so weit, sich in seinem Konkordat ihm äußerlich zu fügen, während Preußen
[* 46] jedes
Eingehen auf dergleichen Ansprüche ablehnte, indem es sich seine Kirchenhoheitsrechte und seinen Staatsangehörigen
die Gewissensfreiheit ausdrücklich wahrte. Dies Beispiel ahmten die übrigen unterhandelnden protestantischen
Regierungen nach.
In der
Praxis blieben aber noch längere Zeit nach dieser Reorganisationsarbeit die polizeistaatlichen Zustände lebendig;
der Umschwung der Gesinnungen, von welchem oben die Rede war, zeigte seine ersten Wirkungen nicht früher als in einer um Mitte
der 30er Jahre mit dem Erzbischof von Köln,
[* 47] KlemensAugust v. Droste, ausgebrochenen Streitigkeit. Die römische
Kurie hatte von jeher ihr Prinzip, daß es Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen
[* 48] nicht gebe, vielmehr der Protestant
nichts als ein im Bann befindlicher Katholik sei, unter anderm auf die konfessionell gemischten Ehen angewendet, hatte aber
in Deutschland, wenigstens im nördlichen, eine gelindere Praxis schon seit etwa 1740 teils zugelassen,
teils ignoriert.
Diese Praxiswar in den östlichen preußischen Provinzen günstiger für die Gleichberechtigung als in den später erworbenen
westlichen ausgebildet. Als nun die Regierung, welcher die Parität ein der katholischen Kirche gegenüber gewissenhaft geübtes
Staatsprinzip war, die Praxis der östlichen Bischöfe auch bei den westlichen erzwingen wollte, allerdings
nicht ohne Fehler in der Ausführung, fand sie dort so allgemeinen und so heftigen Widerspruch, daß sie vor demselben (1838)
zurückwich.
Die Regierung des bedeutendsten deutsch-protestantischen Staats gab auf diesem Punkt also die kirchliche Behandlung ihrer protestantischen
Unterthanen als ungehorsamer Katholiken zu. Für die römischen Interessen war es dabei in hohem Grad günstig,
daß um 1840 sowohl in Norddeutschland (Regierungsantritt FriedrichWilhelms IV. von Preußen) als in Süddeutschland (bayrisches
MinisteriumAbel unter König Ludwig I.) Männer an die Spitze der wichtigsten Staatsregierungen kamen, denen nicht weniges von
den Forderungen der ultramontan geleiteten kirchlichen Genossenschaft sympathisch war.
So vorbereitet trat diese Genossenschaft in das Jahr 1848 ein. Die Verfassungsentwickelung in den deutschen Einzelstaaten
war ihr im allgemeinen günstig: sie ließ ihr die privilegierte Stellung, vermöge deren zur Aufrechthaltung kirchlicher
Ordnungen der weltliche Arm zur Disposition blieb, garantierte ihr genossenschaftliche Selbständigkeit
und gab ihr die Freiheit, ihren sozialen Einfluß nach Kräften zu steigern und politisch zu verwerten. Aber sie beließ dem
Staat sein kirchenhoheitliches Aufsichts- und Einschränkungsrecht, dessen Aufgeben die Bischöfe im Sinn des römisch-kurialen
Systems gleichfalls gefordert hatten.
Nur duldete die preußische Regierung eine Reihe von Jahren hindurch thatsächlich, daß die Bischöfe die
der Kirche eingeräumte bedingte Selbständigkeit als unbedingte handhabten. In Österreich
[* 49] erlangte diese souveräne kirchliche
Selbständigkeit vermöge des 1855 mit dem Papst abgeschlossenen Konkordats auch prinzipielle und rechtliche Anerkennung. Für
Süddeutschland wurde Baden
[* 50] zum Angriffspunkt erlesen, wo zwei Dritteile der Unterthanen einer protestantischen Landesherrschaft,
die sich 1848 schwach gezeigt hatte, Katholiken waren.
Wirklich gelang es dem dortigen Landesbischof, nicht bloß die badische, sondern gleicherweise die benachbarte württembergische
Regierung, nicht ohne österreichische Unterstützung, so einzuschüchtern, daß sie von der kirchlichen Souveränität
des PapstesHilfe erbaten und dieselbe in Verträgen zugesichert erhielten (1857, 1859), in denen, soviel dies in
großenteils protestantischen Staaten für jetzt thunlich erschien, der Inhalt des österreichischen Konkordats reproduziert
ward, während auch die hessen-darmstädtische Regierung zu einem ähnlichen, vorderhand
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