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Sentimentalität zur Geschmacklosigkeit und Albernheit. Je beliebter diese Stücke wurden, um so mehr suchte man auch bei ihnen Ordnung und Regelmäßigkeit einzuführen. Richelieu, der sich mit einem Stab [* 2] von fünf Dichtern umgab und gelegentlich wohl selbst eine Szene oder einen Akt schrieb, war ein eifriger Förderer dieser Bestrebungen; Mairet, Chapelain, G. Scudéry brachten die Regeln in ein System. So entstand das regelmäßige Drama, dessen Gesetzen sich von nun an selbst das Genie fügen mußte.
Mairets Tragödie »Sophonisbe« (1629) beginnt die Ära des klassischen Theaters; 1636 erschien der »Cid« von P. Corneille (1606-84),
binnen fünf Jahren seine andern Meisterwerke: »Horace«, »Cinna«, »Polyeucte«, »Pompée«. Hier fanden sich zuerst eine edle, pathetische Sprache, [* 3] kraftvoller Stil, echt dramatische Konflikte, und wenn der »Cid« noch die Gesetze der sogen. drei Einheiten häufiger verletzt, so macht sich Corneille später selbst zum Anwalt einer strikten Befolgung derselben. Auch für das Lustspiel, das sich langsamer entwickelt hatte, schrieb Corneille das Meisterstück »Le [* 4] Menteur«, die erste höhere Charakterkomödie; doch schließt sie sich, ebenso wie der »Cid«, noch fast zu genau an ihr spanisches Vorbild an.
Bevor aber das Theater [* 5] seine höchste Blüte [* 6] erreichte, vollzog sich eine soziale Umwälzung, welche für die Entwickelung der französischen Litteratur von weit tragender Bedeutung war: der Adel, der bisher in großartiger Weise Poesie und Kunst begünstigt hatte, verlor in dem Krieg der Fronde alle Selbständigkeit und mußte sein Beschützeramt an den König abtreten. Dieser war nun unumschränkter Herrscher, und da mit Ludwig XIV. eine Persönlichkeit auf den Thron [* 7] kam, welche den höchsten Begriff hatte von der königlichen Machtvollkommenheit und es für ihre Lebensaufgabe erachtete, dieselbe überall zur Anerkennung zu bringen, so wurde der französische Hof [* 8] der Mittelpunkt des politischen und sozialen Lebens nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa, [* 9] und in den Prachtsälen von Versailles [* 10] sammelte sich alles, was in Poesie, Kunst und Wissenschaft von Bedeutung war.
Großartige Institute wurden begründet (1663 die Akademie der Inschriften und schönen Wissenschaften, 1664 die der Naturwissenschaften, 1671 die der Architektur etc., 1665 das »Journal des Savants«); Künstler, Gelehrte und Dichter wurden aufs freigebigste unterstützt. Aber wer sich in den Strahlen der königlichen Sonne [* 11] wärmen wollte, mußte seine Selbständigkeit preisgeben; die strenge Etikette regelte die Formen und die Geister, und wie die Bäume des Parks von Versailles mußten Kunst und Poesie sich dem herrschenden Geschmack fügen.
Streng und unerbittlich beseitigte Boileau (gest. 1711), der »Le Nôtre« der Poesie, jeden Auswuchs; in seiner »Art poétique« waren die Regeln angegeben, nach welchen sich die Dichtkunst unweigerlich zurichten hatte. Solche Luft war der lyrischen Poesie nicht förderlich, man fand immer noch am meisten Gefallen an eleganten Episteln, witzigen Epigrammen, zierlichen Madrigalen etc.; Frische und Schwung fehlten gänzlich, in frivolen Gedichten zeichneten sich Chapelle (gest. 1686), Chaulieu (gest. 1720), La Fare (gest. 1712), in sentimentalen Idyllen Antoinette Deshoulières (gest. 1694) und Segrais (gest. 1701) aus. Das Epos gelang noch weniger: die »Pucelle d'Orléans« von Jean Chapelain (gest. 1674),
der »Alaric, ou Rome vaincue« von Georges de Scudéry (gest. 1667),
der »Clovis« von Desmarets de Saint-Sorlin (gest. 1676) u. a. sind fast nur aus den Satiren bekannt. Ein Meisterwerk dagegen ist das komische Epos Boileaus: »Le Lutrin«. Auch in der Satire und poetischen Epistel zeichnete sich Boileau fast allein aus. Die Fabel erreichte ihre Vollendung durch Lafontaine (gest. 1695); hier steht die elegante und energische Sprache mit der anmutigen, wahrhaft klassischen Darstellung in glücklichster Harmonie. Seine schlüpfrigen »Contes« können als Fortsetzung der Fabliaux gelten.
Die reichste Blüte jedoch entfaltete die dramatische Poesie und zwar in den Schöpfungen Racines und Molières. Jean Racine (1639-99), für den die strengen Regeln kein Hindernis mehr waren, wußte in seinen formvollendeten, allem realen Beiwerk abholden Tragödien den Ton der wahren Leidenschaft und der innigsten Gefühle mit bewunderungswürdiger Feinheit zu treffen; Molière (1622-73), ein ebenso vorzüglicher Komiker wie Dichter, gehört durch die Wahrheit und Tiefe seiner Beobachtung, durch seinen sittlichen Ernst und seine geistvolle Darstellung zu den größten Dichtern aller Zeiten. Weit hinter ihnen stehen ihre Nachfolger: die Tragödien von Thomas Corneille (gest. 1709), Pradon (gest. 1698), Campistron (gest. 1723) u. a. sind oberflächliche, oft lächerliche Machwerke, und Scarron (gest. 1660), Boursault (gest. 1701), Brueys (gest. 1723) und Palaprat (gest. 1721), Dufresny (gest. 1724), Dancourt (gest. 1716) u. a. schrieben höchstens Possen zweiten Ranges; nur Fr. Regnard (gest. 1709) erhob sich mit seinem »Joueur« über die Mittelmäßigkeit. In diese Periode fällt auch die Entstehung der französischen Oper. Italienische Schauspieler und Sänger, welche Mazarin nach Paris [* 12] berufen hatte, erregten die Lust am lyrischen Drama, und die ersten schüchternen Versuche hierin machten Perrin (gest. 1680) und der Komponist Cambert; doch bildete sich die Große Oper erst durch Lullys Musik und Quinaults (gest. 1688) Texte und führte seit 1667 den Titel: Académie de musique.
Die komische Oper entwickelte sich auf den kleinen Bühnen (théâtres de la foire) und bot derbere Kost und gröbere Effekte, machte aber den privilegierten Theatern so starke Konkurrenz, daß diese 1709 ein Verbot des vokalen Teils dieser Darstellungen erwirkten. Auffallend blieb der Roman in seiner Entwickelung zurück. Die Schäferromane, für welche trotz der Parodie Ch. Sorels (in einem realistischen Roman: »Francion«, 1622) die vornehme Welt und die »Preziösen« des Hotel Rambouillet lange geschwärmt hatten, waren mit der Mitte des Jahrhunderts aus der Mode gekommen; doch war der Geschmack an den süßlich-sentimentalen Geschichten geblieben, nur daß man sie in antikes Gewand gesteckt hatte. Es wurden nämlich Personen und Begebenheiten der griechischen und römischen Geschichte entlehnt, während Sitten und Charakter modern waren; das Ganze spielte sich in der Art der Ritterromane ab. Großartigen Erfolg mit solchen galanten Romanen hatten Gomberville (gest. 1674), La Calprenède (gest. 1663) u. Madeleine de Scudéry (gest. 1701), deren fade und langatmige Produkte nur das Gute hatten, daß sie zum historischen Roman überleiteten. Viel besser waren die Romane der geistreichen Gräfin de Lafayette (gest. 1693), der »Roman comique« von Scarron (gest. 1660) und der »Roman bourgeois« von Furetière (gest. 1688),
zwei interessante satirische Zeitbilder, und die exakte, wenn auch stark pikante »Histoire amoureuse des Gaules« vom Grafen Bussy-Rabutin (gest. 1693). Eine große Vorliebe zeigte das Publikum für die Feenmärchen, von denen Ch. Perrault (gest. 1703) die erste Sammlung unter dem Titel: »Contes de ¶
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ma mère l'Oye« herausgab; eine gewandte und geistreiche Nachfolgerin war die Gräfin d'Aulnoy (gest. 1705). Auch Fénelon (gest. 1715),
der in seinem »Télémaque« den klassischen didaktischen Roman dieser Periode schuf, schrieb Märchen für die Erziehung des Herzogs von Bourgogne. Zu Anfang des 18. Jahrh. machte eine Übersetzung Ant. Gallands von »Tausendundeine Nacht« mit den orientalischen Märchen bekannt, worin sich mit Glück auch Ant. Hamilton und der bekannte Archäolog Graf Caylus versuchten. Eine besondere Erwähnung verdienen die »Maximes« von La Rochefoucauld (gest. 1680) und die »Caractères« von La Bruyère (gest. 1696),
zwei dem Inhalt und der Form nach vortreffliche Werke; nicht minder die »Provinciales« und »Pensées« von Blaise Pascal (gest. 1662). Zu einer großen Vollkommenheit brachte man es in der Kunst, elegante Briefe zu schreiben; schon Balzac und Voiture sind mit Recht darin hochberühmt; ihnen weit voran steht jedoch die Marquise de Sévigné (gest. 1696), deren Briefe wegen der Zartheit und Natürlichkeit der Empfindung, der frischen und geistvollen Darstellung und des interessanten Inhalts zu den Meisterwerken des Jahrhunderts gehören. Der Kritiker von Profession in dieser Periode war Saint-Evremond (gest. 1703); seine satirischen Schriften und geistreichen Briefe wurden eifrig in der guten Gesellschaft kolportiert, und seine feinsinnigen Urteile (z. B. in dem Streit über die »Alten und Modernen« zwischen Boileau u. Ch. Perrault) galten als Orakel.
Das 18. Jahrhundert.
Die Richtigkeit des Grundsatzes, daß die Geschichte der Sitten Hand [* 14] in Hand gehe mit der Geschichte der Litteratur, tritt in keinem Zeitalter schärfer hervor als in dem von Ludwig XV. bis zur Revolution, das sich selbst mit Ostentation das philosophische genannt hat. Mit der Zeit der Regentschaft traten in der geistigen Entwickelung Frankreichs immer mehr ein überwiegendes Streben nach dem unmittelbar Nützlichen, eine oft selbstsüchtige Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und eine alles verhöhnende Frivolität hervor.
Das Beispiel des Regenten ward gefährlich für die Sitten des französischen Hofs, und die Sittenverderbnis des Hofs wirkte nachteilig auf die Nation. Die fest gewurzelten Kunstansichten unterstützten treulich diese sittlichen Zustände, um auf den Verfall der Litteratur hinzuwirken. Das Vorurteil der Nation, daß sie die höchste Stufe der Poesie erreicht und alle übrigen Leistungen der ältern und neuern Zeit weit hinter sich gelassen habe, konnte nur schädlich wirken.
Ludwig XV. fürchtete talentvolle Schriftsteller und behauptete, sie würden die Monarchie zu Grunde richten; er meinte, in einem gut organisierten Staat sollten eigentlich nur 7-8 Schriftsteller unter spezieller Aufsicht der Regierung schreiben dürfen. Vom Hofe vertrieben, suchte nun das litterarische Leben ein Asyl in den Salons, die bisher nur als Nebensonnen betrachtet worden waren, und geriet so abermals in eine der Poesie nicht günstige Sphäre. Die wichtigsten dieser glänzenden Vereinigungspunkte waren die Salons der Mad. Geoffrin, der Marquise Du Deffand, des Fräul. Lespinasse, des Barons Holbach u. a. Die zunehmende Sittenverderbnis bei stets festgehaltenem Schein des Anstandes, die oberflächlichsten, besonders durch die Encyklopädisten verbreiteten Ansichten über Philosophie, die sich zum vollendeten Materialismus und Atheismus herausbildete, über Moral, Religion und Politik äußerten ihren zerstörenden Einfluß auch auf die Poesie; es trat die Herrschaft des Skeptizismus ein, der sich in der Litteratur zunächst in den Angriffen gegen die Alten äußerte.
Der vollkommenste Repräsentant dieser Zeit ist Voltaire (1694-1778), dessen universaler Geist sich in den verschiedensten Zweigen der Litteratur, wenn auch nicht überall mit gleichem Glück versuchte. Seine Tragödien, Epen und geschichtlichen Werke, seine zahlreichen philosophischen Schriften, Romane, Satiren, Briefe etc. haben auf die einen französische Litteratureinen ungeheuern Einfluß ausgeübt. Hat Voltaire auch den Unglauben und die Verachtung jeder positiven Religion verbreiten helfen, so darf doch nicht vergessen werden, daß er auch stets der Vorkämpfer religiöser Duldung, der mutige Verteidiger der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gegen ihre Feinde war, und daß sein alles durchdringender Verstand in Verbindung mit dem feinsten, geläutertsten Geschmack selbst da, wo sein eignes Kunstvermögen nicht ausreichte, um mustergültig zu sein, der Litteratur ihre Wege und Ziele wies.
Sein geistiger Antipode, der tief fühlende J. J. Rousseau (1712-78), wurde zwar von seinen Zeitgenossen als ein geistiger Sonderling betrachtet; doch wirkte die von ihm ausgegangene Proklamation der Menschenrechte nicht wenig zu dem gewaltigen Umsturz der sozialen und litterarischen Zustände in Frankreich und Europa mit; den Grundgedanken aller seiner Werke finden wir in der Verherrlichung der ursprünglichen Menschennatur (s. unten, Philosophie). An diese beiden Pole schließt sich Montesquieu (1689-1755), durch dessen unsterbliches Werk »Esprit des lois« die Staatswissenschaft zur Lieblingsbeschäftigung des Publikums erhoben wurde. -
Die epische Dichtung weist auch in dieser Periode wenig Gelungenes auf: Voltaires »Henriade« ist ein frostiges, langweiliges Gedicht und seine »Pucelle d'Orléans« eine schamlose Parodie, deren Cynismus allerdings von Parny in seiner »Guerre des dieux anciens et modernes« (1799) noch übertroffen wird;
Anspruch auf Beachtung hat allein das komische Heldengedicht »Vert-Vert« von Gresset (gest. 1777).
Die mutwillige poetische Erzählung wurde während dieses Zeitraums mit besonderer Vorliebe kultiviert; Vortreffliches leisteten vor andern Voltaire, Alexis Piron (gest. 1773), Parny und sein Freund Bertin (gest. 1790), namentlich aber der galante Abbé Grécourt (1684 bis 1743). Vorzügliche Romanzen dichteten de Moncrif (gest. 1770) und der Herzog de la Vallière (gest. 1780). In dem Idyll, für welches der Deutsche [* 15] Geßner Vorbild ward, waren am glücklichsten Léonard (gest. 1793) und Berquin (gest. 1791), der in seinem »Ami des enfants« zugleich eine der vorzüglichsten französischen Jugendschriften lieferte. -
Die Lyrik blieb in ihrem gewohnten Geleise. Le Franc de Pompignan (gest. 1784) möchte neben Ecouchard Lebrun, genannt »Lebrun-Pindare« (gest. 1807), der einzige sein, welcher sich in seinen religiösen Oden durch edles Gefühl und bilderreiche Sprache über das Gewöhnliche erhob. Des jüngern Racine (gest. 1763) Oden sind steif oder leiden an affektierter Begeisterung. Die meisten Dichter, besonders Voltaire, der schon genannte Piron und Panard (gest. 1765), machten ihrem Witz in sogen. flüchtigen Poesien (poésies fugitives) Luft. Von den eigentlichen Liederdichtern (chansonniers) waren die vorzüglichsten: Panard (gest. 1765), Charles Collé (gest. 1783) und Boufflers (gest. 1815), der sich durch die Anmut und Laune seiner Lieder den Namen Chansonnier de la France verdiente. In der Elegie, welche jedoch gewöhnlich in den Ton der Epistel hinüberspielte, versuchten sich C. J. ^[Claude-Joseph] Dorat, der üppig-weiche Pezay, Parny, Madame ¶
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Babois und der berühmte Kritiker Laharpe, wurden aber alle von A. Bertin (gest. 1790) übertroffen. Im eigentlichen Lehrgedicht erreichte Voltaire in seinem Gedicht »La loi naturelle« das Vorbild der französischen Didaktiker. Mehr durch würdige Gesinnung und treffliche Verifikation als durch poetischen Wert ausgezeichnet sind Louis Racines Gedichte: »La Grâce« und »La Religion«, welch letztern Gegenstand auch Léonard (gest. 1793) in seinem Gedicht »La religion rétablie sur les ruines de l'idolâtrie« behandelte. Andre didaktische Dichter sind: Roucher (gest. 1794),
Bernard (gest. 1776),
der Ovids »Ars amandi« nicht ungeschickt nachahmte, Lemierre (gest. 1793),
Watelet (gest. 1786, »Art de peindre«) und der Kardinal Bernis (gest. 1794, »Les quatre saisons«),
der sich auch in der sogen. beschreibenden Poesie einen Namen erwarb. Ausgezeichnet sind zum Teil auch Saint-Lamberts (gest. 1803) deskriptive Gedichte, besonders seine Thomson nachgedichteten »Saisons«. In der poetischen Epistel fanden Beifall: Voltaire, Dorat, G. Bernard, Thomas, Bernis, Piron, Gresset, Chamfort, Sedaine, de Moustier, Laharpe und Colardeau (gest. 1776),
der auch die »Heroiden« in Mode brachte. Der Fabel ward eine sorgfältige Pflege zu teil durch den Abbé J. L. Aubert (gest. 1814), der höhere Lehren [* 17] der Philosophie in seine Fabeln einzukleiden versuchte, Dorat (gest. 1780), Florian (gest. 1794), der Lafontaine am nächsten kam, und den Herzog von Nivernois (gest. 1798), in dessen Fabeln man die Urbanität der feinen Pariser Zirkel mit einem Schatz echter Lebensweisheit vereint findet. In der Satire erlangte N. J. ^[Nicolas-Joseph-Laurent] Gilbert (gest. 1780) Ruhm; mit Epigrammen bereicherten Voltaire, Bernard, Piron, Lebrun die französische Litteratur
Die dramatische Poesie wurde im philosophischen Jahrhundert mit ebensoviel Vorliebe wie geringem Kunstverständnis gepflegt. Man blieb im Trauerspiel noch immer dem bestehenden System treu; den Ausbrüchen der Roheit war der Eingang verschlossen, aber auch den Lauten der Natur und des Herzens und somit der eigentlichen Poesie. Den ersten Rang unter den Tragikern dieses Zeitraums behauptet unbestritten Voltaire (»Mérope«, »Zaïre«, »Alzire«, »Tancrède«). Sein über Gebühr begünstigter Nebenbuhler ist der ältere Crébillon (gest. 1762),
der den Beinamen »le Terrible« führt; wertvoller sind jedenfalls die Tragödien von Lemierre (gest. 1793) und die einzige Tragödie von Guimond de la Touche (gest. 1761, »Iphigénie en Tauride«). Châteaubrun (gest. 1775) ging auf die griechischen Tragiker zurück, und de Belloy (gest. 1775) wagte sich trotz seines ungeschichtlichen Sinnes an nationale Stoffe aus dem Mittelalter. Den größten Beifall erntete Ducis (gest. 1816) mit seinen Übersetzungen Shakespearescher Stücke, die allerdings, weil er sie dem französischen Geschmack anpaßte, das Original nur in sehr unvollkommener Weise wiedergaben.
Gern gesehen wurde damals auch das bürgerliche Schauspiel, eine Art Mittelding zwischen Trauerspiel und Lustspiel, wegen seiner rührseligen Art »Comédie larmoyante« genannt; La Chaussée (»Le préjugé à la mode«, 1735),
Diderot (»Le fils naturel«, 1757; »Le père de famille«, 1758) und Sedaine (»Le philosophe sans le savoir«, 1765) versuchten sich in diesem Genre, welches den technischen Namen »Drame« erhielt. Das Lustspiel brachte in diesem Zeitraum nur Stücke zweiten Ranges zu Tage; Molière am nächsten steht noch Le Sage mit seinem »Crispin« (1707) und »Turcaret« (1709). Voltaire fiel fast ganz durch; von Destouches (gest. 1754) hielten sich nur zwei Komödien auf der Bühne: »Le philosophe marié« (1727) und »Le Glorieux« (1732);
die Komödien Collés (gest. 1783), die auf dem Théâtre français in Szene gingen, hatten keine lange Dauer, während seine Possen, die er für das Theater des Herzogs von Orléans [* 18] schrieb, viel beklatscht wurden.
Für die besten Lustspiele dieser ganzen Zeit halten die Franzosen die »Métromanie« (1738) von Al. Piron und »Le Méchant« (1747) von Gresset, setzen aber Marivaux (gest. 1763) zu sehr herab, dessen feine Komödien erst neuerdings nach Gebühr gewürdigt worden sind. Favarts Lustspiele können auf litterarischen Wert nicht Anspruch machen, ebensowenig die Florians, der den Harlekin wieder einführte und ihm eine sentimentale Maske gab. Den größten Beifall aber fanden die berühmten Komödien: »Barbier de Séville« und »Le mariage de Figaro« von Beaumarchais (gest. 1799),
zwei Meisterstücke blendenden Esprits und scharfer Satire. In der ernsten Oper versuchten sich La Mothe, Danchet, Ch. Roy, A. H. Poinsinet; sie übertraf Bernard durch »Castor et Pollux« und Marmontel durch »Didon«. In der komischen Oper arbeiteten mit Glück Lesage, d'Orneval und Fuselier, A. Piron, Favart, Sedaine, Marmontel; auch von Rousseau gibt es eine kleine Oper: »Le devin du village«. Im Vaudeville zeichnete sich vor allen der schon erwähnte Panard (gest. 1765) aus.
Der Roman war auch in diesem Zeitraum der treueste Spiegel [* 19] seiner Zeit, denn während er einerseits der frivolen Richtung des Jahrhunderts folgte, hüllte er sich anderseits in die Schleier der Prüderie und Sentimentalität und bewies so auch negativ die Verderbnis des Bodens, dem er entsprossen. Der sogen. philosophische Roman kam durch Voltaire (»Memnon«, »Zadig, ou la destinée«, »Micromégas«, »Candide, ou l'optimisme«, »L'Ingénu« u. a.),
welcher seinem originellen Mutwillen einen ernsten Anstrich zu geben wußte, in Aufnahme und fand eine Menge Bearbeiter, unter denen Diderot (1713-84, »Jacques le fataliste«, »La Religieuse«) glänzt, während die Namen der übrigen der Vergessenheit anheimgefallen sind. J. J. Rousseau schuf in seiner »Julie, ou la nouvelle Héloïse« das Meisterwerk des sentimentalen Romans, obschon die didaktische Tendenz das ästhetische Interesse etwas stark in den Hintergrund drängt. Der Familienroman wurde durch Marivaux in die französische Litteratur eingeführt und durch Ch. Duclos (gest. 1772) und A. Prévost d'Exiles (gest. 1763), der eine ungewöhnliche Beobachtungsgabe und eine unerschöpfliche, freilich mitunter seltsam springende Phantasie besaß, weiter ausgebildet. Noch jetzt wird in Frankreich sein Roman »Manon Lescaut« als ein Meisterwerk bewundert. Eine Art historischen Romans ward durch Marmontel (1723-99, »Bélisar«, »Incas«) und Florian (1755-94, »Numa Pompilius«, »Guillaume Tell«) nicht ohne Glück angebaut und der eigentliche Sittenroman durch Alain René Lesage (1668-1747) mit seinen besten Musterstücken (»Gil Blas«, »Le diable boiteux«) bereichert, während Madame Graffigny (gest. 1758) den sentimentalen Ton anschlug. Hoch über ihr steht aber Bernardin de Saint-Pierre (1737-1814),
dem ein vielbewegtes Leben und die Verderbtheit der Zeit nicht die Reinheit seiner Gesinnung geraubt hatten, und der mit seinem Meisterwerk: »Paul et Virginie«, in ergreifender Einfalt der Darstellung und anziehender, elegischer Sprache unübertroffen dasteht. ¶
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Montesquieus (gest. 1755) »Lettres persanes« weckten eine Schar von Nachahmern, die jetzt meist vergessen sind. Aus dem Familienroman, in welchem man die Sitten der Zeit im Detail zu schildern suchte, gingen die lasciven und Schmutzromane hervor, welches Genre seinen Kulminationspunkt in den über alle Maßen unsittlichen Arbeiten des Marquis de Sade (gest. 1814) erreichte. Crébillon der jüngere (gest. 1777) ist als der erste zu betrachten, welcher diese Gattung mit bestimmter Absicht in die französische Litteratur brachte; er malte mit genialer Leichtigkeit und nur allzu drastischer Wahrheit die Sittenverderbtheit der großen Welt, umhüllte aber seine obscönen Schilderungen wenigstens mit einem wenn auch durchsichtigen Schleier. Weit derber und cynischer sind Restif de la Bretonne (gest. 1806), Choderlos de Laclos (gest. 1803), der Verfasser von »Les liaisons dangereuses« (1782),
und Louvet de Couvray (gest. 1797),
der Autor des »Chevalier de Faublas« (1789). Die Bemühungen des Grafen Tressan (gest. 1783), den Geschmack an den ältern Ritterromanen zu erneuern, erfreuten sich bei dem bessern Teil des Publikums einer großen Beliebtheit.
Die Revolutions- und Restaurationsepoche.
Eins hatten die destruktiven Tendenzen der Aufklärungslitteratur des 18. Jahrh. unangetastet gelassen: die litterarischen Formen, und auch die Revolution hatte weder Zeit noch Geist genug, sich an neue Schöpfungen zu wagen. Der wüste Lärm der Gasse und der Terrorismus der Klubs verscheuchten die Poeten; alles Leben flüchtete sich in die Journale und Pamphlete, und nur die parlamentarische Beredsamkeit entfaltete sich zu reicher Blüte. Die Theorien Montesquieus und J. J. Rousseaus, die Prinzipien der Freiheit und des Fortschritts fanden begeisterte Lobredner, und Mirabeau, Danton, Camille Desmoulins und Robespierre waren die Helden des Tags. Wo die Poesie ihre Stimme zu erheben wagte, stand sie vollständig im Dienste [* 21] der Republik und feierte deren Idole in Oden und Dithyramben; die »Marseillaise« (von Rouget de Lisle) und M. J. ^[Marie-Joseph] Chéniers »Hymne à l'Être suprême« sind die charakteristischen Erzeugnisse dieser Lyrik.
Harmloser war diejenige Richtung, welche der von J. J. Rousseau geweckten und von Bernardin de Saint-Pierre genährten Vorliebe der Zeit für Naturschilderungen entgegenkam, und deren vorzüglichster Vertreter Jacques Delille (1738-1813) war. Aber auch diese Schule konnte sich von philosophischen Abstraktionen und mythologischem Bilderkram nicht freimachen; die Natur, die sie in unendlichen Variationen und in saft- und kraftlosen Versen besang, existierte nur in ihrer Einbildung, und die glänzende Form sollte für den banalen Inhalt entschädigen; Gefühl, Phantasie und Sprache waren erstarrt.
Auf der Bühne, wo neben den Shakespeareschen Dramen, wie sie Ducis dem französischen Geschmack angepaßt hatte, Voltaire und Beaumarchais unumschränkt herrschten, machten die Gefühle und Sitten der Zeit allmählich ihren Einfluß geltend: in wilden, blutigen Dramen und in weinerlichen Lustspielen wurden die Feinde der Republik gehöhnt und gerichtet und ihre Anhänger sowie die Opfer der Monarchie glorifiziert. Nur wenige Dichter, wie M. J. ^[Marie-Joseph] Chénier (1764-1811) und L. Laya (1761-1833), hatten den Mut, freiere Ansichten zu bekennen; doch die Drohungen des argwöhnischen republikanischen Zensors schreckten sie in immer engere Grenzen [* 22] zurück.
Einige tiefer angelegte Naturen fühlten die Notwendigkeit einer Reform, vor allen André Chénier (1762-94), bei welchem Glut und Kraft [* 23] der Phantasie, Frische und Fülle des Ausdrucks durch anmutige Sinnlichkeit verschönt und durch den reinsten Geschmack geadelt wurden; aber ein frühes Verhängnis hatte den liederreichen Mund jäh verstummen lassen, und ein Vierteljahrhundert lang lagen die Poesien des unglücklichen Dichters im Staub der Vergessenheit. Je mehr jedoch die Ausbrüche der Roheit und Zügellosigkeit mit der erstarkenden Autorität der Staatsgewalt und der zunehmenden Sicherheit des Lebens verschwanden, um so größer wurde auch in Sprache und Litteratur die Sehnsucht nach Erneuerung, und als mit dem Beginn unsers Jahrhunderts die Morgenröte einer neuen Zeit hereinbrach, wurde sie mit jubelnder Begeisterung begrüßt.
Die Verkündiger und Vorkämpfer der neuen Ideen waren Chateaubriand (1768-1848) und Frau v. Staël (1766-1817): sie zerbrachen die Fesseln, in die der Klassizismus den nationalen Geist geschlagen hatte, erweckten wieder das Gefühl für Religion und Natur, brachten das Recht der Individualität, welches die Revolution geschaffen, poetisch zur Geltung und lenkten den Blick ihrer Landsleute auf die herrlich erblühte deutsche und englische Litteratur. Manch wackerer Streiter stand ihnen zur Seite und begeisterte das heranwachsende Geschlecht, vornehmlich Ch. Nodier (gest. 1844), J. ^[Joseph] de Maistre (gest. 1821), Royer-Collard (gest. 1845) u. a. Aber die alte Gewohnheit und die realen Verhältnisse waren noch zu mächtig; fast schien es, als ob der jungen Pflanze ein langes Leben nicht beschieden wäre.
Heftigen Widerstand fand dieser Aufschwung der französischen Litteratur in dem neugeschaffenen Kaiserreich. Der despotischen Natur Napoleons, welcher über die Geister herrschen wollte wie über seine Höflinge und Soldaten, war jede freiere Ansicht und Geistesthätigkeit verhaßt; nur den »sciences exactes« ließ er Unterstützung zu teil werden. Der ewige Waffenlärm, der rastlose Siegestaumel der französischen Adler [* 24] verscheuchte die wahre Poesie; überdies sorgte das straffe Regiment der kaiserlichen Zensur dafür, daß die geduldeten Erzeugnisse der Musen [* 25] immer verwässerter und inhaltleerer wurden.
Chateaubriand unternahm damals seine Reise nach Jerusalem [* 26] und blieb dann grollend dem Hofe fern; Frau v. Staël wurde mit strenger Verbannung bestraft, ihr Buch über Deutschland [* 27] eingestampft. Dagegen alles, was sich in den ausgetretenen Geleisen der klassischen Dichtung bewegte, die Anhänger Voltaires, die sogen. »Klassiker der Décadence«, hielten ihr Haupt hoch; noch war Delille, der Meister der beschreibenden Poesie, einer der ersten Sterne am dichterischen Himmel; [* 28] noch glänzten L. Fontanes (gest. 1821), der elegante und korrekte akademische Redner, einer der einflußreichsten Männer des Kaiserreichs, Esménard, Boisjolin, Gudin, Campenon u. a., deren Gedichte längst vergessen sind.
Denn nicht poetische Begeisterung machte damals den Dichter, sondern die genaue Kenntnis der poetischen Form, ausgebreitete Lektüre und ein eleganter Stil, Vorzüge, durch welche die prosaischten Themata in vielbewunderte Gedichte umgewandelt wurden. Naturgemäß beschränkte sich diese handwerksmäßige Kunst nicht auf die beschreibende Dichtung; Epos, Lyrik und Drama erstarrten ebenfalls bei dem Mangel an Inhalt und wahrem Gefühl. So sind die meisten heroischen Gedichte jener Zeit (»Charlemagne« von d'Arlincourt, »Achille à Scyros« von Luce de Lancival etc.) bloß gereimte Speichelleckerei auf den Imperator, und nur »Philippe-Auguste« von Parseval ¶
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de Grandmaison (gest. 1834) hat sich ein gewisses Interesse zu bewahren gewußt. Im Drama machte sich die Erschöpfung ebenfalls bemerkbar; hier war nur das Schema geblieben, der konventionelle Stil und Zuschnitt; Begeisterung und Phantasie fehlten, und die Personen waren leere Abstraktionen, denen nur das Spiel des großen Talma einiges Leben einzuhauchen vermochte. Und doch fanden die Trauerspiele von Marie Joseph Chénier (gest. 1811), Legouvé (gest. 1812), dem gelehrten Raynouard (gest. 1836), A. Vincent Arnault (gest. 1834) und Lemercier (gest. 1840) großen Beifall, noch größern die Lustspiele von Collin d'Harleville (gest. 1806), Andrieux (gest. 1833), Picard (gest. 1828), Alex. Duval (gest. 1842) und Ch. Guillaume Etienne (gest. 1845) sowie die lustigen Possen und Vaudevilles von Desaugiers (gest. 1827), in denen doch etwas individuelles Leben pulsierte. Die Lyrik hatte unter der Ungunst der Verhältnisse am meisten zu leiden; neben den schon früher erwähnten Parny und Lebrun-Pindare zeichnete sich Charles H. Millevoye (gest. 1816) aus, der in einigen Elegien schon moderne Töne anschlägt; am selbständigsten ist Desaugiers (gest. 1827), der geistreiche Präsident des »Caveau«, dessen lustige Lieder von alt und jung gesungen wurden. Viel Fleiß wurde auf Übersetzungen verwandt; auch hier steht Delille obenan mit seinen »Géorgiques«, die allerdings schon 1772 erschienen waren, aber immer noch als Muster galten; geschätzt waren die Übertragungen des Ossian und des Hiob von Baour-Lormian (gest. 1854),
der auch Tassos »Befreites Jerusalem« ins Französische übersetzte.
Als endlich mit dem Sturz des Kaiserreichs die Schranken gefallen waren, mit welchen dasselbe die geistige Entwickelung des Volkes zurückgehalten hatte, nahm die Litteratur einen mächtigen Aufschwung: überall sproßte neues Leben, die Gedanken entfalteten sich üppiger, und frischer und kühner äußerten sich die lange zurückgedrängten Gefühle. Delille war tot (seit 1813); Ducis, Millevoye, Fontanes standen am Ende ihrer Laufbahn; andre Chorführer der klassischen Dichtung, wie Lemercier, Alex. Soumet (gest. 1845), Pierre Lebrun (gest. 1873, »Cid d'Andalousie«),
fühlten das Bedürfnis, der Zeitströmung Konzessionen zu machen, und erschreckten durch ihre kühnen Neuerungen bedächtigere Zunftgenossen. Die reinen und idealen Gedichte A. de Vignys (gest. 1863),
die ihre Begeisterung aus der Bibel [* 30] und dem tiefen Gefühl des eignen Herzens schöpften (besonders »Éloa«),
gelten als Vorläufer der neuen Schule; ebenso die »Méditations« von Lamartine (1790-1869), in denen die aufgeregte Zeit ihre eignen Gedanken wiederfand. Diese Poesie bedurfte keines mythologischen Lexikons, keiner künstlichen Anregung; sie gehorchte der innern Stimme und verabscheute heidnische Gefühle und Bilder. Neben der biblischen Begeisterung ist es der Patriotismus, der die Herzen durchglüht: die elegischen »Messéniennes« von Delavigne (gest. 1843) und die politischen »Chansons« Bérangers (1780-1857),
von denen einzelne den Schwung antiker Oden haben, waren in aller Munde. Die »Odes et ballades« von Victor Hugo (1802-84), welche trotz ihres romantischen Inhalts noch in streng klassischer Form geschrieben sind, verschafften dem Verfasser durch ihre christliche und monarchische Tendenz eine glänzende Stellung. Zuletzt machte man sich von Athen [* 31] und Rom [* 32] ganz los und wandte sich der Geschichte des eignen Landes und der hoch entwickelten Litteratur der germanischen Nachbarn zu. Die trefflichste Anleitung dazu fand die Jugend in den Vorträgen ausgezeichneter Lehrer, wie Guizot, Cousin, Villemain; Corneille, Racine, Boileau und Voltaire wurden beiseite gestellt, und man studierte, kommentierte und imitierte Shakespeare, Goethe, Schiller, Calderon, Byron und pries die Gotik. Mit der Sprache und Poesie der Troubadoure machten die Forschungen eines Raynouard bekannt, und Sainte-Beuve (gest. 1869) bewies in seiner »Poésie française au XVI. siècle« (1828), daß die Litteratur früherer Epochen an echt dichterischem Gehalt der des Zeitalters Ludwigs XIV. nicht nachstände.
Der Mittelpunkt dieser litterarischen Bewegung, welche zu ihrem Haupttummelplatz zwei Journale, die »Muse française« (seit 1823) und den »Globe« (seit 1825), erwählt hatte, war Ch. Nodier, ihr anerkanntes Haupt Victor Hugo; um sie sammelte sich eine Schar begeisterter Anhänger (das sogen. Cénacle): Sainte-Beuve, Théophile Gautier, Petrus Borel, Emile und Antony Deschamps, Alfred de Musset u. a. Aber alle ihre Reformbestrebungen waren noch unsicherer und schüchterner Art. Erst als der Meister in seiner Vorrede zum »Cromwell« (1827) sein Programm veröffentlichte, gab es eine romantische Schule; erst da merkten die Anhänger des Klassizismus, daß es sich um einen Kampf auf Leben und Tod handle.
Die Grundforderung V. Hugos war absolute Freiheit der Kunst; alle konventionellen Regeln und Gesetze wurden verworfen, nur aus der wirklichen Welt sollte der Künstler und Dichter schöpfen. Und wie sich hier Edles neben Gemeinem, Schönes neben Häßlichem, Erhabenes neben Groteskem findet, so sollte es auch der Poesie erlaubt sein, diese Gegensätze zur Anschauung zu bringen. Gerader, derber Ausdruck wurde gestattet, historische Treue gefordert; volkstümlich zu sein, galt für das beste Lob.
Die strenge Scheidung der poetischen Gattungen wurde aufgehoben, das verhaßte Joch der rhythmischen Gesetze abgeworfen, die magere Rhetorik der Klassiker verpönt: kurz, gegen alles, was nach Regeln schmeckte, empörte man sich;
überall galt Phantasie und Laune. V. Hugo hatte sein Manifest unter dem Eindruck von Vorstellungen Shakespearescher Dramen geschrieben, die von englischen Schauspielern 1827 in Paris aufgeführt wurden: auf dem Theater sollte auch der Kampf ausgefochten werden.
Hier war der schwächste Punkt der klassischen Traditionen, welche ihre Anhänger zuletzt nicht anders mehr zu verteidigen wußten als durch das an den König gerichtete Ansinnen, die frechen Neuerungen mit Polizeigewalt zu unterdrücken; und als das letzte Bollwerk der klassischen Poesie, das Théâtre français, dem »Henri III« von A. Dumas (1829) und dem »Hernani« von V. Hugo (1830) den Zutritt verstatten mußte, war der Sieg des Romantizismus entschieden. Mit gleicher Heftigkeit wurde der Kampf von den Talenten zweiten und dritten Ranges geführt. Während Sainte-Beuve, Th. Gautier, die Gebrüder Deschamps, Guttinguer und Mérimée (gest. 1870) mit seinen spanischen und illyrischen Dichtungen unbedingt für die neuen Ideen eintraten, bewahrten andre in der Form wenigstens treu die klassischen Traditionen, so Guiraud und Baour-Lormian, Al. Soumet, Viennet (gest. 1868), der scharfe Gegner der Romantiker, und Andrieux, der ausgezeichnete Vertreter der alten Schule. Dagegen hielten sich die Damen Delphine de Girardin (gest. 1855) und ihre Mutter Sophie Gay (gest. 1852), Desbordes-Valmore (gest. 1859) und Amable Tastu (gest. 1885) mehr zum romantischen ¶
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Lager [* 34] und veröffentlichten ihre leidenschaftlichen Verse in der »Muse française«. Ruhiger ging es auf der komischen Bühne zu: hier glänzten neben den in der vorigen Periode genannten Dichtern vornehmlich Scribe (gest. 1861),
der von 1820 bis 1830 das Gymnasetheater mit einer Fülle von leichten, lustigen Stücken versorgte, und C. Delavigne (gest. 1843), der Verfasser der »École des vieillards«, eines der besten Lustspiele dieser Zeit.
Auch auf dem Gebiet des Romans hatte sich eine rege Thätigkeit entfaltet. Während bei einem großen Teil des Publikums in den ersten 20 Jahren des Jahrhunderts noch die im alten Geschmack, aber mit vollendeter Eleganz geschriebenen Romane der Gräfin de Genlis (gest. 1830), der Marquise de Souza (gest. 1836), der Damen Sophie Cottin (gest. 1807, »Élisabeth, ou les exilés de Sibérie«) und Sophie Gay (gest. 1852),
die von de Jouy (gest. 1846),
X. de Maistres (gest. 1852) u. a. im höchsten Ansehen standen, wirkten auch hier Frau v. Staël (mit »Delphine« und »Corinne«) und Chateaubriand (mit »Atala«, »René«, »Les Natchez«) für die neuen Ideen bahnbrechend. Namentlich ist »René« in dem sich das überschwengliche Gefühl des Werthertums mit Byronschem Weltschmerz zu der »maladie du siècle« verquickt findet, der Typus einer Reihe von Romanhelden geworden, welche von G. Sand und A. de Musset am poetischten dargestellt sind.
Trotz ihrer fieberhaften Thätigkeit fand die eigentliche romantische Schule keine Zeit, Romane zu schreiben, obwohl ihr Herr und Meister in seinen Erstlingswerken: »Han d'Islande« (1822) und »Bug Jargal« (1825),
schon gezeigt hatte, wie er mit der klassischen Tradition zu brechen gedachte. V. Hugo hatte offenbar eifrig Walter Scott gelesen, welcher seit seinem »Quentin Durward« (1823) in Frankreich in hohem Ansehen stand. An ihm bildete sich auch der historische Roman, dessen vorzüglichste Erzeugnisse in dieser Epoche d'Arlincourts »Solitaire« (1821),
A. de Vignys »Cinq-Mars« (1826) und die beiden Romane Mérimées: »La Jacquerie« (1828) und »Chronique du règne du Charles IX« (1829), waren, und dessen Blüte mit der glänzenden Entwickelung der historischen Studien Hand in Hand ging.
Die Neuzeit.
I. Die Regierung Ludwig Philips. Die Julirevolution, welche die romantische Schule zur Herrschaft brachte, war auch zugleich das Signal zu ihrer Auflösung. Ein Teil ihrer Anhänger ging zur Politik über oder setzte sich in einträgliche Ämter, die andern litten unter den Konsequenzen ihrer Prinzipien und ihrer Kampfesweise und verfielen immer mehr der Übertreibung und dem Lächerlichen; der »Globe« wurde sozialistisch und ging endlich ganz ein. Die kühnen Neuerungen in Sprache und poetischer Technik, welche zum Teil nur in der Hitze des Kampfes ihre Entschuldigung finden, wurden bald zum kindischen Spiel mit der Form; die Betonung [* 35] des Natürlichen gefiel sich in trockner psychologischer Analyse und verzerrte sich zum nackten Realismus.
Die ideale Kunst wurde zur plastischen; poetische Begeisterung glaubte man ersetzen zu können durch mühseligen Fleiß, genaue Beobachtung und glückliche Wortwahl. Der Stil wird breit, schwülstig, unsorgfältig; unendliche Romane, mehrbändige Novellen, zum Sterben langweilige Dramen entstehen in Menge. Der materiellen Zeitrichtung gemäß strebt alles nach Reichtum und Genuß, und in diesem Taumel erschöpfen sich Geist und Produktionskraft in wenigen Jahren; gewissenhaft und sorgfältig ist nur die Litteraturgeschichte.
In der Lyrik sind V. Hugo und Lamartine, ehe sie sich der Politik ergaben, noch immer die Koryphäen, jener mit den »Feuilles d'automne« und »Voix intérieures«, dieser mit »Jocelyn« und »Chûte d'un ange«. A. de Vigny, Th. Gautier, Sainte-Beuve und andre Jünger der Romantik legen zu viel Gewicht auf Äußerlichkeiten, auf die künstliche Form, während die Nachahmer Lamartines, V. de Laprade, Saintine (gest. 1865), Brizeux (gest. 1858), Autran (gest. 1877), J. ^[Jean] Reboul (gest. 1864), durch graziöse und tief empfundene Gedichte bezaubern. Den geraden Gegensatz zu Lamartine bildet A. de Musset (1810-57); bei ihm handelt es sich nie um eingebildete Lust oder Schmerz; alles ist wahr und erlebt, wenn auch meist zu leidenschaftlich und wüst. Besondere Erwähnung verdienen die geistsprudelnden, beißenden Iamben A. Barbiers (gest. 1882) und E. Quinets (gest. 1875) bizarres Gedicht »Ahasvérus«. -
Die dramatische Poesie hatte am meisten unter den Übertreibungen der romantischen Prinzipien zu leiden. Zwar entfaltete sich eine reiche Thätigkeit auf diesem Gebiet, V. Hugo, A. Dumas (1803-70), das größte dramatische Talent dieser Renaissance, A. de Vigny fanden ein begeistertes Publikum und zahlreiche Nachahmer; aber das wilde Spiel der Phantasie, das Behagen am Grotesken, Gräßlichen überstiegen nach und nach jedes Maß; die historischen Personen nahmen so unwahrscheinliche Dimensionen, die Verwickelungen einen so rätselhaften Charakter an, daß das Interesse des Publikums bald ganz erlahmte und besonnenere Anhänger, wie Sainte-Beuve, ihre Mißbilligung nicht zurückhielten. Am eifrigsten predigte der Kritiker G. Planche (gest. 1857) gegen die Korruption des romantischen Dramas, und als in der Rachel Felix eine vorzügliche Darstellerin klassischer Rollen [* 36] gleichsam über Nacht (aus einem Feuilleton J. ^[Jules] Janins) erstanden war, sah man das französische Publikum sich wieder für Corneille, Racine und die klassischen Tragödien (»Lucrèce«, »Charlotte Corday«) eines Ponsard (gest. 1867) begeistern, während V. Hugos »Burgraves« (1843) vor leeren Bänken in Szene gingen. Zu diesem Erfolg der neuklassischen Richtung, welche man die »École du bon sens« nannte, wirkten auch die Dramen von Delphine de Girardin und C. Delavigne (gest. 1843) mit, obwohl beide den romantischen Theorien in wichtigen Punkten sich fügten.
Der geringe poetische Wert dieser Stücke und die hohle Phrasenmacherei machten jedoch einen dauernden Erfolg unmöglich; auch die Rachel gab bald ihre Exklusivität auf und fiel zuletzt dem Allerweltskünstler Scribe anheim; zudem lenkten die Februarrevolution und die Errichtung des zweiten Kaiserreichs das Interesse des Publikums in ganz andre Bahnen. Das Lustspiel, welches keine litterarischen Streitigkeiten kannte, hat viel nachhaltigere Erfolge errungen.
Hier beherrschte Scribe (gest. 1861), nachdem er 1830 das Vaudeville mit der Prosakomödie vertauscht hatte, die Bühne unumschränkt. Auch A. Dumas fand viel Beifall; höher aber als beide stehen Mérimée (»Théâtre de Clara Gazul«) und besonders A. de Musset, dessen geistreiche Salonkomödien ihren Platz immer behaupten werden. Eine Menge jüngerer Talente erwarben sich in der dramatischen Fabrik Scribes Routine und einen Namen, hauptsächlich: Duveyrier (gest. 1865), Bayard, Saintine. Keinen Rivalen hatte Scribe auf dem Gebiet der Oper; seine von Boieldieu, Auber, Meyerbeer, Halévy, Adam, Verdi etc. komponierten Librettos ¶