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Volksstimme den König, den Unterdrückern Roms sich anzuschließen; selbst Dänemark [* 2] blieb endlich neutral, während England in gewohnter Unthätigkeit verharrte. Bei der Mobilmachung zeigte sich sofort, daß die Armee keineswegs kriegsbereit war. So kam es, daß die Franzosen, statt Deutschland [* 3] sofort mit ihren Scharen zu überschwemmen, in ihrem eignen Land angegriffen wurden. Schon nach den Schlachten [* 4] bei Wörth [* 5] und Spichern zeigte sich der ganze Staatsorganismus bedroht. Am 9. Aug. traten die schleunigst berufenen Kammern zusammen; das Ministerium Ollivier wurde sofort gestürzt und der Graf Palikao mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, in welchem er selbst das Präsidium und den Krieg übernahm, und welches übrigens durchaus bonapartistisch war.
Das Ministerium Palikao suchte durch Beschönigung der wirklichen Sachlage die öffentliche Stimmung zu beruhigen und die Dynastie zu retten sowie die Streitkräfte des Landes zu organisieren. Aber die Ereignisse machten durch ihre Schnelligkeit alle diese Bemühungen vergeblich. Die gewaltige Niederlage bei Sedan [* 6] am 1. und die Kapitulation vom 2. Sept. warfen das Kaisertum über den Haufen. Die erbitterte Volksmenge zwang in Paris [* 7] die Kaiserin zur Flucht nach England, drang in den Sitzungssaal des Gesetzgebenden Körpers und nötigte denselben 4. Sept. zur Absetzung Napoleons. Auf dem Stadthaus wurde darauf die Republik ausgerufen und eine provisorische Regierung aus den Pariser Deputierten unter dem Präsidium des Generalgouverneurs von Paris, Trochu, gebildet. Dieselbe nannte sich Regierung der nationalen Verteidigung (Gouvernement de la défense nationale).
Ohne jede Schwierigkeit ward die Republik und ihre Regierung im ganzen Land anerkannt, das längst gewohnt war, sein Losungswort von Paris zu empfangen. Der Minister des Auswärtigen, J. ^[Jules] Favre, erklärte sich zwar zum Abschluß eines Friedens bereit, zugleich aber keinen Zoll des französischen Gebiets und keinen Stein seiner Festungen abtreten zu wollen; lieber werde Frankreich den Kampf bis zum Äußersten fortsetzen. Unter diesen Umständen blieb eine Verhandlung Favres mit Bismarck in Ferrières 19. und 20. Sept. resultatlos.
Allein die Hoffnung auf eine fremde Dazwischenkunft, welche Thiers durch eine Rundreise bei den Großmächten herbeizuführen suchte, schlug fehl, und seit Mitte September war Paris durch die deutschen Heere eingeschlossen. Die französische Regierung blieb trotzdem in Paris, jedoch schlug ein Teil derselben als »Delegation« seinen Sitz in Tours [* 8] auf. Die Seele der republikanischen Regierung wurde bald Léon Gambetta, der, nachdem er sich 6. Okt. in einem Luftballon aus Paris nach Tours begeben hatte, sich zum Diktator Frankreichs aufwarf.
Sein glühender Ehrgeiz, seine fieberhafte Thätigkeit, sein aufrichtiger Enthusiasmus schufen mit Hilfe der großartigen Vaterlandsliebe, Opferfähigkeit und Kriegsbegeisterung, welche das französische Volk auch diesmal bewährte, schon seit Mitte November immer neue zahlreiche Armeen aus dem scheinbar erschöpften Frankreich, das den Widerstand in Paris und den Provinzen noch fünf Monate fortsetzte und schließlich nach den blutigen Kämpfen der Nordarmee bei Amiens, [* 9] Bapaume und St.-Quentin, der Loirearmee bei Orléans [* 10] und Le Mans, [* 11] der Ostarmee bei Belfort, [* 12] endlich der Pariser Armee bei Villiers und am Mont Valérien Ende Januar 1871 mit der Kapitulation von Paris ehrenvoll unterlag.
Die Friedensunterhandlungen brachten eine Spaltung in der Regierung hervor. Während nach Abschluß des Waffenstillstandes die Pariser Regierung die Wahlen zur Nationalversammlung ausschrieb, die über Krieg und Frieden entscheiden sollte, erließ auf Gambettas Betreiben die von Tours nach Bordeaux [* 13] übergesiedelte Delegation 31. Jan. ein Dekret, welches alle notorischen Bonapartisten, ehemaligen kaiserlichen Beamten etc. vom Wahlrecht ausschloß.
Aber die Pariser Regierung hob dieses Dekret auf und erklärte die Vollmachten der Delegation für erloschen, worauf dieselbe zurückzutreten sich genötigt sah. Die Wahlen zur Nationalversammlung gingen 8. Febr. ohne jede Beschränkung vor sich und ergaben eine große Mehrheit von Konservativen, da diese dem Land einen schleunigen Abschluß des Friedens versprachen, nach dem es sich vor allem sehnte. Am 13. Febr. trat die Nationalversammlung (750 Mitglieder) in Bordeaux zusammen, wählte den gemäßigten Republikaner Grévy zu ihrem Präsidenten und, nachdem die Regierung der nationalen Verteidigung ihr Amt niedergelegt, 17. Febr. fast einstimmig den in 20 Departements erwählten Thiers zum Chef der ausführenden Gewalt; er behielt Favre, Picard (für Inneres), Simon und Leflô als Minister und übertrug Dufaure die Justiz, Lambrecht den Handel, Pothuau die Marine, de Larcy die öffentlichen Arbeiten.
Diesem aus verschiedenen Parteien zusammengesetzten Ministerium entsprach sein 19. Febr. entwickeltes Programm, welches baldigsten Abschluß des Friedens und Waffenstillstand zwischen allen Parteien bis zur völligen Befreiung und Wiederherstellung des Landes bedeutete. Am 26. Febr. wurden die Friedenspräliminarien zu Versailles [* 14] abgeschlossen, die freilich mit der Abtretung von drei Departements (Elsaß-Lothringen) [* 15] und der Zahlung von 5 Milliarden Kriegskosten harte Opfer auferlegten, aber von der Nationalversammlung unter ungeheurer Aufregung 1. März mit 546 Stimmen gegen 107 angenommen wurden; zugleich wurde fast einstimmig die Dynastie der Bonaparte für des Throns auf immer verlustig erklärt. Der definitive Friede, der an den Präliminarien wenig änderte, wurde in Frankfurt [* 16] a. M. unterzeichnet. (Ausführlicheres über den deutsch-franz. Krieg s. im Spezialartikel.)
Die Begründung der dritten Republik.
Die Zahl der monarchisch gesinnten Mitglieder in der Nationalversammlung war so groß, daß die Herstellung der Monarchie in Frankreich damals wohl möglich gewesen wäre. Aber weder der Graf von Chambord noch die Orléans besaßen den Mut, das Staatsruder mit fester Hand [* 17] zu ergreifen und die Verantwortung für den von der Nation ersehnten, aber für ihren Stolz so demütigenden Frieden mit Deutschland und für die Unterdrückung der republikanischen Partei zu übernehmen.
Die Prätendenten zogen es vor, diese schwierigen Aufgaben erst durch die interimistische Regierung lösen zu lassen, ehe sie selbst den Thron [* 18] einnahmen, und waren nur darauf bedacht, sich den Weg zu demselben frei zu halten. Die Monarchisten schlossen daher mit den Republikanern in der Nationalversammlung den Pakt von Bordeaux, wonach die Frage der definitiven Regierungsform vorläufig eine offene bleiben solle. Dagegen setzten sie es durch, daß der Sitz der Versammlung nicht nach Paris, sondern nach Versailles verlegt wurde. Hierdurch erweckten sie aber in der aufgeregten Bevölkerung [* 19] von Paris den Argwohn, daß die Herstellung einer reaktionären Monarchie beabsichtigt sei, und so versuchten die Kommunisten, welche schon während der Belagerung zweimal, und sich empört hatten, 18. März einen neuen Aufstand, welcher glückte. ¶
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Die Truppen mußten Paris räumen, wo die Kommune proklamiert wurde. Unter den schwierigsten Verhältnissen unternahm die Regierung von Versailles aus die Wiedererwerbung von Paris, das erst in der letzten Woche des Mai 1871 unter schrecklichen Greueln und den Flammen der von den Kommunisten angezündeten Staatsgebäude von der Armee wieder genommen werden konnte. Hierdurch wuchs das Vertrauen zu Thiers' Geschicklichkeit und Thatkraft. Ende Juni konnte er bereits eine Anleihe von 2½ Milliarden machen, durch deren Bezahlung an Deutschland er einen großen Teil des Territoriums von der fremden Okkupation befreite. Am 31. Aug. wurde der Vorschlag Rivets angenommen, welcher Thiers das Präsidium der Republik auf drei Jahre anvertraute, wenn auch das Recht der Versammlung, dem Land eine neue (monarchische) Verfassung zu geben, ausdrücklich vorbehalten wurde.
Die Erstarkung der republikanischen Partei zeigte sich bei den Nachwahlen, die fast durchweg zu ihren gunsten ausfielen. Die Monarchisten wurden dadurch nicht wenig beunruhigt. Aber sie konnten das Ansehen Thiers' im Ausland und in Frankreich selbst nicht entbehren, solange nicht durch Zahlung der Kriegskosten die Räumung des Landes durch den Feind erreicht und mit der Herstellung der Armee die äußere Sicherheit und die innere Ruhe verbürgt war. Sie mußten sich daher begnügen, in Nebenfragen dem Präsidenten Opposition zu machen und Schwierigkeiten zu bereiten, damit er seiner Abhängigkeit von der Mehrheit der Versammlung stets eingedenk bleibe. Indes setzte in allen wichtigern Fällen, wie der römischen Interpellation, der Frage der Entschädigung für die im Krieg verwüsteten Provinzen, dem Generalratsgesetz, der Auflösung der Nationalgarde, Thiers stets seinen Willen durch die Drohung mit seinem Rücktritt durch und erlangte jedesmal ein Vertrauensvotum.
Die Mittel für die Zahlung der Kriegskontribution wurden schon im Juli 1872 durch eine neue Anleihe von 3 Milliarden beschafft, welche zum Stolz der Franzosen 14mal überzeichnet wurde. Hierdurch ward es möglich, das Ende der Okkupation, welche sich seit dem Frühjahr 1872 nur auf sechs östliche Departements erstreckt hatte, schon im September 1873 herbeizuführen. Allerdings war die Staatsschuld auf 23 Milliarden gestiegen und das Budget mit einem Mehrausgabenbetrag von 600 Mill. belastet.
Die hierfür erforderlichen Einnahmen wurden durch Erhöhung der Zölle auf fast alle Verbrauchs- und Genußmittel, eine Anzahl neuer Steuern und eine hohe Steuer auf Rohstoffe beschafft. Die Reorganisation der Armee wurde in großartigstem Maßstab [* 21] durchgeführt; allerdings wurde das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht nicht streng angewendet und auch die Errichtung provinzieller Armeekorps abgelehnt, da Thiers gegen beides sich aussprach und auf einer Dienstzeit von wenigstens fünf Jahren für die Mehrzahl der Eingezogenen bestand.
Die aktive Armee (die Beurlaubten eingerechnet) wurde aber durch das Organisationsgesetz vom auf 705,000 Mann, die Reserve auf 510,000, die Territorialarmee (Landwehr) auf 532,000, deren Reserve (Landsturm) auf 626,000 Mann festgesetzt; die bewaffnete Macht Frankreichs in einem Krieg belief sich also auf die ungeheure Zahl von 2,423,000 Mann! Die Bewaffnung und Ausrüstung wurde durchweg in bestem Material erneuert. Ferner wurde die Ost- und Nordgrenze durch zahlreiche größere und kleinere Festungen gesichert und Paris mit einem neuen weitern Ring von Forts umgeben.
Die beiden großen Triebfedern eines starken Staatswesens, Finanzen und Heer, waren so von der Regierung wiederhergestellt. Handel und Wandel machten die erfreulichsten Fortschritte. Die Elastizität der französischen Nationalproduktion ertrug die ungeheure Belastung mit indirekten Abgaben (50 Fr. auf den Kopf), ohne erdrückt zu werden; die Einnahmen stiegen von Jahr zu Jahr. Die öffentliche Ruhe wurde nirgends gestört. Unter diesen Umständen verbreitete sich die Überzeugung immer mehr, daß die Republik nicht bloß möglich, sondern sogar die einzig mögliche Regierungsform in Frankreich sei.
Dies war auch die Ansicht Thiers', der einmal mit Recht bemerkte, die Monarchie könne schon deshalb nicht hergestellt werden, weil es wohl drei Prätendenten, aber nur einen Thron gäbe. Indes die Mehrheit der Nationalversammlung opponierte heftig, so oft Thiers die definitive Proklamierung der Republik beantragte, wie namentlich in seiner Botschaft vom Unterstützt von den Ultramontanen, setzten die Monarchisten eine allgemeine Agitation im Land ins Werk und brachten in der Dreißigerkommission, welche für die Beratung der neuen Verfassung gebildet wurde, mehrere Beschlüsse durch, welche die Befugnisse des Präsidenten, namentlich die, in der Versammlung zu sprechen, wesentlich beschränkten und in Bezug auf die Verfassung nur bestimmten, daß die Versammlung sich nicht trennen werde, ohne die Art der Übertragung ihrer Gewalten auf ihre Nachfolger geordnet zu haben.
Diese Beschlüsse wurden im Plenum angenommen. Als die Monarchisten aber weiter verlangten, daß Thiers ein konservatives Ministerium ihrer Partei berufe und sich damit ihnen unterwerfe, führte er selbst durch die Vorlage eines Gesetzes, welches die Konstituierung der Republik betraf den Bruch herbei. Da die Rechte den persönlichen Kredit des berühmten Staatsmanns entbehren zu können glaubte, nachdem die Abzahlung der Kriegsentschädigung und die Räumung des Gebiets geregelt sowie das Gleichgewicht [* 22] im Budget hergestellt waren, so nahm sie den Fehdehandschuh auf und beantwortete jenen Gesetzentwurf 23. Mai mit einem Mißtrauensvotum, worauf nicht bloß das Ministerium, sondern auch Thiers ihre Entlassung einreichten. Noch am Abend wurde Thiers' Entlassung mit 368 gegen 339 Stimmen angenommen und Mac Mahon zum Präsidenten gewählt, der den Führer der Rechten, den Herzog von Broglie, an die Spitze eines reaktionären Ministeriums stellte.
Das Ziel der neuen Regierung war die Herstellung der Monarchie Heinrichs V., des Grafen von Chambord. Die Vorbedingung, die Fusion der Orléans mit dem legitimen Königshaus, wurde verwirklicht durch den Besuch des Grafen von Paris in Frohsdorf (5. Aug.). Schon hatten 22. Okt. die Monarchisten, denen sich auch die Bonapartisten anschlossen, einen Gesetzentwurf vereinbart, der die konstitutionelle Erbmonarchie in der Person Heinrichs V. mit dem Nachfolgerecht der Orléans einführte, als plötzlich Chambord selbst durch seine Weigerung, die Trikolore anzunehmen und sich zu Bedingungen und Bürgschaften zu verpflichten, alle Restaurationsprojekte vorläufig zum Scheitern brachte (27. Okt.). Bei dieser Lage der Dinge vereinigte sich die Rechte mit dem linken Zentrum, den gemäßigten Republikanern, damit wenigstens die konservativen Interessen gerettet würden, dahin, Mac Mahon die Präsidentschaft auf sieben Jahre zu übertragen, aber die Republik durch Festsetzung einer Verfassung zu begründen. Das Septennat wurde beschlossen und ¶
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darauf die Beratung der Verfassungsgesetze in dem Dreißigerausschuß, in dem 25 Monarchisten saßen, begonnen. Da der Streit der Parteien hierbei von neuem entbrannte, so zogen sich die Verhandlungen im Ausschuß und im Plenum ohne Resultat bis zum Herbst 1874 hin, bis der Ausfall der Gemeinderats- und Generalratswahlen zu gunsten der Radikalen und Bonapartisten die Gemäßigten belehrte, daß die Republik schleunigst begründet werden müsse, wenn sie noch einen konservativen Charakter behalten solle.
Endlich Anfang 1875 kamen die Verfassungsgesetze in einer von Ventavon entworfenen Form zur definitiven Verhandlung in der Nationalversammlung und wurden mit einigen Modifikationen, welche die Mittelgruppe unter Wallon beantragte, 25. Febr. mit 425 gegen 252 Stimmen genehmigt. Dieselben bestimmten, daß an der Spitze der Republik ein von beiden Kammern auf sieben Jahre gewählter Präsident stehen, bis 1880 aber Mac Mahon dies Amt bekleiden, und die gesetzgebende Gewalt von zwei Kammern geübt werden sollte, einer aus direkt gewählten Vertretern des Volkes bestehenden Deputiertenkammer von 533 und einem Senat von 300 Mitgliedern, von denen 225 von den Gemeinde-, Arrondissements- und Generalräten auf neun Jahre gewählt, 75 von der Nationalversammlung auf Lebenszeit ernannt, dann durch Wahl des Senats selbst ergänzt werden sollten; die Verfassung sollte in Kraft [* 24] treten und nach Ablauf [* 25] des Septennats revidiert werden dürfen.
Nach Abschluß der Verfassungsberatungen bildete nach dem Rücktritt Cisseys, der im Mai 1874 an Broglies Stelle getreten war, Buffet ein Ministerium aus Vertretern der Mittelparteien, welche die Verteidigung der Prinzipien der Ordnung und der sozialen Erhaltung, die ihr Programm bildete, besonders durch Begünstigung der Ultramontanen zu verwirklichen meinten. Das Unterrichtsgesetz vom überlieferte die Schule fast ganz dem katholischen Klerus. Auch die bonapartistische Partei gewann immer mehr an Macht und Einfluß. Die Liberalen bemühten sich vor allem, die Auflösung der Nationalversammlung zu beschleunigen, und machten daher beim Wahlgesetz für die Deputiertenkammer und beim Gesetz über die Beziehungen der öffentlichen Gewalten zu einander erhebliche Zugeständnisse. Nachdem die 75 Senatoren gewählt waren, wurden die Sitzungen der Nationalversammlung geschlossen, die fünf Jahre hindurch die Geschicke Frankreichs geleitet hatte.
Die Herrschaft der dritten Republik.
Das schwankende und ohnmächtige Verhalten der monarchistischen Mehrheit der Nationalversammlung, besonders ihre stark hervortretenden klerikalen Tendenzen hatten ihr die Masse des Volkes entfremdet. Dies zeigten die Wahlen für die neue Deputiertenkammer, welche stattfanden und 360 Republikaner neben bloß 170 Konservativen ergaben, während aus den Wahlen der 225 Senatoren 30. Jan. noch 120 Konservative hervorgegangen waren. Die Republikaner, an deren Spitze sich jetzt Gambetta stellte, traten überdies sehr gemäßigt auf, während unter den Konservativen die Bonapartisten und Ultramontanen die leitende Stimme hatten.
Diese brachten sofort das Ministerium Dufaure zu Falle und als darauf Jules Simon, der für einen entschiedenen Republikaner galt, ein neues Kabinett bildete, stieg die Flut der klerikalen Agitation im Land immer höher. Dieselbe fand scheinbar bei der Arbeiterbevölkerung Beifall, und dies ermutigte die Führer der Partei, Broglie und Buffet, zu einem energischen Reaktionsversuch. Nachdem Simon das Verlangen der Ultramontanen, für die Freiheit des Papstes gegen Italien [* 26] aufzutreten, unter dem Beifall der Kammern abgelehnt hatte, geriet er wenige Tage darauf wegen einiger Änderungen des Gemeinde- und des Preßgesetzes mit der Mehrheit der Kammern in Konflikt.
Dies nahm der Präsident Mac Mahon zum Anlaß, 16. Mai Simon zu entlassen und ein reaktionäres Ministerium unter Broglie zu berufen, das die Aufgabe hatte, die Befestigung der Republik zu verhindern und die Errichtung einer konservativ-klerikalen Monarchie in der Zukunft möglich zu erhalten, inzwischen aber die Macht der Kirche zu verstärken. Die Kammer wurde 18. Mai vertagt und, nachdem der Senat seine Zustimmung zu ihrer Auflösung erteilt hatte, 25. Juni aufgelöst; die Neuwahlen wurden auf den 14. Okt. festgesetzt.
Obwohl der Minister des Innern, Fourtou, alle Mittel des Kaiserreichs, Absetzung der republikanischen Beamten, Unterdrückung der Presse [* 27] und des Versammlungsrechts, die offiziellen Kandidaturen etc., rücksichtslos anwendete, Mac Mahon selbst seine persönliche Autorität in Manifesten und Reden einsetzte, fielen doch die Wahlen nicht reaktionär aus. Die von Gambetta mit großem Geschick geleiteten Republikaner behaupteten 320 Sitze und siegten auch bei den Generalratswahlen (4. Nov.). Das Ministerium Broglie dankte daher sofort ab, und nachdem der Versuch der Klerikalen, durch das reine Geschäftsministerium Rochebouet die Entscheidung zu verschleppen, von den Kammern mit Hohn zurückgewiesen worden, fügte sich Mac Mahon, da ein Staatsstreich mit Hilfe der Armee keinen Erfolg verbürgte, und berief im Dezember Dufaure wieder an die Spitze der Regierung. Hiermit war der Sieg der Republikaner definitiv entschieden, und ihr Übergewicht befestigte sich immer mehr. Sie machten anfangs von demselben einen bescheidenen Gebrauch, um so mehr, da man den Erfolg der Pariser Weltausstellung 1878 nicht durch Parteistreitigkeiten gefährden wollte. Aber nachdem die Ergänzungswahlen für den Senat, welche stattfanden, auch in dieser Körperschaft eine republikanische Majorität von 177 gegen 121 Mitglieder geschaffen hatten, traten die Republikaner anspruchsvoller auf. Sie verlangten die Beseitigung der klerikalen und monarchistischen Elemente nicht bloß aus der Verwaltung, sondern auch aus den höhern Justiz- und Armeestellen. Dies bewog Mac Mahon, der nur den Klerikalen zuliebe seit seiner Niederlage 1877 im Amt geblieben, seine Entlassung zu fordern. Die Kammern traten sofort zum Kongreß zusammen und wählten mit großer Mehrheit den Präsidenten der Deputiertenkammer, das Haupt der gemäßigten Republikaner, Jules Grévy, zum Präsidenten der Republik auf sieben Jahre. Nachfolger desselben als Kammerpräsident wurde Gambetta. Der gut republikanische, aber streng kirchliche Dufaure fühlte sich nun auch nicht am Platz und überließ Waddington die Führung des Ministeriums.
In der Deputiertenkammer, in welcher sich die Republikaner durch die Nachwahlen nicht unerheblich verstärkt hatten, besaßen fortan die Fraktionen der republikanischen Linken und der Union républicaine, welche man wegen ihrer Anbequemung an die Verhältnisse Opportunisten oder als Anhänger Gambettas Gambettisten nannte, die Oberhand, wurden aber von der äußersten Linken, den Radikalen, mit immer neuen Anträgen auf Bekämpfung der Reaktion und Befestigung der Republik bedrängt, gegen die sie sich ¶
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teils aus Überzeugung, teils um in der Volksgunst von den Radikalen nicht überholt zu werden, meist nachgiebig zeigten. So gaben sie ihre Zustimmung zur Amnestie von 3300 Kommunarden und zur Verlegung des Sitzes der Kammern von Versailles nach Paris, welche im November 1879 erfolgte. Bei der Beratung der vom Unterrichtsminister Ferry vorgelegten Unterrichtsgesetze wurde der Klerus vom Unterrichtsrat ausgeschlossen und allen nicht anerkannten Kongregationen, auch den Jesuiten, die Leitung von Unterrichtsanstalten verboten.
Nun verlangten die Radikalen unbedingte Amnestie für alle Kommunarden und fernere Säuberung des Richterstandes von allen nicht republikanisch gesinnten Personen. Sie beschuldigten die Minister der Unentschlossenheit und des Zauderns, wodurch die Republik gefährdet werde, und wenn Waddington auch wiederholt ein Vertrauensvotum von der Mehrheit erlangte, sobald er die Kabinettsfrage stellte, so war die Haltung der Mehrheit doch eine so unzuverlässige, daß Waddington im Dezember 1879 seine Entlassung nahm und Freycinet an seine Stelle trat.
Auch dieser hatte Mühe, dem ungestümen Drängen der Radikalen Widerstand zu leisten, und erlangte für einige Zeit Ruhe nur dadurch, daß der unerwartete Widerstand des Senats gegen die Ausschließung der nicht erlaubten Orden [* 29] vom Unterricht die Aufmerksamkeit der Radikalen ablenkte. Auf Antrag der Kammer beschloß die Regierung, den vom Senat angefochtenen 7. Artikel aus den Unterrichtsgesetzen zu entfernen, worauf der Senat sie genehmigte, und auf Grund früherer Gesetze gegen jene Orden, namentlich gegen die Jesuiten, vorzugehen.
Durch Dekret vom wurden alle Unterrichtsanstalten der Jesuiten aufgehoben, den übrigen Orden die Einreichung ihrer Statuten befohlen. Kaum aber war dies erreicht, als das Verlangen nach allgemeiner Amnestie erneuert wurde. Grévy und Freycinet sträubten sich dagegen, da sie auch die gemeinen Verbrecher unter den Kommunarden betraf, fügten sich aber, als Gambetta für die radikale Forderung eintrat. Noch vor der ersten Feier des neu eingerichteten Nationalfestes zur Erinnerung an den Bastillesturm (14. Juli) wurde 10. Juli die Amnestie beschlossen und verkündet, die Rochefort, Eudes, Grousset u. a. die Rückkehr nach Frankreich gestattete. Dennnoch ^[richtig: Dennoch] wurde Freycinet im September zum Rücktritt genötigt, weil er mit der Kurie eine Übereinkunft über die Duldung der nicht ermächtigten Kongregationen (außer den Jesuiten) abgeschlossen hatte, die Gambetta nicht billigte. Ferry, der neue Ministerpräsident, übernahm es, durch Auflösung aller nicht erlaubten Mönchsorden die Märzdekrete auszuführen, was er auch mit Energie und unter heftigem Widerstand der auszutreibenden Kongregationen that.
Die Nachgiebigkeit des Präsidenten Grévy gegen die Wünsche der Kammermehrheit, der glänzende Aufschwung des Wohlstandes in Frankreich, welcher eine solche Steigerung der Staatseinnahmen zur Folge hatte, daß man für die Flotte, das Landheer, die neue Befestigung an der Ostgrenze, für den Unterricht, für öffentliche Bauten und Eisenbahnen (1500 Mill.), für Schuldentilgung (1000 Mill.) ungeheure Summen ausgeben und doch die Steuern und Abgaben seit 1876 um mehr als 200 Mill. herabsetzen konnte, endlich die Ohnmacht der monarchistischen Parteien, von denen die der Republik gefährlichste, die bonapartistische, durch den plötzlichen Tod des kaiserlichen Prinzen gelähmt war, verleiteten die Mehrheit der Kammer, die Autorität der Regierung durch Angriffe oder ungebührliche Forderungen immer wieder zu erschüttern. So wurde gleich nach Eröffnung der neuen Session im November 1880 das erste Verlangen des neuen Ministeriums Ferry, daß die weitern Unterrichtsgesetze (Unentgeltlichkeit des Volksunterrichts und Schulzwang) vor der Reform des Richterstandes beraten würden, von der Majorität abgelehnt. Nur mit Mühe konnte Ferry vom Rücktritt abgehalten werden. Die Reform des Richterstandes, bei welcher es darauf abgesehen war, durch Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter auf ein Jahr mit einemmal eine größere Anzahl mißliebiger Richter zu beseitigen, konnte übrigens zunächst nicht vereinbart werden. Von den Unterrichtsreformen scheiterte die Einführung des Schulzwanges am Widerspruch des Senats.
Eine eigentümliche Stellung nahm bei allen diesen Verhandlungen Gambetta ein. Er war der Führer der Majorität, hatte sich aber bisher geweigert, an die Spitze des Ministeriums zu treten. Gleichwohl wollte er den Ministern seinen Willen aufzwingen und mischte sich sogar eigenmächtigerweise in die auswärtige Politik. Sein letztes Ziel war die Präsidentschaft der Republik. Er glaubte diese Machtstellung am sichersten zu erreichen, wenn er sich bei den 1881 bevorstehenden Neuwahlen eine große, unbedingt sichere Mehrheit verschaffte.
Das beste Mittel hierzu schien ihm die Einführung der Listenabstimmung statt der Arrondissementswahlen bei den Deputiertenwahlen zu sein; denn wenn jedes Departement die Deputierten zusammen wählte, konnten die Wahlen besser beherrscht werden und er selbst, in zahlreichen Departements gewählt, als der Erwählte der Nation auftreten. Er beantragte also die Einführung der Listenwahlen in der Kammer und setzte sie auch im Mai 1881, freilich nur mit einer Mehrheit von 8 Stimmen, durch.
Der Senat verwarf sie jedoch. Gleichwohl beherrschte Gambettas 11. Aug. veröffentlichtes Programm die Neuwahlen für die Deputiertenkammer und verschaffte den Republikanern einen glänzenden Sieg. Die Zahl derselben stieg auf 459 Mitglieder, die des Gambettistischen Republikanischen Vereins allein auf 206; die Zahl der Monarchisten sank von 147 auf 88. Jetzt konnte sich Gambetta der Übernahme des Ministeriums nicht länger entziehen. Nachdem Ferry freiwillig zurückgetreten, bildete Gambetta sein Kabinett, »le grand ministère«, wie es seine Anhänger nannten, in dem aber außer dem Präsidenten selbst keine bedeutenden Politiker saßen.
Außer dem glänzenden Sieg seiner Partei bewog auch die auswärtige Politik Gambetta, gerade jetzt an die Spitze der Regierung zu treten. Frankreich hatte in den ersten Jahren nach der Katastrophe von 1870/71 eine leicht begreifliche Zurückhaltung in der europäischen Politik bewiesen und sich ganz der Wiederherstellung seiner Wehrkraft und der Ordnung seiner Finanzen gewidmet. Nicht bloß Thiers, sondern selbst Mac Mahon u. seine reaktionären Minister hatten der Versuchung widerstanden, dem klerikalen Verlangen entsprechend für die Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes einzutreten. Alle Wünsche und Hoffnungen richteten sich auf die Revanche, auf die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens, während man sich den Anschein gab, als müsse man einen neuen Eroberungskrieg des unersättlichen Preußen [* 30] fürchten und für diesen Fall sich rüsten. Da man indes auf den glücklichen Ausgang eines nur mit eigner Kraft geführten Kriegs gegen Deutschland nicht rechnen zu dürfen glaubte, so setzte man sein Vertrauen auf ¶
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eine Koalition gegen das neue, wie man hoffte, auch bei den andern Völkern verhaßte Deutsche Reich, [* 32] besonders auf die Hilfe Rußlands. Decazes, welcher 1873-77 die auswärtige Politik Frankreichs leitete, war unablässig bemüht, eine solche günstige Konstellation vorzubereiten. Die Friedensliebe des deutschen Kaisers und Volkes, die Wachsamkeit und Umsicht Bismarcks vereitelten freilich alle französischen Pläne und Hoffnungen, und nach Decazes' Rücktritt trat eine Wendung in der auswärtigen Politik ein.
Indem man sich den Revanchekrieg für die Zukunft vorbehielt, beschloß man die Wahrung der französischen Interessen auf andern Gebieten, namentlich im Orient und im Mittelmeer, nicht zu versäumen. Der auswärtige Minister Waddington vertrat selbst Frankreich 1878 auf dem Berliner Kongreß [* 33] und sicherte sich hier die Zustimmung Englands und Bismarcks zu dem Plan, Tunis [* 34] in den französischen Machtbereich zu ziehen. Auch in Ägypten [* 35] wahrte die Regierung Frankreich neben England einen maßgebenden Einfluß bei der Kontrolle der Finanzen.
Einer aktiven Politik standen nun freilich manche Bedenken entgegen. Viele Franzosen wollten sich nicht in auswärtige Unternehmungen einlassen, welche Bismarck benutzen könne, um über das wehrlose Frankreich herzufallen oder andre Mächte gegen dasselbe zu hetzen. Erst als die Italiener in Tunis sich mehr und mehr festsetzten, beschloß Ferry 1881, zu handeln. Räubereien, welche der Tunis unterthänige Stamm der Krumir an der Grenze von Algerien verübt haben sollte, gaben den erwünschten Vorwand, den Einmarsch französischer Truppen in Tunis zu befehlen.
Diese nötigten dem Bei einen Vertrag auf, der Tunis unter die französische Schutzherrschaft stellte. Allerdings erforderte der Widerstand der Bevölkerung eine Verstärkung [* 36] der Truppenmacht und einen Feldzug in das Innere, indes vor Ende des Jahrs war das Land unterworfen, und die Organisation desselben wurde sofort begonnen, worüber ein neuer Vertrag mit dem Bei abgeschlossen ward (s. Tunis). Gambetta glaubte jetzt (Januar 1882) den Augenblick gekommen, durch eine kräftige Aktion in Gemeinschaft mit England in Ägypten, wo der Aufstand Arabi Paschas ausgebrochen war (s. Ägypten), eine enge und feste Allianz mit diesem Reich anzuknüpfen und hierdurch sowie durch Verbindung mit den russischen Panslawisten Frankreich einen Rückhalt zu verschaffen, der ihm den ersehnten Revanchekrieg ermögliche.
Indes die Weigerung des englischen Kabinetts, schon jetzt zu einer bewaffneten Intervention in Ägypten zu schreiten, vereitelte seine Pläne, und da gleichzeitig die Kammer sich den von ihm beantragten Verfassungsänderungen, namentlich der von neuem vorgelegten Listenabstimmung, widersetzte, ja bei deren Ablehnung mit 305 gegen 119 Stimmen ihre Abneigung gegen eine persönliche Diktatur, wie Gambetta sie erstrebte, offen kundgab, so nahm Gambetta, der gefeierte Volkstribun, schon seine Entlassung.
Das neue Ministerium Freycinet beschloß die Verfassungsrevision zu vertagen, dagegen eine Dezentralisation der Verwaltung vorzunehmen und die Ordnung der Finanzen herzustellen, welche durch das allzu große Vertrauen der Republikaner auf die unerschöpflichen Hilfsquellen des Staats, infolgedessen man die Ausgaben übermäßig gesteigert und neue Anleihen aufgenommen hatte, gefährdet worden war. Indes von alledem vermochte das Ministerium nichts zu stande zu bringen (nur die Annahme des Schulzwangsgesetzes im Senat erreichte es), denn es wurde schon im Juli wieder gestürzt.
Während die Monarchisten und Radikalen dasselbe prinzipiell und offen bekämpften, spannen die Gambettisten aus Neid und Eifersucht allerlei Ränke gegen Freycinet. Nachdem sie in innern Fragen eine Mehrheit gegen ihn zu bilden vergeblich versucht hatten, bewirkten sie 29. Juli, daß der von Freycinet verlangte Kredit zur Beschützung des Suezkanals verweigert wurde, obwohl Gambetta kurz vorher Freycinet seine Zurückhaltung in der ägyptischen Politik vorgeworfen und eine energische Aktion gefordert hatte. Die Folge war, daß das Ministerium Freycinet zurücktrat, ohne daß sofort ein neues gebildet werden konnte, und daß inzwischen England sich allein der Gewalt in Ägypten bemächtigte und Frankreich aus der Finanzkontrolle verdrängte. Duclerc, der am 7. Aug. das Präsidium des neuen Kabinetts übernahm, vermochte das nicht zu hindern. Seine Regierung dauerte übrigens nicht lange. Der Tod Gambettas rief einige Demonstrationen der monarchistischen Prätendenten hervor.
Die Linke verlangte sogleich die Ausweisung aller Mitglieder der Familien, die früher in Frankreich geherrscht hatten. Da das Ministerium Duclerc nicht darauf eingehen wollte, nahm es seine Entlassung, und in der darauf eintretenden Verwirrung kam nur ein provisorisches Kabinett unter Fallières zu stande. Auch dieses vermochte nicht, Senat und Kammer zu übereinstimmenden Beschlüssen über ein Prätendentengesetz zu bewegen, und machte 21. Febr. einem Ministerium Ferry Platz.
Ferry beschwichtigte die Aufregung über die Prätendenten dadurch, daß er alle Prinzen des Hauses Orléans durch Dekret des Präsidenten ihrer militärischen Stellen entsetzte, und wurde von der Kammer wenig angefochten, weil die republikanische Mittelpartei doch einsah, daß der fortwährende Ministerwechsel nicht bloß die Autorität der Regierung, sondern den Bestand der Republik selbst gefährden könne. So wurde denn die Konversion der 5proz. Rente in eine 4½proz. zu stande gebracht und die Gerichtsreform dadurch erledigt, daß dem Justizminister Vollmacht erteilt wurde, die Zahl der Richter um 614 Stellen zu vermindern und dem entsprechend 614 der Regierung mißliebige Richter durch Pensionierung zu beseitigen. Da Ferry sich bis 1885 behauptete, so konnte er auch noch die Annahme des Ehescheidungsgesetzes bewirken.
Den Radikalen machte er das Zugeständnis, daß er eine Verfassungsrevision beantragte, welche die Senatswahlen anders regelte und das Verhältnis der Gewalten zu einander bestimmter festsetzte; dieselbe wurde nach langen leidenschaftlichen Verhandlungen vom Kongreß im August 1884 genehmigt. Die Finanzen bereiteten wegen des Daniederliegens der Geschäfte und des Rückganges der Staatseinnahmen Schwierigkeiten, und die Budgetverhandlungen zogen sich 1884 so lange hin, daß das Budget nicht rechtzeitig festgestellt wurde. Dennoch kam das herrschende System nicht in Gefahr, da die monarchistischen Parteien durch den Tod des Grafen Chambord, das kleinliche, feige Verhalten der Orléans und die Desorganisation der Bonapartisten zur Ohnmacht verurteilt waren und die Anarchisten, die Nachfolger der Kommunarden von 1871, nur in Paris und Lyon [* 37] Bedeutung hatten. Daß Ferry schließlich doch zu Falle kam, hatte seinen Grund in der Kolonialpolitik.
Nachdem Tunis gewonnen war, richtete Frankreich seine Blicke auf seine übrigen Kolonien in den fremden Erdteilen. Nachdem 1880 Tahiti [* 38] und 1881 die Mangarewainseln in der Südsee annektiert worden waren, schritt ¶
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die Regierung dazu, durch den Bau einer Eisenbahn in Senegambien und durch die Brazzasche Expedition im Congogebiet dem französischen Handel neue Gebiete in Westafrika zu erschließen, ferner Madagaskar [* 40] (s. d.) ganz der Herrschaft Frankreichs zu unterwerfen. Von besonderer Wichtigkeit war der Beschluß, die Besitzungen in Ostasien durch die Erwerbung Tongkings (s. d.) zu erweitern und die Bildung eines großen hinterindischen Reichs vorzubereiten. Indes verwickelte Challemel-Lacour, der zuerst unter Ferry die auswärtigen Angelegenheiten leitete, durch Ablehnung des Bouréeschen Vertrags, welcher eine friedliche Verständigung mit China [* 41] über Hinterindien [* 42] ermöglicht hätte, in einen förmlichen Krieg zunächst mit den chinesischen Söldnerbanden in Tongking, [* 43] dann mit China selbst. 1884 brachte Ferry einen neuen Vertrag mit China in Tiéntsin zu stande, nach welchem letzteres Tongking zu räumen und Anam der Schutzherrschaft Frankreichs zu überlassen versprach.
Die Voreiligkeit eines Kommandeurs bei der Besetzung Langsons führte aber zu einem blutigen Zusammenstoß mit den chinesischen Truppen bei Baclé der die öffentliche Meinung in in die höchste Aufregung versetzte. Mit Zustimmung der Kammern schritt die französische Regierung nach der Ablehnung ihrer übermäßigen Entschädigungsforderung (250 Mill.) zu Repressalien gegen China und ließ das Arsenal und die Schiffe [* 44] im Hafen von Futschou zerstören sowie das nördliche Formosa besetzen.
Die Eroberung Tongkings wurde, allerdings mit Aufbietung bedeutender Streitkräfte, fast vollendet. Um einen großen Teil des Heers in Asien [* 45] verwenden zu können, mußte Frankreich sich in Europa [* 46] einen Rückhalt verschaffen. Das Bündnis mit England war durch dessen rücksichtsloses Verhalten in der ägyptischen Frage für immer zerrissen. Ferry trug daher kein Bedenken, sich mit den mitteleuropäischen Mächten über die Streitfragen der europäischen Politik zu verständigen und sogar zum Deutschen Reich ein gutes Verhältnis herzustellen.
Die deutsche Regierung war so gemäßigt, ja großmütig, daß sie, der wiederholten Herausforderungen der französischen Revanchepartei, besonders der Insulten, mit welchen der Pariser Pöbel 1883 aus Haß gegen Deutschland Alfons XII. von Spanien [* 47] beleidigte, nicht achtend, in der ägyptischen Frage mit Frankreich Hand in Hand ging und eine Vereinigung der Kontinentalmächte gegen England bewirkte, welche Frankreich sehr zu statten kam. In chauvinistischen Kreisen wurde diese Annäherung an Deutschland ebenso beklagt wie die Schwächung der Revanchearmee durch die nach Tongking gesandten Truppen, und es bedurfte nur eines übrigens nicht bedeutenden Mißgeschicks der französischen Armee vor Langson (März 1885), um eine leidenschaftliche Aufwallung gegen das Ministerium Ferry, dem mit einemmal alle Verantwortung aufgebürdet wurde, in der Kammer hervorzurufen, durch die Ferry 30. März gestürzt wurde. Die Hast, mit der dies geschah, war um so weniger gerechtfertigt, als Ferry bereits den Frieden mit China angebahnt hatte. Die Präliminarien desselben wurden 4. April abgeschlossen und verpflichteten China zur Räumung Tongkings und zum Verzicht auf die Oberhoheit über Anam, wogegen Frankreich jeden Anspruch auf Kriegskostenentschädigung aufgab. Der definitive Friede ward 9. Juni Tiëntsin unterzeichnet.
Dem neuen Ministerium Brisson, das 6. April die Geschäfte übernommen hatte, wurde hierdurch die Fortsetzung der bisherigen Kolonialpolitik bedeutend erleichtert; denn es konnte dem Land eine erhebliche Verminderung der in Ostasien verwendeten Streitkräfte und demgemäß auch der Kosten in Aussicht stellen, und in Rücksicht hierauf bewilligten die Kammern auch einen Kredit von 150 Mill. zur Deckung der bisherigen Ausgaben. Vor allem aber widmete sich Brisson den innern Angelegenheiten.
Das bisherige Wahlsystem, nach welchem die Deputierten nach Arrondissements gewählt wurden, hatte nach seiner Meinung den Nachteil, daß die Abgeordneten im Interesse ihrer Wahlkreise sich zu viel in die Verwaltung einmischten, daß ferner die Zersplitterung der Republikaner in mehrere Fraktionen dadurch befördert wurde, während das Wohl des Landes eine ständige, zuverlässige Majorität gemäßigter Republikaner oder Opportunisten erforderte. Diese glaubte die Regierung am besten durch Einführung des Listenskrutiniums (s. oben), nach welchem die Deputierten departementsweise gewählt werden, erreichen zu können, und die Kammern schlossen sich dieser Ansicht an, indem sie den von dem Ministerium vorgelegten Gesetzentwurf, der für die Zukunft die Listenwahl vorschrieb, annahmen.
Hierauf ward die Session der Kammern 6. Aug. geschlossen und der Termin der Neuwahlen für die Deputiertenkammer auf den 4. Okt. festgesetzt. Man rechnete sicher auf eine erhebliche Verstärkung der ministeriellen Mehrheit. Da aber der Friede mit China die Schwierigkeiten in Hinterindien nicht beseitigte, vielmehr in Anam ein Aufstand ausbrach, zahllose Christen ermordet wurden und der französische General Courcy nur mit Mühe Hue behauptete; da ferner der bedenkliche Stand der Finanzen durch fortgesetzte Steigerung der Ausgaben bei Verminderung der Einnahmen und die trübe Geschäftslage dem Volk immer deutlicher zum Bewußtsein kamen; so ergaben die Wahlen vom 4. Okt. das für die Opportunisten niederschmetternde Resultat, daß 177 konservative und nur 127 republikanische Deputierte gewählt wurden, 270 Wahlen unentschieden blieben.
Durch die verzweifelten Anstrengungen der Republikaner bei den Stichwahlen (18. Okt.) wurde nun zwar bewirkt, daß nur noch 26 Konservative, dagegen 246 Republikaner gewählt wurden, obwohl die erstern bei beiden Wahlen zusammengerechnet 3½ Mill., die Republikaner nur 4½ Mill. Stimmen bekamen. Die Republikaner hatten zwar noch die Mehrheit, aber nicht mehr die Opportunisten, da 105 Radikale gewählt waren. Die Lage der Regierung hatte sich also verschlechtert. Dies zeigte sich in der neuen Session der Kammer, welche 10. Nov. begann, sofort bei der Entscheidung über die für Tongking und Madagaskar wieder nötig gewordenen Kredite. Obwohl die republikanische Mehrheit die Wahlen von 22 Konservativen wegen klerikaler Wahlumtriebe für nichtig erklärt hatte, obwohl ferner noch in letzter Stunde ein günstiger Friedensvertrag mit Madagaskar (s. d.) zu stande gebracht worden, wurden die Kredite 24. Dez. nach langen Verhandlungen nur mit einer Mehrheit von vier Stimmen bewilligt.
Brisson wartete daher nur ab, bis Grévy 28. Dez. für eine neue Periode von sieben Jahren zum Präsidenten der Republik gewählt worden war, um seine Entlassung einzureichen. Nun bildete Freycinet aus den verschiedenen Gruppen der Linken ein neues Ministerium, das anfangs wenigstens die Unterstützung aller Republikaner fand. Dasselbe setzte sich besonders die Organisation der Schutzherrschaften in den Kolonien und die Herstellung des Gleichgewichts im Budget zum Ziel. Denn die Einnahmen blieben beständig hinter dem Voranschlag zurück, und die außerordentlichen Ausgaben verminderten sich trotz aller Versprechungen ¶