Über basische Kupferacetate s.
Grünspan. Essigsaures
Natron NaC2H3O2 wird im großen dargestellt,
indem man destillierten
Holzessig mit kohlensaurem
Natron neutralisiert. Hierbei und beim
Verdampfen der Salzlösung scheiden
sich viele teerartige
Produkte ab. Das gewonnene rohe
Salz
[* 4] wird umkristallisiert, entwässert und geschmolzen,
um die empyreumatischen
Stoffe vollständig zu zerstören, dann in
Wasser gelöst, wenn nötig, über
Knochenkohle filtriert
und abermals zur
Kristallisation gebracht.
Annette von, Klavierspielerin, geb. zu
Petersburg,
[* 6] erhielt ihre musikalische
Ausbildung am dortigen
Konservatorium unter
Leschetitzki, mit dem sie seit 1880 vermählt ist, trat zuerst in ihrem Vaterland
auf und
bewährte sich von 1875 an auch auf Konzertreisen in den Hauptstädten
Europas wie in
Amerika
[* 7] als eine der hervorragendsten
Konzertspielerinnen der Gegenwart. 1885 wurde sie zur königlich preußischen Hofpianistin ernannt.
Leidenschaftlichkeit
und poetische Auffassung sind Vorzüge ihres
Spiels.
Später pensioniert, gastierte er mit Beifall auf allen namhaftern
BühnenDeutschlands.
[* 19] Er starb auf einer Kunstreise
in Mühlau bei
Innsbruck. Eßlair war zum Heldenspieler geboren. Seine Heroengestalt, sein überaus klangvolles, biegsamesOrgan,
sein sprechendes
Auge
[* 20] und sein lebhaftes Mienenspiel kamen ihm ebensosehr zu statten wie
Phantasie und warme
Empfindung. Er
war gewaltig und traf instinktiv das
Richtige, solange er als Naturalist wirkte; leider verleitete ihn Beifallssucht später
zu Effekthascherei. Seine Glanzrollen waren:
KarlMoor,
Tell,
Wallenstein,
Macbeth,
Lear u. a.
[* 1] Stadt und Oberamtssitz im württemberg.Neckarkreis, 234 m ü. M., ehemals freie Reichsstadt,
am
Neckar und an der Hauptbahn
Württembergs (Bretten-Friedrichshafen) in lieblicher, fruchtbarer und volkreicher Gegend gelegen,
ist von
Weinbergen und
Gärten umkränzt, teilweise auch von starken
Mauern mit
Türmen und
Thoren umgeben und besteht aus der
innern Stadt und mehreren Vorstädten. Über der Stadt thront die alte
Burg, die ihre
Mauern bis zur Stadt
herunter erstreckt.
Die eigentliche Stadt hat enge, unregelmäßige
Straßen und viele alte, unansehnliche
Häuser, doch ein altes
Rathaus (von
1430), ein neues
Rathaus (von 1742, früher
Schloß) und 3
Kirchen: die spätromanische zweigetürmte Dionysiuskirche (aus dem 13. Jahrh.)
und die im 15. Jahrh. erbaute und gegenwärtig restaurierte schöne gotische
Liebfrauenkirche mit einem 75 m hohen, kühn und leicht emporstrebenden durchbrochenen
Turm,
[* 22] dem schönsten
Schmuck von Eßlingen, außerdem
eine kath.
Kirche. Von der
Kirche St.
Georg steht nur noch das
Chor als
Ruine da. Mehrere ehemalige Klostergebäude dienen jetzt
zu gemeinnützigen
Zwecken. Eßlingen ist Sitz eines Amtsgerichts, hat ein
Lyceum (früher
Pädagogium), eine
Realschule,
ein Schullehrerseminar, eine Taubstummenschule, ein reiches
Hospital (1233 gestiftet), ein
Haus derBarmherzigkeit, ein israelitisches
Waisenhaus, ein besonders für die Reformationszeit
wichtiges Archiv, eine Wasserleitung
[* 25] (seit 1876) u. mit den Filialen (1885) 20,851 Einw. (darunter ca. 1400 Katholiken und 170 Juden),
im engern Sinne nur 16,691 Einw. Das Gewerbs- und Fabrikleben der Stadt ist bedeutend. Sie besitzt
die größte Maschinenfabrik des Landes (1500 Arbeiter), außerdem Kammgarn- und Baumwollspinnerei, eine große lithographische
Anstalt, Fabriken für feine Holzwaren, Handschuhe, Plaqué und lackierte Blechwaren, Tuch, Knöpfe, Gold- und Silberwaren etc.,
mechanische Werkstätten.
Wie die Gewerbe, so blühen auch der Obst- und Weinbau. Allbekannt sind die moussierenden Neckarweine von Eßlingen (Eßlinger Champagner);
die Keßlersche Fabrik besteht, als die erste inDeutschland,
[* 26] seit 1826. Zu der Gemeinde Eßlingen gehören noch
viele Orte in weiterm Umkreis mit gutem Obst- und Weinbau, darunter Mettingen am Neckar mit einer großen Baumwollspinnerei,
Kennenburg mit Irrenheilanstalt, Rüdern mit schöner Aussicht vom Wartturm, das ehemalige Kloster, jetzt königl. Lustschloß
und Hofdomäne, Weil mit königlichem Privatgestüt und Viehzucht.
[* 27] - Eine Kapelle des heil. Vitalis, die
schon 784 erwähnt wird, gab dem Ort Eßlingen (Ezzilinga, Ecelinge) seine Entstehung.
Schon 886 erhielt derselbe die Marktgerechtigkeit und wurde dadurch zur Stadt erhoben. 1077 erscheint Eßlingen bereits
als bedeutende Stadt und wurde 1209 durch Otto IV. freie Reichsstadt, von KaiserFriedrich II. 1215 mit Mauern umgeben. Die
Stadt erwarb 1403 die Vogtei und wurde durch den sich entwickelnden Handel immer blühender. Doch besaßen die Grafen von Württemberg
[* 28] das Reichsschultheißenamt daselbst und dadurch großen Einfluß auf die Regierung der Stadt, was Anlaß zu vielen Fehden gab. 1331 bildete
sie mit andern Reichsstädten den Schwäbischen Städtebund und leistete Eberhard dem Greiner hartnäckigen
Widerstand.
Erst unter Eberhard im Bart stellte sich Eßlingen 1473 unter den SchutzWürttembergs. Im J. 1488 wurde zu der SchwäbischeBund zur
Aufrechthaltung des Landfriedens errichtet. Die Reformation fand daselbst 1531 durch den vom Rat berufenen AmbrosiusBlarer von
Konstanz
[* 29] Eingang. Die Verfassung der Stadt, welche seit dem 13. Jahrh. eine gemäßigt-demokratische
gewesen war, erhielt durch Karl V. 1552 aristokratische Form. Am kam es hier zu einem Treffen zwischen den Franzosen
unter Moreau und den siegreichen Österreichern, welche den Neckar zu verteidigen suchten. Im J. 1802 fiel Eßlingen nebst seinem
Gebiet (90 qkm) mit vier Dörfern und 10,000 Einw. an Württemberg.
Vgl. Pfaff, Geschichte der Reichsstadt
Eßlingen (Eßling. 1852).
Schulmeister von, mittelhochdeutscher Dichter, von dessen Liedern und Sprüchen die Pariser (Manessische) Sammlung
mehrere aufbewahrt hat, lebte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. und ist vielleicht der
in einer Urkunde von 1280 vorkommende »Magister Henricus, rector scholarum in Ezzelingen«.
(span.), in den La Plata-StaatenName der ausschließlich zur Viehzucht bestimmten Grundbesitzungen, deren Besitzer
Estanciēros heißen (in den Llanos heißt eine Estancia gewöhnlicher Hato).
eins der ältesten und berühmtesten Fürstenhäuser Italiens,
[* 42] welches schon früh den markgräflichen Titel führte.
So erscheint zu Anfang des 11. Jahrh. ein MarkgrafHugo von der nach dem Tode des KaisersHeinrich II. die
Herrschaft über
¶
Lionel, Sohn und Nachfolger des vorigen, unterstützte Handel und Gewerbe sowie besonders das neuerwachte Studium der alten
Litteratur und stand mit den bedeutendsten GelehrtenItaliens in Briefwechsel. Er starb -
Alfons I., Sohn und Nachfolger des vorigen, als Feldherr und Staatsmann ausgezeichnet und von den Dichtern, namentlich Ariosto,
hochgefeiert, war in zweiter Ehe mit Lucrezia Borgia vermählt. 1509 trat er der Liga von Cambrai bei, ward
vom PapstJulius II. zum Gonfaloniere der römischen Kirche ernannt und kämpfte mit Glück gegen die Venezianer. Als er sich aber
weigerte, sich mit dem PapstJulias II. von der Liga loszusagen, sprach dieser den Bann über ihn aus und erklärte
ihn seines Herzogtums Ferrara und aller von der Kirche empfangenen Lehen für verlustig; auch Modena ging ihm verloren. Auch
Julius' Nachfolger Leo X. weigerte sich, ihm die StädteModena und Reggio zurückzugeben, versuchte sogar mitten im Frieden (1519)
sich Ferraras zu bemächtigen, und erst nach der EroberungRoms 1527 ließ ihm Karl V. seine frühern Besitzungen
wieder einräumen und bestätigte die Hoheitsrechte seines Hauses; Alfons starb -
Alfons II., Sohn des vorigen, liebte ebenfalls Künste und Wissenschaften, aber noch mehr Glanz und Pracht,
machte, von unbegrenztem Ehrgeiz verführt, mehrere kostspielige, aber vergebliche Versuche, die KronePolens zu erlangen, ließ
den Dichter Tasso sieben Jahre im Kerker schmachten; starb kinderlos. Der von ihm zum Nachfolger bestimmte Cäsar,
sein Vetter, Sohn eines natürlichen SohnsAlfons' I., ward zwar vom Kaiser im Besitz der Reichslehen Modena
und Reggio bestätigt, aber vom PapstClemens VIII. nicht anerkannt, der daher Ferrara und die übrigen päpstlichen Lehen als
eröffnete einzog. Auf Cäsars (gest. 1628) Sohn Alfons III., der in einem Kapuzinerkloster in Tirol
[* 55] sein Leben beschloß, folgten
als ruhmlose RegentenFranz I., Sohn Alfons' III. (gest. 1658), Alfons IV. (gest. 1662), Franz II. (gest.
1694). -
Rinaldo, durch das Aussterben der ältern Linie auf den Herzogsstuhl von Modena gerufen, vermählte sich mit CharlotteFelicitas
von Braunschweig, einer Tochter des Herzogs von Hannover, wodurch die beiden seit 1070 getrennten Zweige des Hauses Este wieder
vereinigt wurden. Als Verwandter Josephs I. trat er während des spanischen Erbfolgekriegs in ein Bündnis
mit Österreich,
[* 56] mußte vor den Franzosen nach Bologna fliehen, wurde zwar 1707 durch die kaiserliche Armee wieder eingesetzt,
mußte aber 1734 abermals den französischen Waffen
[* 57] weichen und starb -
dem erzbischöflichen Gericht annulliert. Dessen ungeachtet betrachtete der HerzogLadyAugusta als seine Gemahlin, und diese
gebar noch eine Tochter, AugustaEmma. Erst später trennten sich die Ehegatten; ihre beiden Kinder erhielten den
Stammnamen d'E., die Mutter ward zur hannöverschen Gräfin erhoben, nahm 1806 den Titel d'Ameland an und
genoß eine Jahresrente von 4000 Pfd. Sterl.; sie starb in Rom. Als dem Herzog von Sussex sich nach und nach Aussichten
auf die Thronfolge eröffneten, nahm AugustusFrederick von der unterdes Oberst geworden war, die Rechte eines legitimen Kindes
und somit die Würde eines Prinzen von Großbritannien
[* 62] und Hannover in Anspruch.
Die Frage war von Wichtigkeit, denn die ältern SöhneGeorgs III. waren kinderlos gestorben, der Herzog von Kent hatte nur eine
Tochter (die jetzige KöniginViktoria von Großbritannien) und der Herzog von Cumberland, der als ErnstAugust den Thron
[* 63] von Hannover
bestiegen hatte, nur einen Sohn, der kaum Nachkommen erwarten ließ. Nachdem einige englische Schriftsteller
die Frage beleuchtet hatten, traten Klüber (»Abhandlungen für Geschichtskunde etc.«,
Bd. 2, Frankf. 1834) und Zachariä (Heidelb. 1834) für den Obersten von Este, Schmid in Jena
[* 64] (Jena 1835) und Eichhorn (Berl. 1835)
gegen ihn auf. BeimTode des Herzogs von Sussex 1843 kam die Frage von neuem zur Sprache,
[* 65] doch wurde der Oberst
auf Grund des königlichen Ehegesetzes mit seiner Klage abgewiesen. Er starb unverheiratet seine Schwester vermählte
sich 1845 mit SirThomas Wilde, späterm LordTruro, der 1855 starb; sie selbst starb kinderlos
Hafen- und Bezirksstadt in der span. ProvinzMalaga,
[* 70] am Fuß der Sierra Bermeja, mit (1878) 9994 Einw.,
welche Fischfang, Obst-, Wein- und Zuckerrohrbau, ferner Korkwarenerzeugung treiben.
s. v. w. zusammengesetzte Äther, z. B. Essigsäure-Äthyläther. ^[= (Acetylsäure) C2H4O2 findet sich in der Natur teils frei, teils an Basen gebunden im Saft vieler ...]
vonGalantha (spr. -hasi), eins der mächtigsten und reichsten Adelsgeschlechter
Ungarns,
das seinen sagenhaften Ursprung von Estoraz, angeblichem Abkömmling Attilas, der um 969 in der Taufe den NamenPaul
erhalten haben soll, ableitet. 1238 teilte sich die Familie in die beiden Linien Zerház und Illesházy, welch letztere 1838 mit
dem GrafenStephan im Mannesstamm erlosch. Die erstere erwarb sich 1421 durch DiplomKaiserSiegmunds die
Herrschaft Galantha im PreßburgerKomitat.
Die Nachkommen Franz' IV. stifteten 1594 die drei noch bestehenden Linien: Csesznek, Zolyom oder Altsohl und Fraknó oder Forchtenstein,
welche im 17. Jahrh. in den Reichsgrafenstand erhoben wurden. Der Begründer der Bedeutung
des Hauses ist Nikolaus, Stifter der Hauptlinie Forchtenstein (geb. 1582, gest.
1645), PalatinUngarns und der berühmteste Staatsmann unter der Legitimisten- und Katholikenpartei. Die Linie Fraknó teilte
sich wieder in die von Papa und von Fraknó, welch letztere von KaiserLeopold I. 1687 die reichsfürstliche Würde erhielt.
Durch die Erwerbung der Herrschaft Edelstetten in Franken wurde der Fürst 1804 Reichsstand, doch kam 1806 die
Grafschaft unter bayrische Hoheit. Das gräfliche Haus Esterházy besteht jetzt aus drei Linien: Forchtenstein, aus der LiniePapa, Hallewyl
und Altsohl. Die namhaftesten Glieder
[* 71] der Familie sind:
Aus der gräflichen Linie Esterházy von Galantha-Forchtenstein ist zu nennen Moritz, Graf von Esterházy, geb. 1807, österreichischer Diplomat, war
bis 1856 österreichischer Gesandter in Rom, trat 1861 ohne Portefeuille in das KabinettSchmerling und war auch Mitglied des 1865 gebildeten
MinisteriumsBelcredi. Er gilt als eine Hauptstütze der klerikal-feudalen Reaktionspartei am WienerHof.
Est,Est, guter Muskatellerwein von Montefiascone am SeeBolsena, verdankt seinen Namen folgender
von W. Müller dichterisch behandelten Anekdote: Auf einer Reise gab der Bischof Joh. v. Fugger seinem Diener den Auftrag, vorauszugehen
und an jede Schenke, wo er guten Wein finde, Est anzuschreiben. In Montefiascone fand der Diener den besten und schrieb deshalb
Est, Est, Est! an. Der Bischof trank sich tot und erhielt von seinem Diener die Grabschrift: »Est, est,
est! propter nimium Est hic Joannes de Fugger dominus meus mortuus est«, die sich noch in der KircheSan Flavinio daselbst vorfindet.
Sie trieben von jeher mehr Ackerbau als irgend ein andrer ihrer bloß jagenden und fischenden Bruderstämme,
gehörten aber auch zu den berüchtigtsten Seeräubern der Ostsee, bis die Dänen und später die Deutschen sie unterjochten
und für mehrere Jahrhunderte ausschließlich auf die Beschäftigungen des Ackerbaues, der Viehzucht, des Fischfanges und einer
wenig entwickelten bäuerlichen Hausindustrie verwiesen. Sie wurden durch freiwilligen Beschluß der deutschen
liv- und esthländischen Ritterschaft 1816 und 1819 von der Leibeigenschaft, in den letzten Jahrzehnten allmählich auch vom
Frondienst und von der Bevormundung durch die Gutsherren befreit und sind in jüngster Zeit bei immer zunehmendem Wohlstand
vielfach in den Besitz selbständiger Höfe und selbst Rittergüter gelangt.
Von den Russen werden die Esthen Tschuchni oder Tchuchonzi (»Fremdlinge«),
von den Letten, ihren südlichen Nachbarn, Iggauni (»Vertriebene«, mit Anspielung darauf, daß die Esthen von den Letten weiter
nach N. hinaufgedrängt wurden),
von den Finnländern Wirolaiset (»Grenzländer«) genannt. Sie selbst nennen
sich Tallopoëg (»Sohn der Erde«) oder auch Maamees (»Mann des Landes«). Während einer 600jährigen Sklaverei
hat das Volk der Esthen ungeachtet der endlich überall durchgedrungenen Lehre
[* 84] des Christentums und der steten Berührung mit den
Deutschen dennoch im großen und ganzen seine ursprüngliche Nationalität, Körperbildung, Sprache, Gesinnung, Tracht, Wohnung,
Lebensweise und seine Sitten reiner und unveränderter bewahrt als irgend eine andre europäische Völkerschaft, und
während die Unterjochung der Letten den Deutschen im ganzen nicht schwer wurde, dauerten die Kämpfe mit den Esthen ungemein lange
und waren sehr blutig.
Noch gegenwärtig ist das Mißtrauen der Esthen gegen die Deutschen, ihre einstmaligen Unterdrücker, nicht völlig geschwunden,
wiewohl die deutsche Ritterschaft schon seit geraumer Zeit und nicht ohne sichtlichen Erfolg durch verbesserte
Seelsorge, Stiftung von Schulen und andern Instituten, wie z. B. der Bauernrentenbank, auf ein weit besseres Einvernehmen zwischen
der Landbevölkerung und den »Herren« (saksad, d. h. Sachsen) hingewirkt hat. Das Wesen der Esthen war von jeher überhaupt rauh,
schroff und eckig und zeichnete sich durch Falschheit, Trägheit und Gleichgültigkeit gegen jede Verbesserung
ihres Zustandes aus.
Daß diese Fehler jedoch nur Produkte der traurigen äußern Verhältnisse sind, ursprünglich dagegen dem Esthen eine edlere
Natur innewohnt, davon zeugt das Sinnige, das sich bei ihm in seiner Betrachtungsweise der Natur kundgibt, das tiefe Gefühl,
das sich bei der Behandlung von Kindern, schwächern und ältlichen Personen offenbart, die richtige Beurteilung
des Schicklichen und endlich die Innigkeit, mit welcher religiöse und moralische Begriffe aufgefaßt werden. Merkwürdig ist
ihre entschiedene Neigung zu kleinen Diebereien, während
¶
mehr
Einbrüche, größere Beraubungen etc. selten vorkommen. In geschlechtlicher Beziehung haben
sie ziemlich lockere Begriffe, doch kommt Ehebruch äußerst selten vor. Letztern nennen sie »tulli tö«, d. h.
eine That, die des Feuers wert ist; in der That wurde der Ehebrecher nach einem alten esthnischen Gesetz verbrannt. Der Wuchs
der Esthen ist weder schön noch kräftig, nur die Strandbewohner machen eine Ausnahme; die im
Innern des Landes aber sind um so kleiner, je härtere Sklaverei ihre Vorfahren erlitten, und je magerer die Scholle ist, die
sie nährt.
Kopf und Gesicht
[* 86] sind klein, breit und von gedrückter Form. Überhaupt lassen sich die mongolischen Gesichtszüge
nicht verkennen: weder die eng geschlitzten Augen noch die breiten Backen und der kleine Mund. Das meist schlichte, blonde oder
braune Haar
[* 87] hängt ungeschoren herab. Dichte Augenbrauen beschatten das tief liegende graue Auge, dessen gutmütiger Blick oft
mit den mißmutigen Gesichtszügen kontrastiert. Bei geringer Schulterbreite sind die Arme lang, die Hände
dagegen breit mit kurzen Fingern. Das breite Becken ist von hinten her abgeflacht und wird von kurzen Beinen und kleinen Füßen
gestützt, daher die Haltung nachlässig, der Gang
[* 88] schleppend ist.
Die esthnische Sprache gehört ihrem Grundstock nach der finnisch-ugrischen Gruppe der großen »ural-altaischen Sprachenfamilie«
(s. d.) an und zeichnet sich vor der finnischen durch größere Kürze und Gedrungenheit aus. Wie der ganze
Stamm des esthnischen Volkes sich in drei Hauptäste teilt, so zerfällt auch die Sprache in drei Hauptdialekte, die man nach
den vorzüglichsten Städten in den Kreisen, in welchen sie gesprochen werden, den dörptischen, revalischen (der für den
reinsten gilt) und pernauischen genannt hat.
Die Hauptmasse des Volkes ist durchweg national-esthnisch und versteht kaum ein WortDeutsch. Auch in allen bisher zur Bildung
der Bauern errichteten Schulen wird der Unterricht in der Sprache des Volkes erteilt. Sobald jemand unter den Esthen sich eine höhere
Bildung aneignet, tritt er zur deutschen oder (in vereinzelten Fällen) zur russischen Nationalität über.
Zur Pflege der Volkssprache besteht seit 1873 eine Litterarische Gesellschaft, deren Veröffentlichungen besonders für die
reifere Jugend bestimmt sind und sich über alle Lehrfächer erstrecken.
Vgl. Rosenplänter, Beiträge zur genauern Kenntnis
der esthnischen Sprache (Pernau 1813-32, 20 Hefte);
Derselbe, Über die Deklination
der esthnischen Nomina (das. 1844). -
Der Hang zur Poesie ist bei den Esthen ungemein stark. Wie die Letten, improvisieren sie bei allen ihren
Zusammenkünften Verse und Gedichte, die in einer melancholischen Tonart (immer nur fünf Töne umfassend) gesungen werden.
Sie singen und dichten (und zwar vorzugsweise die Frauen) bei allen ihren Arbeiten, im Wald, auf dem Feld, zu Haus, in den Spinnstuben,
in den Riegen (Scheunen) etc. Nachdem das große Nationalepos der Finnen, die Kalewala (s. d.), erschienen
war und die höchste Beachtung der europäischen Gelehrten hervorgerufen hatte, sann man auch in Esthland darauf, die Überbleibsel
des dortigen Volksgesanges zu sammeln, die dem Stoff und Charakter nach mit der »Kalewala« eine unverkennbare Verwandtschaft
zeigen, und nach vieljähriger Arbeit ist durch eine Reihe eifriger Kenner (Mitglieder
der 1838 gegründeten,
noch heute bestehenden »Gelehrten Esthnischen Gesellschaft«),
die alle alten Überreste der Volkspoesie sorgfältig aufspürten,
das Vernommene aufschrieben und später kombinierten, sonderten und ergänzten, ein Pendant zu dem finnischen Epos hergestellt
worden. Es führt den Namen »Kalewi Poëg« (»Sohn
Kalews«) und enthält 20 Gesänge mit im ganzen 19,087 Versen, welche sämtlich aus vierfüßigen Trochäen
bestehen, in denen statt des Reims
[* 90] die Assonanz und Allitteration vorherrschen. Der Herausgeber dieser interessanten Dichtung
(Dorp. 1857) ist Fr. Kreutzwald in Werro; eine Übersetzung besorgten K. Reinthal und Bertram (das. 1861).
Vgl. Schott, Die Sagen
vom Kalewi Poeg (Berl. 1863).
Andre Sammlungen veröffentlichten H. Neuß
[* 91] (»Esthnische Volkslieder, Urschrift und Übersetzung«, Reval
[* 92] 1850-52, 3 Tle.) und Kreutzwald
und Neuß (»Lieder der Esthen«, Petersb. 1854). Esthnische Sagen und Märchen gab gleichfalls Kreutzwald heraus (1866; deutsch von
F. Löwe, Halle
[* 93] 1869). Als eine vorzügliche Dichterin in esthnischer Sprache aus neuester Zeit wird Lydia
Jannsen genannt.
Hinsichtlich der Religion gehören die Esthen mit Ausnahme von 48,000 seit 1846 zur griechischen Kirche übergetretenen der lutherischen
Kirche an, deutsche Prediger halten den esthnischen Gottesdienst. Der Aberglaube, die Hexenkünste, das Gespensterwesen etc.
spielen bei den Esthen eine große Rolle. Der Johannistag ist ein Freudenfest. Bei den Taufen, Hochzeiten und
Leichen haben sie eigentümliche Gebräuche, die zum Teil noch aus der Heidenzeit stammen. (Vgl. Böcler und Kreutzwald, Der
Esthen abergläubische Gebräuche, Petersb. 1854.) Über ihre Mythologie vgl. Schwencks Werk »Mythologie der Slawen, Finnen etc.«
(2. Ausg., Frankf. a. M. 1855) und besonders Kreutzwald und
Neuß in den »Liedern der (s. oben),
wo sich über die Magie und Mythologie der alten Esthen eingehende Erörterungen
finden. Auch die Schriften über finnische Mythologie enthalten vieles hierher Gehörige, z. B. die von Jarander, Renvall,
Castrén (»Vorlesungen über finnische Mythologie«, deutsch von Schiefner, Petersb. 1853) und Schiefner, und haben jedenfalls
das Verdienst, die erste Anregung zu Forschungen über die Mythologie der Esthen gegeben zu haben.
Die Tracht der Esthen ist sich ziemlich gleich. Die meisten gehen in langen, schwarzen Röcken (ohne Kragen, Aufschläge etc.) von
einem Zeug, das sie Wattmann (Vadmel) nennen. Darunter tragen sie ein Wams von blauem Tuch, kurze lederne
oder leinene Hosen,
[* 94] wollene Strümpfe und statt der Stiefel eine Art Schuhe, Pasteln genannt, die, aus ungegerbter Kuhhaut gefertigt,
mit einer Schnur um den Fuß zusammengezogen werden, im Sommer einen runden Hut,
[* 95] im Winter eine Fuchspelzmütze und einen Schafpelz
ohne Überzug.
Die Weiber tragen faltige, bunt gestreifte wollene Unterröcke und einen eng anschließenden schwarzen
Oberrock, die verheirateten eine eng anschließende Mütze, Haube etc., die Mädchen des revalschen Kreises und auf den Inseln
dagegen ein breites Kopfband, Perg genannt. In neuerer Zeit jedoch beginnt die Nationaltracht mehr und mehr zu schwinden und
einer städtischen Platz zu machen. Wie die Kleidung, so sind auch die Wohnhäuser
[* 96] im Esthenland im allgemeinen
sich ähnlich, meist plump und roh und ohne Schornsteine, indem die Schlafkammern von den Riegen aus geheizt werden, wo der
Rauch zum Dörren des Korns von dem Ofen und Herd frei durchstreicht und durch die offen stehende Thür hinausgeht. Doch
kommen neuerdings die steinernen Schornsteine mehr und mehr in Gebrauch,
¶