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schwerfällige deutsche Heerwesen sich nicht gewachsen zeigte. Große deutsche Ritterheere, geführt vom Kaiser selbst oder den angesehensten Reichsfürsten, erlitten von rohen Bauernhaufen schmähliche Niederlagen; die siegreichen Hussitenscharen überfluteten endlich die Böhmen [* 2] benachbarten Lande raubend und verwüstend, und das mächtige Deutsche Reich [* 3] ließ dies wehrlos geschehen. Erst als die Böhmen, durch Parteiungen gespalten, sich selbst mit Erbitterung bekämpften und aufrieben, gelang es, durch einen Vertrag mit der gemäßigten Partei, den Kalixtinern, die sogen. Prager Kompaktaten (1433), den Aufstand zu dämpfen, so daß Siegmund 1436 den seit Wenzels Tod (1419) erledigten böhmischen Thron [* 4] besteigen konnte.
Trotz dieser beschämenden Erfahrungen waren alle Versuche Siegmunds, des Kurfürsten Friedrich von Brandenburg [* 5] und Friedrichs des Streitbaren von Sachsen, [* 6] den verrotteten Reichskörper umzugestalten, vergeblich. Die Wiederaufnahme des kirchlichen Reformwerks durch das Baseler Konzil (1431-48) führte zu einem heftigen Konflikt zwischen Konzil und Papst, während dessen Siegmund ohne männliche Nachkommen starb und das luxemburgische Kaiserhaus erlosch.
Durch die Wahl der Kurfürsten gelangte Siegmunds Schwiegersohn und Erbe, Herzog Albrecht von Österreich, [* 7] König von Böhmen und Ungarn, [* 8] auf den Thron. Albrecht II. regierte aber nur ein Jahr (1438-39). Ihm folgte sein Vetter Friedrich III., Herzog von Steiermark [* 9] (1440-93), der gewählt wurde, obwohl oder gerade weil man seine Unfähigkeit kannte. In der That ist Friedrichs Regierung wie die längste, so die ruhmloseste und schädlichste gewesen, die Deutschland [* 10] gehabt hat.
Weder bemühte er sich um die dringend notwendige und von vielen ersehnte Reform der Kirche und des Reichs, noch that er etwas, um die Angriffe auf Deutschlands [* 11] Sicherheit und Integrität abzuwehren und das Reich vor Verlusten zu hüten. Im Gegenteil beschwor er durch seinen kurzsichtigen Eigennutz selbst die Gefahren herauf. Der Streit zwischen Konzil und Papst war den kirchlichen Reformbestrebungen günstig, und noch bei Lebzeiten Albrechts II. hatten die Kurfürsten durch die Beschlüsse des Reichstags von Mainz [* 12] (die sogen. Mainzer Acceptation, im März 1439) einen großen Teil der Reformdekrete des Konzils von Basel [* 13] anerkannt und somit einen Weg betreten, der, energisch weiter verfolgt, zur Bildung einer nationalen deutschen, gegen die Übergriffe des Papsttums geschützten Kirche hätte führen können.
Friedrich III. dagegen opferte 1445 gegen das Versprechen der Kaiserkrönung, welche, die letzte in Rom, [* 14] 1452 stattfand, und gegen Zugeständnisse an seinen schmutzigen Geiz und Eigennutz die Rechte des Reichs auf, indem er ohne Zustimmung desselben das Baseler Konzil preisgab und den römischen Papst Eugen IV. anerkannte. Die Macht des Konzils war damit gebrochen; durch Einzelverhandlungen mit den Fürsten gelang es Eugens Nachfolger Nikolaus V., die deutsche Opposition zu sprengen, und die ganze Reformbewegung endete damit, daß der Kaiser 1448 mit dem Papst im Namen der deutschen Nation die Wiener oder Aschaffenburger Konkordate abschloß, in welchen dem römischen Stuhl alles das wieder zurückgegeben wurde, was durch die Beschlüsse von Basel hatte abgestellt werden sollen, während die von der Kurie gemachten Konzessionen illusorisch blieben.
Ebenso verliefen alle Verhandlungen auf den Reichstagen über Herstellung des Landfriedens u. Reform der Reichswehrverfassung infolge von Friedrichs Gleichgültigkeit resultatlos. Die Fürsten suchten die finanziellen Lasten der Reform möglichst auf die allerdings hierin leistungsfähigen Städte abzuwälzen; diese widersetzten sich daher aus nicht unberechtigtem Mißtrauen jeder Änderung des bestehenden Zustandes. Unthätig und teilnahmlos sah der Kaiser den zerstörenden territorialen Kämpfen zu, welche Deutschland spalteten. In Sachsen wütete 1445-50 der Bruderkrieg zwischen Kurfürst Friedrich dem Sanftmütigen und Herzog Wilhelm; in Westfalen [* 15] entspann sich die sogen. Soester Fehde (1444-49) zwischen Erzbischof Dietrich von Köln [* 16] und der Stadt Soest, [* 17] in welche eine große Anzahl andrer Reichsstände, wie Münster, [* 18] Kleve u. a., verwickelt wurden; in Franken und Schwaben kämpfte der streitbare Markgraf Albrecht Achilles erst an der Spitze der Fürsten und Grafen gegen die Städte, vor allen gegen das mächtige Nürnberg, [* 19] dann gegen die bayrischen und pfälzischen Wittelsbacher, welche wieder untereinander in fortwährender Fehde lagen.
Währenddessen ging im Nordosten der preußische Ordensstaat dem Deutschtum verloren, indem der Orden, [* 20] durch die Empörung der Landstände geschwächt, den Polen, von denen er 1410 bei Tannenberg schon einmal besiegt worden war, 1455-66 völlig erlag und im Thorner Frieden ganz Westpreußen [* 21] abtreten, Ostpreußen aber von der polnischen Krone zu Lehen nehmen mußte. Im Südosten trieb Friedrich durch seine Bemühungen, die böhmische und die ungarische Krone an sich zu reißen, diese beiden Völker in einen feindlichen Gegensatz zu D. Beide wählten sich nationale Könige, die Böhmen Georg Podiebrad, die Ungarn Matthias Corvinus.
Ersterer benutzte seinen Einfluß im Reich, um alle kirchlichen und politischen Reformpläne zu durchkreuzen; Matthias wurde durch Friedrichs fortgesetzte Versuche, ihn zu stürzen, genötigt, seine Waffen [* 22] gegen ihn zu kehren, und konnte sich nicht mit ganzer Kraft [* 23] den Türken entgegenstellen, welche seit der Eroberung Konstantinopels (1453) Ungarn immer mehr bedrängten und 1469 zuerst die Grenzen [* 24] Deutschlands überschritten. Der Kaiser ward endlich von Matthias aus seinen Erblanden vertrieben und irrte lange Zeit als ohnmächtiger Flüchtling im Reich umher, Städten und Klöstern ein beschwerlicher Gast. Im Westen begann Friedrich 1443 eine Fehde gegen die Eidgenossen, um die alten habsburgischen Hoheitsrechte wiederzuerobern, und als er allein nichts ausrichtete, rief er die unter dem Namen der Armagnaken (s. d.) bekannten und berüchtigten französischen Söldner unter dem Dauphin zu Hilfe, welche zwar von den tapfern Schweizern bei St. Jakob an der Birs zurückgeworfen wurden, aber nun um so schrecklicher im Elsaß hausten; ja, sogar von der Eroberung dieses Landes war damals unter den Franzosen die Rede.
Auch der Bildung eines völlig unabhängigen Reichs im Westen Deutschlands stellte Friedrich III. nicht das geringste Hindernis in den Weg, obwohl dieselbe wesentlich auf Kosten Deutschlands erfolgte. Die Herzöge von Burgund aus dem französischen Königshaus Valois, welchen Karl IV. bereits Deutsch-Burgund überlassen, hatten im Lauf des 14. und 15. Jahrh. die reichen, blühenden niederländischen Provinzen, das Mündungsgebiet des Rheins, der Maas und der Schelde, erworben. Seit 1467 wurde dies burgundische Reich von Karl dem Kühnen beherrscht, einem der glänzendsten Fürsten seiner Zeit, welcher das ganze linke Rheinufer zu erobern trachtete und durch den Königstitel die völlige Unabhängigkeit zu erringen hoffte. Friedrich III. trat ihm nicht entgegen, als er 1467 Lüttich [* 25] eroberte, 1473 Gelderland und Zütphen erwarb, 1474 Neuß [* 26] ¶
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belagerte und in das Elsaß seine Truppen einrücken ließ. Vielmehr war er nur bemüht, auf dies Reich für sein Haus die Anwartschaft zu erlangen. Er war sogar auf Verhandlungen über Verleihung des Königstitels an Karl den Kühnen eingegangen in der Hoffnung, für seinen Sohn Maximilian die Hand [* 28] der einzigen Tochter des mächtigen Herzogs zu gewinnen. Diese Aussicht hatte sich bei Lebzeiten Karls zerschlagen; aber als dieser nach seinem unglücklichen Eroberungszug gegen die Schweizer, die ihn bei Granson und Murten 1476 besiegten, 1477 vor Nancy [* 29] fiel, reichte seine Erbin Maria in der That dem stattlichen Kaisersohn ihre Hand und brachte ihm so den zum Deutschen Reiche gehörigen Teil ihrer Besitzungen zu, während die französischen Lehen sofort von König Ludwig XI. eingezogen wurden. 1489 erbte Friedrich III. auch Tirol, [* 30] das bisher von einer habsburgischen Nebenlinie beherrscht worden, und 1490 starb Matthias Corvinus, worauf Friedrich wieder in den ungestörten Besitz seiner österreichischen Erblande gelangte; mit dem Jagellonen Wladislaw, König von Böhmen, der Matthias' Nachfolger in Ungarn wurde, schloß Maximilian 1491 den Vertrag von Preßburg, [* 31] welcher die habsburgische Erbfolge auch in Böhmen und Ungarn in Aussicht stellte.
Nach den größten Demütigungen, in schimpflicher Ohnmacht begründete also dieser träge, indolente Kaiser Friedrich III. die Weltherrschaft des Hauses Habsburg, indem er Land auf Land teils selbst erwarb, teils durch Verträge für die Zukunft sicherte; in ihm prägte sich am schärfsten jenes Streben nach Erwerbung einer großen Hausmacht aus, welches die Kaiser dieser Periode charakterisierte, freilich in einer Weise, die Deutschland und dem deutschen Kaisertum nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden gereichte. Was Habsburg gewann, war dem deutschen Volk nicht gewonnen, sondern verloren; denn indem der Schwerpunkt [* 32] der habsburgischen Weltmacht außerhalb des Reichs gelegt ward, wurden auch seine deutschen Besitzungen Deutschland entfremdet.
Edler und erhabener faßte Maximilian I. (1493-1519) seine Stellung auf, der, bereits 1486 zum römischen König erwählt, nach seines Vaters Tod 1493 auf dem deutschen Thron folgte. Wiederum war es doch das Kaisertum als die höchste weltliche Macht der Christenheit, was die Phantasie und den Ehrgeiz dieses begabten, ritterlichen Herrschers vornehmlich beschäftigte und ihn zu kühnen Unternehmungen anreizte. Jedoch war er bereit, wenn die Reichsstände ihm Truppen und Geld für seine Kriegspläne bewilligten, dem Reich eine Verfassung zu geben, welche ihm Frieden und gesetzliche Ordnung verbürgten. Im Einverständnis mit den angesehensten Reichsfürsten, wie Berthold von Mainz, Friedrich von Sachsen, Johann von Brandenburg, Eberhard von Württemberg [* 33] u. a., berief er daher 1495 den Reichstag von Worms, [* 34] auf dem die neue Organisation beschlossen werden sollte.
Zunächst verkündete er hier den ewigen allgemeinen Landfrieden, durch welchen nicht bloß für eine bestimmte Zeit und für eine einzelne Landschaft, sondern für immer und im ganzen Reich alle Fehden bei Strafe der Reichsacht verboten und jedermann zum Austrag von Streitigkeiten auf den Rechtsweg verwiesen wurde. Um diesen allen zu sichern, wurde das Reichskammergericht begründet, dessen besoldete Mitglieder teils vom Kaiser, teils von den Reichsständen zur Hälfte aus dem Ritterstand, zur Hälfte aus gelehrten Juristen ernannt werden sollten. Um die Kosten für dies Gericht zu bestreiten und die Mittel für Aufstellung einer Truppenmacht zu beschaffen, welche jeden Bruch des Landfriedens strafen und die Exekution der Urteile des obersten Gerichts vollstrecken konnte, wurde die Einführung einer allgemeinen Reichssteuer, des gemeinen Pfennigs, beschlossen.
Alle Jahre sollte der Reichstag zusammentreten, um über den Landfrieden, die Vollziehung der kammergerichtlichen Urteile und des Reiches Wohl überhaupt zu wachen. Die Zusammensetzung des Reichstags war so geordnet, daß die Kurfürsten und die Fürsten besondere, die sogen. obern Kollegien waren; die Städte waren als drittes Kollegium zugelassen, jedoch wurde ihr Recht auf ein beschließendes Votum immer wieder angefochten, und ihr Einfluß beschränkte sich meist darauf, daß sie durch ihren Einspruch einen Beschluß, besonders Geldauflagen, verhindern konnten.
Die Reichsritterschaft war auf den Reichstagen nicht vertreten. Im ganzen gab es 250 Reichsstände; da jedoch die kleinern Reichsstände keine Viril-, sondern nur gemeinsame Kuriatstimmen hatten, so zählte der Reichstag wenig mehr als 100 Stimmen. Die Reichsversammlung war jedoch zu einer kontrollierenden Aufsichtsbehörde wegen der Schwerfälligkeit und Weitläufigkeit ihrer Beratungen nicht tauglich. Maximilian gab daher 1500 auf dem Reichstag zu Augsburg [* 35] seine Zustimmung zur Errichtung eines bleibenden Ausschusses der Stände, des Reichsregiments, das aus 20 Mitgliedern, 6 Vertretern der Kurfürsten, 12 der Fürsten, Grafen und Prälaten und 2 der Städte, bestand.
Zur bessern Durchführung aller dieser Maßregeln wurde das Reich in sechs, 1512 in zehn Kreise [* 36] geteilt, an deren Spitze je ein Direktorium stand: der österreichische, der bayrische, der fränkische, der kurrheinische, der oberrheinische, der burgundische, der niederländisch od. westfälische, der niedersächsische u. der obersächsische Kreis [* 37] (s. die einzelnen Artikel). Böhmen mit seinen Nebenländern und die Schweiz [* 38] blieben ganz außerhalb der Reichsverfassung. Letztere weigerte sich, den ewigen Landfrieden anzunehmen und sich dem Kammergericht zu unterwerfen. Maximilian unternahm einen Kriegszug gegen sie, um sie dazu zu zwingen; indes nicht genügend vom Reich unterstützt, richtete er nichts aus und mußte sie im Baseler Frieden (1499) faktisch aus dem Reichsverband entlassen.
Diese Reichsverfassung, wie sie nach mühsamen Verhandlungen zu stande gebracht wurde, hatte ein durchaus oligarchisches Gepräge, indem den Kurfürsten der entscheidende Anteil an den wichtigsten Behörden eingeräumt wurde. Selbst die Fürsten waren nicht mit derselben einverstanden, noch weniger natürlich die Städte und die Reichsritter, welche ihre Bedeutung als der Wehrstand des Reichs seit dem Aufkommen der Landsknechtheere verloren hatten, denen nun auch das Fehdehandwerk gelegt wurde, und denen man nicht die geringsten politischen Rechte einräumte.
Dennoch würde unter der Leitung so vortrefflicher Männer wie Bertholds von Mainz und Friedrichs des Weisen eine Befestigung und ein Ausbau der neuen Organisation wohl möglich gewesen sein, wenn Kaiser Maximilian dem Werk seine nachhaltige Gunst und Unterstützung zugewendet hätte. Die Beschränkungen seiner monarchischen Gewalt waren allerdings bedeutend, indes doch nicht thatsächlich, sondern bloß, wenn man das Kaisertum in seiner frühern Machtfülle im Auge [* 39] hatte, und Maximilian hätte sich dieselben auch auf die Dauer gefallen lassen, wenn ihm nur die Wiederherstellung der Kaisergewalt in Italien, [* 40] nach der er vor allem strebte, geglückt wäre. Daß aber seine italienischen Feldzüge alle erfolglos blieben, maß er dem geringen Beistand bei, welchen die Fürsten ihm leisteten, während er ¶
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doch nur unter der Voraussetzung kräftiger Unterstützung der Reichsreform zugestimmt hatte. Ärgerlich und mißgestimmt, legte er jetzt der Durchführung derselben Schwierigkeiten in den Weg; das Reichsregiment mußte sich 1502 wieder auflösen, dem Kammergericht trat des Kaisers Hofgericht, der Reichshofrat in Wien, [* 42] zur Seite und zog ebenfalls Reichsangelegenheiten vor sein Forum. [* 43] Ja, als 1505 im wittelsbachischen Haus über das Landshuter Erbe eine Fehde ausbrach, nahm Maximilian an derselben teil, um sich ein Stück von dem Erbe anzueignen.
Unerschöpflich in neuen Entwürfen, aber ohne Ausdauer, brachte er weder einen großen Kriegszug gegen die Türken zu stande, noch gelang es ihm, die Franzosen aus Italien zu vertreiben; da er Rom nicht erreichen konnte, legte er sich als erster deutscher Herrscher den Kaisertitel bei, ohne mit der Kaiserkrone gekrönt zu sein. Dagegen begünstigte ihn wie seinen Vater das Glück bei der Erhöhung der Macht seines Hauses durch Familienverbindungen. Die Vermählung seines Sohns Philipp des Schönen mit der spanischen Infantin Johanna, der Tochter und Erbin Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragonien, verschaffte dem Haus Habsburg den Besitz der spanischen Monarchie, zu welcher das neuentdeckte Amerika [* 44] und in Italien die Königreiche Neapel, [* 45] Sizilien [* 46] und Sardinien [* 47] gehörten, ein Besitz, den sein ältester Enkel, Karl, 1516 antrat. Durch die Vermählung seines zweiten Enkels, Ferdinand, mit der Schwester des Königs Ludwig von Böhmen und Ungarn verstärkte er die Aussichten auf Erwerbung dieser Königreiche. Schmerzlich berührte es ihn nur, daß er nicht noch vor seinem Tod seinem Enkel Karl die Kaiserkrone sichern konnte. Als er im Januar 1519 starb, hinterließ er Deutschland ohne Oberhaupt in einem der entscheidendsten Wendepunkte seiner Geschichte.
Die Reformationszeit.
Im Beginn des 16. Jahrh. waren die Dinge in Deutschland in lebendigster Bewegung und Gärung. Die Verhandlungen über die Reichsreform hatten die politischen Verhältnisse in Fluß gebracht, überall Wünsche und Forderungen angeregt, die nur zum Teil in Erfüllung gingen, und das Verlangen nach einer gründlichen Umgestaltung der Dinge, besonders in den niedern Ständen der Ritter, Bürger und Bauern, gesteigert. Die Verwirrung im Reich, die Verluste des Deutschtums an den Grenzen und der verschwundene Glanz des Kaisertums wurden um so bitterer empfunden, als die Deutschen jener Zeit im Bewußtsein ihrer üppigen Volkskraft stolz und hochstrebend waren und keinem Volk den Vorrang vor sich einräumen wollten, wie sie denn im Ausland überall als hochmütig und gewaltthätig bekannt waren.
Allerdings nur in diesem Verlangen einer Änderung, nicht über die Art derselben waren die Unzufriedenen einverstanden. Der Ritterstand wünschte wieder, wie in der staufischen Zeit, der herrschende Kriegerstand zu sein unter einem mächtigen Kaiser, der große Eroberungszüge unternehme, auf denen Ruhm und Beute zu erwerben seien. Die Bürger verlangten dagegen vor allem Schutz von Handel und Gewerbe durch ein kräftiges Regiment, an dem sie einen ihren finanziellen Leistungen entsprechenden Anteil hätten.
Neben den Bürgern gab es aber in den Städten eine niedere Handwerkerbevölkerung, welche die herrschende mehr oder weniger aristokratische Verfassungsform umzustoßen und eine rein demokratische zu errichten strebte. Diese ärmern Stadtbewohner berührten sich in ihren Bestrebungen mit den Bauern, welche ihre elende Lage unter dem Druck von Steuern und Fronen und unter der Willkür ihrer großen und kleinen Herren seit 100 Jahren um so bitterer empfanden und um so ungeduldiger ertrugen, als die Kämpfe der Schweizer und die Hussitenkriege sowie die Bedeutung der aus Bürgern und Bauern gebildeten Landsknechtheere sie gelehrt hatten, welche Macht in der entfesselten Volkskraft verborgen war. Wiederholte Aufstände von Bauernbünden in Schwaben und am Oberrhein hatten gezeigt, daß es sich in diesem unterdrückten, wehrlosen Stand regte, und je härter die Tyrannei war, unter welcher er seufzte, desto radikaler waren ihre Reformideen, die unter dem Einfluß religiöser Schwärmer, wie bei den Taboriten, oft einen rein kommunistischen Charakter annahmen.
Zu diesen Gärungselementen traten nun die geistige Bewegung des Humanismus und die kirchliche Reformfrage hinzu. Beide flossen in Deutschland ineinander, indem der Aufschwung der Künste und Wissenschaften durch die Wiederbelebung des klassischen Altertums und die neuen Entdeckungen, die Gründung zahlreicher Universitäten und Schulen und die Ausbreitung der Bildung über weitere Kreise infolge der Erfindung der Buchdruckerkunst das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und Freiheit in den Menschen weckten und die Entrüstung über die Entartung der Kirche und über die Schmach, von einem so rohen, sittenlosen und unwissenden Klerus beherrscht und ausgebeutet zu werden, aufs höchste steigerten.
Das Verlangen nach einer Abstellung der kirchlichen Mißstände war so allgemein und so mächtig, daß sich fast niemand außer den Dominikanern ihm zu widersetzen und die herrschende Kirche zu verteidigen wagte, daß die ernsten wie die satirischen Angriffe gegen die Hierarchie und ihre Vorkämpfer mit Begeisterung begrüßt wurden und selbst den Beifall hoher Prälaten fanden. So bedurfte es nur eines Anstoßes, eines erlösenden Wortes, um einen Sturm in der öffentlichen Meinung zu entfesseln, der das Gebäude der mittelalterlichen Kirche bis in seine festesten Grundlagen erschütterte. Dies Wort sprach Luther, indem er die 95 Thesen gegen den Ablaß an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg [* 48] schlug. Sein mannhaftes Auftreten wurde als der Beginn der ersehnten Reform mit Freuden begrüßt. Wie sich dieselbe gestalten solle und werde, war freilich fast allen ebenso unklar wie die politische Reform, welche man wünschte. In beiden Fragen kam es hauptsächlich darauf an, welcher Kaiser den Thron besteigen würde.
So war die Lage in Deutschland, als die Kurfürsten nach mehrmonatlicher Thronvakanz sich im Mai 1519 in Frankfurt [* 49] zur Neuwahl eines Kaisers versammelten; mit Ausnahme des Königs von Böhmen erschienen sie alle persönlich, denn die zu treffende Entscheidung war ebenso wichtig wie schwierig. Gern hätten die Kurfürsten einen der Ihrigen, nämlich Friedrich den Weisen, gewählt, was auch der Papst wünschte; aber Friedrich lehnte es ab, die schwere Bürde auf sich zu nehmen. So kamen nur Karl von Spanien [* 50] und Franz I. von Frankreich als Thronbewerber in Frage, welche beide sich um die Kaiserkrone bewarben, um in dem bevorstehenden Kampf der beiden in Italien und Burgund rivalisierenden Staaten Spanien und Frankreich durch den Besitz der höchsten Würde der Christenheit ihre moralische und physische Macht zu verstärken. Franz hatte die Mehrzahl der Kurfürsten zwar durch Bestechung für sich gewonnen, obgleich sein herrisches, gewaltthätiges Auftreten in seinem Erbreich schwere Bedenken erregte. Im letzten Moment siegte aber Karl. Er galt doch als Deutscher, besaß ansehnliche Teile des Deutschen Reichs, und ¶
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während man die Gefahr seiner allzu großen Macht für die Freiheit der Reichsstände durch eine Wahlkapitulation unschädlich zu machen beschloß, welche ihm besonders die Wiedereinsetzung eines Reichsregiments zur Pflicht machte, erhoffte man zugleich von ihm die Wiederherstellung des Glanzes der deutschen Kaiserkrone und der äußern Machtstellung des Reichs. Auch die Entschiedenheit, mit der sich die öffentliche Meinung in Deutschland für das »junge Blut von Österreich« aussprach, die Drohungen, welche die Führer des nach der Vertreibung des Herzogs Ulrich von Württemberg bis in die Nähe Frankfurts vorgedrungenen schwäbischen Bundesheers gegen die Anhänger Franz' I. verlauten ließen, trugen dazu bei, daß Karl V. (1519-1556) zum Kaiser gewählt wurde.
Hiermit war das Schicksal Deutschlands zu seinem Unglück entschieden. In der wichtigen Krisis, vor der es stand, hätte es eines einsichtigen und entschlossenen Führers bedurft. Karl V. war der rechte Mann nicht und konnte es nicht sein. Bei seinem Streben nach der Weltherrschaft war ihm zwar die Kaiserkrone erwünscht, aber die materielle Grundlage seiner Macht bildete die starke spanische Monarchie. Deutschland blieb ihm nur ein Nebenland, dessen Kräfte er wohl, soweit möglich, ausnutzen, dessen Wohl er aber die eignen Interessen nicht widmen oder aufopfern wollte.
Ohne tieferes religiöses Gefühl ganz im Bann der mittelalterlichen Kirche befangen, war er einer durchgreifenden kirchlichen Reform durchaus abgeneigt, wenn er auch die Opposition gegen die päpstliche Hierarchie gelegentlich zu seinem Vorteil ausbeutete, um den Papst in politischen Dingen gefügiger zu machen. Er war also weder gewillt, noch im stande, die Hoffnungen, mit denen das deutsche Volk ihn begrüßte, zu erfüllen. Die Deutschen haben das freilich erst spät, zum Teil gar nicht eingesehen.
Erst im Herbst 1520 erschien Karl V. in um sich in Aachen [* 52] krönen zu lassen und dann den Wormser Reichstag abzuhalten. Auf diesem wurden 1521 die Bestellung eines ständischen Reichsregiments während der Abwesenheit des Kaisers von Deutschland, die Reform des Reichskammergerichts, die Aufstellung einer Matrikel für die Bezahlung der Kosten durch die Stände, endlich die Festsetzung der Truppenmacht, mit der das Reich fortan den Kaiser in Italien zu unterstützen hatte, durch Vereinbarung zwischen den Fürsten und dem Kaiser rasch erledigt.
Denn schon drohte der Krieg mit Frankreich in Oberitalien [* 53] auszubrechen, dessen siegreiche Beendigung Karl vor allem am Herzen lag. Es war ihm gelungen, Papst Leo X. durch die Zusage für sich zu gewinnen, daß er der Ketzerei in Deutschland ein Ende machen und den bereits mit dem Bann belegten Luther auch mit weltlichen Strafen züchtigen wolle. Da die Stände sich weigerten, jemand ungehört zu verdammen, wurde der Wittenberger Mönch vor den Reichstag citiert. Er erschien trotz der Gefahr eines grausamen Todes, die ihm drohte, und gab vor versammelten Kaiser und Ständen auf die Forderung des Widerrufs jene mannhafte Antwort, die ihm die Herzen vieler Fürsten, vor allem aber des deutschen Volkes gewann.
Karl blieb von der religiösen Begeisterung, die aus dem schlichten Mönch und aus der mächtigen Bewegung im Volk sprach, ungerührt. Zwar schonte er Luther, aber als er abgereist war und die meisten Stände Worms verlassen hatten, sprach er über ihn die Acht aus und erließ das Wormser Edikt, welches die weitere Verbreitung der ketzerischen Lehre [* 54] Luthers aufs strengste verbot und alle ihre Anhänger und Beschützer mit gleicher Strafe der Acht bedrohte. Hiermit sagte sich der neue Beherrscher Deutschlands von der kirchlichen Reformbewegung los und stellte sich dem religiösen und nationalen Ziel der Besten des deutschen Volkes, nämlich Befreiung von dem pontifikalen Joch und Begründung einer nationalen, wahrhaft christlichen Kirche, fremd, ja feindselig gegenüber. Nachdem er die österreichischen Erblande und die Verwaltung des 1519 eroberten Herzogtums Württemberg seinem Bruder Ferdinand übertragen hatte, verließ er 1521 Deutschland wieder, um erst nach neun Jahren (1530) dahin zurückzukehren.
Obwohl die Zurückweisung der Wünsche des Volkes durch das Wormser Edikt hier und da bereits den Ausbruch von Unruhen zur Folge hatte und während Luthers Exil auf der Wartburg in Sachsen die Schwarmgeister und Bilderstürmer sich regten, nahm das in Nürnberg zusammentretende Reichsregiment die Sache der kirchlichen und politischen Reform mit Ernst in die Hand. Der neue Papst, Hadrian VI., kam den Wünschen der deutschen Nation wenigstens darin entgegen, daß er die Abstellung der schlimmsten Mißbräuche ebenfalls beabsichtigte.
Der Nürnberger Reichstag faßte 1523 die Forderungen Deutschlands in 100 Gravamina (»Beschwerden«) zusammen, verlangte binnen Jahresfrist ein allgemeines, freies Konzil auf deutschem Boden, auf dem auch die Laien Sitz und Stimme hätten, und forderte bis zu demselben die freie Verkündigung des reinen, lautern Evangeliums. Aber da das Reichsregiment zu gleicher Zeit eine festere Organisation des Reichs beriet und mit dem Plan umging, die Kosten der neuen Gerichts- und Heeresverfassung durch Errichtung einer Reichszolllinie aufzubringen, sagten sich die Städte in engherzigem Eigennutz vom Regiment los und betrieben beim Kaiser die Auflösung desselben.
Noch mehr waren die Ritter durch den Gang [* 55] der Dinge enttäuscht worden. Statt einer religiösen und politischen Reform, die dem Ritterstand wieder zu Macht und Ansehen verholfen hätte, wie Sickingen und sein feuriger, leidenschaftlicher Freund Hutten sie geträumt hatten, ward die Regierung im Reich den verhaßten Fürsten übertragen. 1522 vereinigten sich die alten Ritterbünde am Rhein und Main zu einer Erhebung für religiöse und politische Freiheit gegen die fürstliche Allgewalt, der sich, wie sie hofften, auch die Städte anschließen würden. Sie begann mit dem Überfall Sickingens auf Trier [* 56] (1522); doch dieser mißlang, die Fürsten am Mittelrhein verbanden sich zu rascher und kräftiger Gegenwehr, welcher die Reichsritter bald unterlagen; Sickingen fiel bei der Verteidigung seiner Feste Landstuhl (1523), Hutten endete in der Schweiz im Elend.
Mit Schlauheit und List wußten der Papst Clemens VII., ein Mediceer, der nach Hadrians frühem Tode den römischen Stuhl bestiegen, und sein Legat in Deutschland, Campeggi, diese Erhebung der Ritter gegen die Reformbestrebungen auszubeuten. Campeggi vereinigte auf dem Regensburger Konvent (Juni 1524) mehrere weltliche Fürsten, wie den Erzherzog Ferdinand und die bayrischen Herzöge, und die süddeutschen Bischöfe zu dem Beschluß, daß einige kirchliche Mißbräuche abgestellt, der weltlichen Gewalt mehrere Zugeständnisse (und pekuniäre Vorteile) eingeräumt, dafür aber die Lutherschen Lehrmeinungen nicht geduldet werden sollten. Zuerst also trennten sich die Anhänger der päpstlichen Hierarchie von der gemeinsamen Sache und verursachten so die religiöse Spaltung in Deutschland, welche gerade zu verhüten die oberste nationale Pflicht gewesen wäre. Diese rückläufige Strömung wurde verstärkt durch die Erhebung des Bauernstandes im Bauernkrieg. Die evangelische ¶
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Freiheit, welche Luther und seine Freunde verkündigten, wollten die hart bedrückten Bauern auf ihre soziale Lage ausgedehnt wissen, wie denn auch die Heilige Schrift von Hierarchie, von Scheidung der Stände, von Zehnten, Privilegien und Fronen nichts sage. Die zwölf Artikel, welche anfangs das Programm der Bewegung, das »Manifest des gemeinen Mannes« waren, beschränkten sich darauf, das göttliche Recht des Menschen auf Freiheit zu behaupten und die freie Predigt des Evangeliums, die Wahl der Pfarrer, Abschaffung der Leibeigenschaft, des kleinen Zehnten, des Jagd- und Waldrechts der Herren und der Fronen zu fordern.
Bald aber artete der Aufstand in wilde Zerstörungswut aus. Die zuchtlosen Bauernscharen sengten und brannten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte, Klöster und Burgen, [* 58] und verübten die furchtbarsten Grausamkeiten; alle Versuche, Ordnung und Einheit in die Masse zu bringen, waren erfolglos. So war es dem Heer des Schwäbischen Bundes möglich, in Süddeutschland die Empörung zu unterdrücken, während die mitteldeutschen Fürsten unter Führung Kursachsens die Scharen des schwärmerischen Fanatikers Thomas Münzer bei Frankenhausen vernichteten (1525). Die Ordnung in Deutschland war wiederhergestellt, aber die Lage des Bauernstandes wurde schlimmer als vorher; eine Befreiung und Erhebung desselben aus geistigem und materiellem Druck durch die Reformation war nun unmöglich, wenn auch die Funken mystisch-schwärmerischer Erregung noch lange unter der Asche fortglommen. Nicht das Volk war fortan der Träger [* 59] der großen religiösen Bewegung, sondern die Reichsstände, und ihre Sonderinteressen verflochten sich fortan auf verhängnisvolle Weise mit derselben.
Während das Reichsregiment, nach Eßlingen [* 60] verlegt, noch kurze Zeit eine ohnmächtige Scheinexistenz fortführte, entschlossen sich nun die Anhänger der Reformation, ebenso wie ihre Gegner auf dem Regensburger Konvent, zu selbständigem Vorgehen. Der Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen, Landgraf Philipp von Hessen, [* 61] die Markgrafen von Ansbach [* 62] und Baireuth, [* 63] die Herzöge von Pommern [* 64] und Mecklenburg, [* 65] mehrere der braunschweigischen Herzöge, die Fürsten von Anhalt [* 66] und die Grafen von Mansfeld, ferner der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, der den geistlichen Staat Ostpreußen in ein weltliches Herzogtum verwandelte, führten die Kirchenreform nach Luthers Anweisung, der so wider Willen zu einer fast herrschenden Stellung erhoben wurde, in ihren Territorien durch.
Die bischöfliche Gewalt für sich beanspruchend, beseitigten sie alles, was der Lehre der Heiligen Schrift widersprach, besonders Cölibat und Messe; der öffentliche Gottesdienst und das Schulwesen wurden reorganisiert, die Klöster säkularisiert und ihre Güter zu Kirchen- und Schulzwecken bestimmt, freilich nur teilweise; ein großer Teil des eingezogenen Kirchenguts diente auch zur Vermehrung des fürstlichen und des landständischen Vermögens. Den Fürsten schlossen sich die bedeutendsten Reichsstädte an, wie Lübeck, [* 67] Bremen, [* 68] Hamburg, [* 69] Magdeburg, [* 70] Ulm, [* 71] Augsburg, Frankfurt, Straßburg [* 72] und Nürnberg; die Künste und Wissenschaften blühten in ihnen unter dem Schutz religiöser Freiheit auf.
Ohne Zweifel ist die geistige Einheit des deutschen Volkes dadurch gefördert worden, daß die hochdeutsche Sprache [* 73] als Kirchen- und Schulsprache der Reformation wieder in Norddeutschland herrschende Schriftsprache wurde; im 15. Jahrh. drohte der Norden [* 74] des Reichs sich politisch wie sprachlich vom Süden gänzlich loszulösen. Indes durch die eigenmächtige Reform der Stände wurde auch der fürstliche Partikularismus sehr gekräftigt, individuelle dogmatische Überzeugungen der Fürsten und ihrer Theologen machten sich mehr und mehr geltend und führten eine Zersplitterung der reformatorischen Thätigkeit herbei, welche den Samen [* 75] religiöser Zwietracht säete und als die evangelischen Stände, nachdem sich die einflußreichsten Mitglieder im Torgauer Bund (Juni 1526) über eine gemeinsame Haltung verständigt hatten, auf dem Reichstag in Speier [* 76] im August 1526 den Beschluß erwirkten, daß »in Sachen der Religion und des Wormser Ediktes jeder Reichsstand so leben, regieren und es halten solle, wie er es gegen Gott und Kaiserliche Majestät zu verantworten sich getraue«, war damit die nationale Zerrissenheit, wie sie durch die Entstehung selbständiger Territorien in den letzten Jahrhunderten sich gestaltet hatte, auch auf das kirchliche und religiöse Leben übertragen und durch den Grundsatz »Cujus regio, ejus religio« die Hoffnung, an der Hand der Reformation auch eine nationale Einheit zu schaffen, für immer vereitelt. Der Gegensatz zwischen Luther und Zwingli, welcher auf dem zu ihrer Versöhnung berufenen Religionsgespräch zu Marburg [* 77] (1529) durch Luthers Starrsinn unheilbar wurde, vermehrte die religiöse Spaltung, da die süddeutschen Stände, besonders die Reichsstädte, mehr zu den Schweizer als zu den Wittenberger Reformatoren hinneigten.
Die unerwartete Zustimmung des Kaisers zu den Beschlüssen des Speierer Reichstags war durch politische Erwägungen veranlaßt worden, welche, durch die Beziehungen zu Frankreich und dem Papst bedingt, mit deren Veränderung auch eine andre Richtung annahmen. In dem Krieg mit Franz I. von Frankreich 1521-26, bei dem es sich vor allem um die Herrschaft in Italien handelte, hatten die kaiserlichen Heere nach manchem Wechsel des Kriegsglücks endlich den entscheidenden Sieg von Pavia davongetragen, der die französische Armee vernichtete und den König Franz selbst dem Kaiser in die Hände lieferte. Nach langer Gefangenschaft mußte sich Franz zu dem Frieden von Madrid [* 78] verstehen, in welchem er auf Neapel und Mailand [* 79] verzichtete und selbst Burgund herauszugeben versprach.
Beide Herrscher verbanden sich zu gemeinsamem Vorgehen sowohl wider die Türken als wider die Ketzer, »die sich vom Schoß der heiligen Kirche losgerissen«. Aber kaum in Freiheit gesetzt, brach Franz I. den Vertrag und schloß mit dem Papst Clemens VII., der seinen Eidbruch billigte, die Heilige Ligue von Cognac, welcher auch Heinrich VIII. von England seinen Beistand zusagte. Während der Krieg in Italien von neuem entbrannte, wurde auch die deutsche Macht des Hauses Habsburg in einen gefährlichen Krieg verwickelt.
Die Ungarn erlagen in der Schlacht bei Mohács wo ihr junger König Ludwig selbst fiel, einem neuen Angriff der Türken, und Ferdinand, Ludwigs Erbe in Ungarn und Böhmen, war nun selbst durch die türkische Macht bedroht. Karl mußte daher 1526 vorläufig von einem Einschreiten gegen die deutschen Ketzer Abstand nehmen. Aber als er durch die Erstürmung Roms (1527) Clemens VII. gedemütigt und zur Nachgiebigkeit geneigt gemacht, sodann einen Versuch der Franzosen, Neapel und Mailand wiederzuerobern, vereitelt hatte, schloß er mit dem Papst 1529 den Frieden von Barcelona, [* 80] mit Franz den von Cambrai; in diesem verzichtete er auf Burgund, behielt aber die Herrschaft in Italien, welche nun auch Clemens anerkannte. Karl verpflichtete sich dagegen, wider die Ketzerei in ¶
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Deutschland einzuschreiten, und der Bund der beiden Häupter der Christenheit wurde 1530 durch eine persönliche Zusammenkunft in Bologna und die Kaiserkrönung Karls daselbst (24. Febr., die letzte in Italien) besiegelt. Die heldenmütige Verteidigung Wiens gegen die Türken (Oktober 1529) und der Rückzug derselben beseitigten für einige Zeit auch die Türkengefahr.
Die veränderte Haltung des Kaisers wirkte schon auf den zweiten Speierer Reichstag 1529 entscheidend ein. Die der alten Kirche zugethanen Stände waren so zahlreich erschienen, daß sie die Majorität besaßen und der kaiserlichen Proposition gemäß beschlossen, daß das Wormser Edikt bestehen bleiben, den evangelischen Ständen jede weitere Neuerung, besonders Beeinträchtigung der geistlichen Obrigkeit, verboten sein und das Sektenwesen nicht geduldet werden solle. 19 evangelische Reichsstände, 5 Fürsten und 14 Städte, protestierten dagegen, daß in Gewissenssachen die Mehrheit gemeingültige Beschlüsse fassen könne; davon erhielten die Anhänger der neuen Lehre den Namen »Protestanten«. Im Mai 1530 kehrte der siegreiche Kaiser nach Deutschland zurück und eröffnete 18. Juni die glänzende Reichsversammlung zu Augsburg.
Als die evangelischen Stände seinem Befehl, die Neuerungen einzustellen, unter Berufung auf ihr Gewissen den Gehorsam verweigerten, verlangte er, daß ihm die Gegensätze der beiden Lehren [* 82] in Kürze dargelegt würden. Dies geschah: am 25. Juni ward vor versammeltem Reichstag das Augsburgische Glaubensbekenntnis verlesen, welches, von Melanchthon verfaßt, die Unterschiede der neuen und der alten Lehre mild und leidenschaftslos entwickelte und die erstere fein und gewandt rechtfertigte.
Die angesehensten katholischen Theologen reichten dagegen eine Gegenschrift, die Confutatio, ein. Hiermit erklärte Karl V. die Sache für erledigt und nahm Melanchthons Apologie der Confessio Augustana nicht an. Ohne sich auf Gewissensfragen einzulassen, verlangte Karl von den Protestanten, daß sie sich dem Papst wieder unterwerfen sollten, bis er das längst versprochene allgemeine Konzil in Rom zu stande gebracht haben würde, und der Reichstagsabschied sprach deutlich und scharf die Drohung aus: wenn die Protestanten nicht bis zum gutwillig zur alten Kirche zurückkehrten, würde die neue Lehre mit Gewalt ausgerottet werden.
Unter dem Eindruck dieser Drohung schlossen die Häupter der Protestanten Anfang 1531 den Schmalkaldischen Bund (s. d.) zur Verteidigung der evangelischen Freiheit und Abwehr aller Gewalt. Indes der Wunsch, seinen Bruder Ferdinand zum römischen König gewählt zu sehen, die von neuem drohende Türkengefahr und die Unsicherheit des Friedens mit Frankreich bewogen Karl vorläufig zur Nachgiebigkeit, und so kam es zum Abschluß des Nürnberger Religionsfriedens, der den Anhängern der Augsburgischen Konfession freie Religionsübung bis zum bevorstehenden Zusammentritt eines allgemeinen Konzils gestattete.
Nachdem ein stattliches deutsches Heer die Türken zurückgetrieben hatte, begab sich Karl wieder nach Spanien, von wo er nach großartigen Rüstungen die Barbareskenstaaten an der Nordküste Afrikas zu unterwerfen begann; auch in neue Kriege mit Frankreich wurde er verwickelt, während Ferdinand für die Abwehr der Türken die Hilfe des Reichs immer wieder in Anspruch nehmen mußte. Die Berufung des Konzils verzögerte die Kurie unter allerlei Vorwänden, weil ihr der Verlust von einigen Hunderttausend Ketzern weniger gefährlich erschien als die Erneuerung der Konzilsbestrebungen von Konstanz [* 83] und Basel.
So war den Protestanten eine längere Frist geschenkt, welche sie nicht säumten sich für die Ausbreitung der Reform nutzbar zu machen. Philipp von Hessen führte 1534 den 1519 vertriebenen Herzog Ulrich von Württemberg in sein von Österreich besetztes Land zurück, das nun dem Luthertum sich anschloß. In Norddeutschland mehrten sich die Anhänger der neuen Lehre von Tag zu Tag; selbst die Errichtung eines phantastisch-tollen Wiedertäuferreichs in Münster, welches durch die vereinigte Macht protestantischer und katholischer Fürsten 1535 vernichtet wurde, konnte die Ausbreitung des Protestantismus nicht hemmen.
Brandenburg, Meißen, [* 84] die pfälzischen Linien, endlich auch der Kurfürst Otto Heinrich von der Pfalz selbst, eine Anzahl Städte, ja sogar schon Bischöfe traten zur Reformation über. Die Bevölkerung [* 85] in den Gebieten katholischer Fürsten, sogar in Böhmen und Österreich, war zum guten Teil protestantisch. Der einzige Fürst im Norden, welcher der alten Kirche treu blieb, Herzog Heinrich von Braunschweig, [* 86] wurde infolge von gewaltthätigen Angriffen auf die Reichsstädte Goslar [* 87] und Braunschweig vom Schmalkaldischen Bund aus seinen Landen vertrieben (1542). Selbst bei der Kurie regte sich ein versöhnlicher Geist; einflußreiche Kardinäle waren dafür, durch ehrliche Anerkennung der berechtigten Reformforderungen der Protestanten die Einheit der Kirche wiederherzustellen. 1540-41 wurden wiederholt Unterhandlungen eingeleitet und Religionsgespräche veranstaltet, um die friedliche Verständigung zwischen beiden Parteien anzubahnen, und auch Karl V. kam den Protestanten, deren Hilfe er von neuem gegen die Türken und gegen Frankreich bedurfte, im Regensburger Interim und im Reichsabschied vom auf das nachgiebigste entgegen: der Nürnberger Religionsfriede wurde bestätigt, die Ausschließung der Protestanten vom Kammergericht aufgehoben, der Übertritt zu ihrer Lehre jedermann erlaubt und eine christliche Ordnung und Reformation auf einem gemeinen oder Nationalkonzil versprochen.
Aber so weit auch der Kaiser in seinen Zugeständnissen ging, eine Restauration der einheitlichen Kirche, wenn auch nicht ohne Reform, behielt er sich immer noch vor. Auch diese drohte unmöglich zu werden, als der Kurfürst von Köln, Hermann von Wied, sein Stift zu reformieren begann. Hatten die Protestanten erst die Majorität im Kurfürstenkollegium, und griff die Säkularisation der geistlichen Gebiete weiter um sich, so war bei der Stimmung des Volkes die dauernde Begründung des evangelischen Kirchentums durch den Kaiser und die wenigen katholischen Stände nicht mehr rückgängig zu machen und die Protestanten auch nicht mehr theoretisch zur Unterwerfung unter die päpstliche Autorität zu bringen.
Karl unterbrach daher im vierten französischen Krieg (1542-44) seinen Siegeslauf, der ihn bis in die Nähe von Paris [* 88] geführt, schloß 1544 plötzlich mit Franz I. den Frieden von Crépy, in dem er sich mit dem Stande der Dinge vor dem Krieg begnügte, erreichte dann endlich vom Papste die Berufung eines allgemeinen Konzils nach Trient, [* 89] einer zwar südlich der Alpen, [* 90] aber im Reichsgebiet gelegenen Stadt, wo es im Dezember 1545 eröffnet wurde, und forderte nun die Protestanten auf dem Wormser Reichstag (Mai 1545) zur Beschickung desselben auf. Indes diese weigerten sich, weil sie in Trient der überwiegenden Mehrheit italienischer Prälaten gegenüber auf gerechte Behandlung nicht rechnen konnten, und bestanden auf einem freien deutschen Nationalkonzil. Jetzt entschloß sich der Kaiser zur Anwendung von ¶