komplizierter Zusammensetzung oder Gemenge, wie Holz, Torf, Steinkohlen etc. liefern sehr zahlreiche Zersetzungsprodukte, eine
wässerige Flüssigkeit, welche bei stickstofffreien Körpern sauer, bei stickstoffhaltigen alkalisch reagiert, Teer von ungemein
komplizierter Zusammensetzung und Gase. Man macht von der trocknen Destillation auch in der Technik Gebrauch, namentlich werden Steinkohlen,
Braunkohlen, Holz der trocknen Destillation unterworfen, teils um Leuchtgas zu gewinnen, wobei Teer, Ammoniak, Essigsäure;
Methylalkohol als Nebenprodukt gewonnen werden, teils behufs Darstellung von Holzessig, Teer, Paraffin, Photogen, teils auch des
Destillationsrückstandes halber, in welchem Fall die Operation Verkohlung (bei Holz, Tors) oder Verkokung (bei Steinkohle) genannt
wird.
Als Destillationsgefäße (Retorten) benutzt man häufig an einem Ende geschlossene Schamotterohre von
ovalem oder D ^[img]-förmigem Querschnitt, welche in der Regel liegend eingemauert und am vordern offenen Ende mit einem eisernen
Mundstück versehen werden, um einen eisernen, luftdicht schließenden Deckel aufschrauben und ein Dampf- oder Gasableitungsrohr
anbringen zu können. Andre Apparate werden in der Paraffinindustrie, bei der Koksbereitung, bei der Verkohlung
von Holz etc. benutzt.
Im Volksmund heißt Destillation auch s. v. w. Spirituosenhandlung, und Destillieren fälschlich
auch das Extrahieren von Vegetabilien mit Spiritus (Verwechselung mit Macerieren oder Digerieren).
(spr. dätuhsch), 1) Philippe Néricault, franz. Lustspieldichter, geb. 1680 zu
Tours, ward in Paris erzogen, war eine Zeitlang Schauspieler, nach andern Soldat und ging als Gesandtschaftsattaché mit dem
Marquis de Puysieux nach der Schweiz. Hier fand er Muße, sein dichterisches Talent dem Theater zuzuwenden.
Durch den Beifall, den seine Stücke fanden, erwarb er sich die Gunst des Regenten, des Herzogs von Orléans, der ihn 1717 als
Geschäftsträger nach England sandte.
Nach seiner Rückkehr (1723) wurde er zum Mitglied der Akademie gewählt, zog sich aber nach dem Tode des
Regenten vom Theater zurück und starb Seine fünfaktige Komödie »Le glorieux« (1732) ist nach Villemain ein Meisterwerk
der Bühne, in welchem sowohl Stoff, Entwickelung und Charakterzeichnung als auch die Komik und der Stil ausgezeichnet genannt
werden könnten. In seinen übrigen Stücken aber läßt es an komischer Laune und Wahrscheinlichkeit zu
oft fehlen, während sein Stil rein und elegant bleibt; besonders hervorzuheben ist, daß er seine Stücke von Lascivitäten
frei hält. Am meisten Erfolg hatten: »Le philosophe marié« (1727),
»Le dissipateur« (1736),
»La fausse Agnès« (1759),
welche
auch in Deutschland durch Übersetzungen bekannt und beliebt waren. Seine »Œuvres« sind herausgegeben
Amsterdam 1755-59, 5 Bde.; Paris 1822, 6 Bde.; seine »Œuvres choisies« veröffentlichte Auger (das. 1810, 2 Bde.).
2) Paul Emile (eigentlich Detouche), franz. Maler, geb. zu Dampierre, bildete sich unter David, Guérin und Gros und
besuchte später Italien. Anfänglich huldigte er der historischen Richtung, seinen Ruhm erlangte er jedoch
erst, als er sich von der Davidschen
Schule mehr entfernte und das bürgerliche Sittenbild kultivierte. Seine Rückkehr der
gefallenen Tochter ins elterliche Haus (1827), die unterbrochene Unterzeichnung des Ehevertrags und die Liebe als Arzt (1831)
fanden in Aquatintastichen ihres melodramatischen Inhalts wegen große Verbreitung. Destouches starb im Juli 1874 in
Paris.
(destra mano, ital., abgekürzt m. oder nur destra), rechte (Hand), in der Klaviermusik gebräuchliche Anweisung, eine
[* ]
Figur mit der rechten Hand zu spielen.
deTracy (spr. -ütt dö traßi), 1) Antoine Louis Claude, Graf, namhafter philosoph. Schriftsteller, geb. zu
Paris, war beim Ausbruch der französischen Revolution Oberst und Deputierter bei den Generalstaaten. Liberalen
Ideen sich zuneigend, stimmte er für die Abschaffung der Adelsprivilegien, verließ dann im August 1792 mit seinem Freund und
Gesinnungsgenossen Lafayette Frankreich, kehrte aber nach einiger Zeit heimlich nach Paris zurück, wurde in Haft genommen
und erhielt erst nach Robespierres Sturz seine Freiheit wieder.
Während Napoleons Herrschaft war er Senator, und nach der Rückkehr der Bourbonen wurde er zum Pair ernannt.
Er starb als Mitglied des Nationalinstituts Als Philosoph huldigte er dem Sensualismus, insbesondere der Richtung
Condillacs, dessen Lehre er zu dem sogen. Ideologismus weiterbildete. Sein Hauptwerk sind die »Éléments d'idéologie« (Par.
1801-15, 5 Bde.; neue Aufl.,
das. 1824-25). Die beiden letzten Teile des Werkes, den »Traité de la volonté et de ses effets« enthaltend, geben eine Darstellung der
politischen Ökonomie. Von seinen übrigen Schriften ist der »Commentaire sur l'esprit des lois de Montesquieu« (zuerst engl.,
Philad. 1811; franz., Par. 1819;
deutsch von Morstadt, Heidelb. 1820-21, 2 Bde.)
zu erwähnen.
2) Antoine César Victor, Graf, Sohn des vorigen, geb. 1781, machte als Offizier unter dem Kaiserreich die Feldzüge in Spanien
und 1813 in Deutschland mit, nahm 1818 seinen Abschied und widmete sich der Bewirtschaftung seiner Güter. Seit 1827 ununterbrochen
Kammermitglied bis zur Februarrevolution 1848, hielt er sich stets zur Opposition. Im Ministerium des Prinz-Präsidenten
vom erhielt er das Portefeuille der Marine, das er jedoch im Oktober 1849 wieder abgab. Seitdem auf seinen Gütern
zu Paray lebend, starb er daselbst Litterarisch machte er sich durch agronomische und nationalökonomische Arbeiten
bekannt. -
Seine Gattin Marie de Tracy, aus Newtons Familie stammend, geb. 1789 zu Stockport, gest. geistvoll und hochgebildet,
schrieb: »Essais divers, lettres et pensées« (Par.
1855, 3 Bde.) und den vorzüglichen Roman »Martha«.
(spr. däwärscheh), Joseph Marie Adolphe Noël, franz. Orientalist und Archäolog, geb. aus einer
alten Familie der Normandie, studierte auf der Schule der orientalischen Sprachen zu Paris und debütierte
als Gelehrter mit einer Ausgabe von Abulfedas »Vie de Mahomet« (mit Übersetzung und Noten, Par. 1837). In der Folge veröffentlichte
er: »L'histoire de l'Afrique sur la dynastie des Aghlabites« von Ibn Chaldoun (ebenfalls mit Übersetzung, 1841),
machte 1842 eine Reise nach Neapel und Sizilien, um in Bibliotheken und Archiven alles auf die normännischen Ansiedelungen daselbst
Bezügliche zu sammeln, ließ dann eine »Histoire de l'Arabie« (1847) erscheinen, unternahm eine neue Reise nach Griechenland
und dem Orient und ließ sich schließlich auf einer Villa bei Rimini in Italien nieder, wo er über die
etruskischen Altertümer Nachforschungen anstellte. Von der Akademie der Inschriften zum Mitglied ernannt, starb er in
Nizza. Von Schriften sind noch zu erwähnen: »Essai sur Marc-Aurèle d'après les monuments épigraphiques« (1860);
»L'Étrurie
et les Étrusques, ou dix ans de fouilles, etc.« (1864, 2 Bde.
mit Atlas), sein Hauptwerk.
(spr. dähwr), Stadt im franz. Departement Pas de Calais, Arrondissement Boulogne, an der Eisenbahn nach St.-Omer,
mit Überbleibseln eines von Franz I. erbauten Forts (1677 zerstört), einer Krypte aus dem 9. Jahrh. (Wallfahrtsziel vieler
Kranken) und (1876) 3265 Einw., welche Leder, Zement und Fayence fabrizieren.
(Abstammungslehre, Umwandlungs- [Transformations- oder Transmutations-] Theorie), die Lehre, daß die
Lebewesen nicht seit jeher in der Gestalt, welche sie heute zeigen, existiert haben, sondern von anders gestalteten und in der
Regel einfacher organisierten Wesen abstammen, so daß die höhere Organisation einzelner Gruppen als erst
im Lauf der Zeiten ausgebildet betrachtet wird. Ähnlich klingende Ansichten sind schon im Altertum von Empedokles, Anaximandros
und andern Philosophen ausgesprochen worden, in den letzten Jahrhunderten haben mancherlei Theologen und Naturforscher (die
erstern, um die Arche Noah zu entlasten) die Ansicht ausgesprochen, daß wenigstens die einzelnen Arten einer
Gattung, z. B. alle Mitglieder des Geschlechts der Katzen, Papageien, Weiden etc., von einer gemeinsamen Urform abstammen möchten
und zum Teil klimatische Varietäten der Urform sein könnten. Im vorigen Jahrhundert neigten Buffon und Goethe (der letztere
im Anschluß an seine Metamorphosenlehre) diesen Ansichten zu, aber erst Erasmus Darwin (gest. 1802) brachte
die Lehre in ein System, indem er meinte, einige wenige Urwesen könnten durch Selbstzeugung entstanden sein und hätten sich
dann im Laufe vieler Generationen allmählich zu höhern Formen entwickelt.
Als die Umwandlung befördernde Faktoren sah er bereits die Ausbildung der Gliedmaßen durch Gebrauchswirkung
sowie die geschlechtliche Zuchtwahl (s. Darwinismus) an und erklärte auch bereits die rudimentären Gliedmaßen
in dem heutigen
Sinn als Überreste bei der Umwandlung außer Gebrauch gesetzter Gliedmaßen. Jean Lamarck, der gewöhnlich als der Begründer
der Deszendenztheorie angesehen wird, hat nur, wenn auch mit großem Scharfsinn, die Grundgedanken des ältern Darwin
weiter ausgeführt, indem er namentlich die Anpassung der Lebewesen an neue Lebensbedingungen und die Wirkung des Gebrauchs
und Nichtgebrauchs der Gliedmaßen zur Grundlage seines zuerst 1809 in der »Philosophie zoologique« ausführlicher dargelegten
Systems machte und dasselbe bis zu seiner letzten Konsequenz, der Abstammung des Menschen, ebenso wie Goethe
und E. Darwin, verfolgte.
Ähnliche Ansichten wurden auch von den Begründern der sogen. naturphilosophischen Schule in Deutschland, namentlich von Oken,
Treviranus, Schelling u. a., vertreten, obwohl diese mehr an eine planmäßige Entwickelung durch einen in den Lebewesen liegenden
Drang nach höherer Vollendung dachten und sich dabei an die Ergebnisse des Studiums der Entwickelungsgeschichte
(s. d.) anlehnten, wobei sie z. B. die niedern
Tiere wie Embryonalformen oder Hemmungsbildungen des Menschen als Urziel der Entwickelung ansahen.
Diese Form der Deszendenztheorie wird auch gelegentlich als Evolutionstheorie in neuerm Sinn bezeichnet. Eine noch andre Form wurde der Deszendenztheorie durch
Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire gegeben, welcher meinte, die Weltentwickelung (le monde ambiant) und die
mit derselben gegebene Veränderung der äußern Umstände, des sogen. Mittels, hätten den Hauptanteil an der Fortbildung
der Wesen zu höhern Formen gehabt. Alle diese Theorien hatten keinen durchgreifenden Erfolg, diejenigen von Erasmus Darwin und
Lamarck wurden von den exakten Naturforschern kaum beachtet; die Ansichten Geoffroys de Saint-Hilaire wurden
in erbitterter Weise durch Cuvier als Vertreter des Konstanzdogmas bekämpft, während die naturphilosophische Schule in Deutschland
namentlich durch E. v. Baer widerlegt wurde.
Obwohl vor einigen Jahrzehnten die Wahrheit der Deszendenztheorie durch den Verfasser der »Vestiges of
creation« und durch Louis Büchner von neuem verteidigt wurde, blieben doch alle diese Versuche erfolglos,
bis Darwin und Wallace in der natürlichen Zuchtwahl ein mechanisches Prinzip nachwiesen, durch welches das Fortschreiten der
Wesen verständlich wird. Die Darwinsche Theorie (s. Darwinismus) ist die einzige Form der Deszendenztheorie, die sich bis heute lebensfähig
erwiesen hat, und einige derselben in neuerer Zeit entgegengestellte Theorien, wie z. B. die der Heterogenesis
oder sprungweisen Entwickelung Köllikers, haben so gut wie keine Beachtung gefunden. Die ältere Geschichte der Deszendenztheorie findet
man bei Krause, Erasmus Darwin (Leipz. 1880), die neuere in Häckels »Schöpfungsgeschichte« (7. Aufl.,
Berl. 1879). In Bezug auf Goethes Verhältnis zur Deszendenztheorie vgl. Kalischer, Goethes Verhältnis zur Naturwissenschaft
(Berl. 1878). Vgl. Evolutionstheorie.
(franz., spr. -tasch'māng), eine zur Erfüllung
eines selbständigen Auftrags von dem Hauptkorps abgesendete, meist aus allen Waffengattungen zusammengesetzte Truppenabteilung.
Je nach dem Zweck des Detachements spricht man von einem Beobachtungs-, Rekognoszierungs-, Vorposten- und
Flanken-Detachement.
Man macht alle Detachements so schwach,
mehr
wie es irgend der Zweck erlaubt, um nicht die Hauptkräfte unnötig zu schwächen.
Interessant ist »Die Unternehmung des Detachements
von Boltenstern im Loirthal« (»Kriegsgeschichtliche Einzelschriften«, Heft 1, Berl. 1883).
Vorrichtungen, welche ermöglichen, das zu Wasser gelassene Boot sehr schnell aus der Verbindung mit
dem Schiff (hergestellt durch die Bootstaljen) zu befreien, um das Zerschlagen des Boots an der Schiffsseite
zu verhindern. Von guten derartigen Apparaten muß verlangt werden: Einfachheit der Konstruktion, Bedienung des Detachierapparats
durch eine einzige Person, damit beide Bootsenden gleichzeitig (vor allem nicht der Bug früher als das Hinterende) von der
Verbindung befreit werden. Ob diese einheitliche Aktion vom Borde des Schiffs aus oder im Boot selbst ausgeübt
wird, ist dabei nebensächlich.
Das Zuwasserbringen des Boots muß auf ebenem Kiel geschehen und bei automatisch wirkenden Apparaten die Detachierung erst eintreten,
wenn das ganze Bootsgewicht vom Wasser aufgenommen ist. Ein einseitiges Detachieren durch Hebung des einen
Bootsendes infolge einer unterlaufenden See muß ausgeschlossen sein. Wenn irgend angängig, muß die Wiederherstellung der
Verbindung des rückkehrenden Boots mit den Bootstaljen, d. h. mit dem Schiff, in gleicher Schnelligkeit und Zuverlässigkeit
sich vollziehen. Über den Wert derartiger, nach vielen Systemen existierender Einrichtungen ist das Urteil des praktischen
Seemanns sehr geteilt; die Zahl derjenigen, welche jeden besondern Detachierapparat verwerfen und
auf Rückkehr zu den ältern Einrichtungen dringen, wobei nur der Heißstropp den Haken, die Bootstalje das korrespondierende
Auge oder die Kausche aufnimmt, statt umgekehrt, ist keineswegs klein.
(franz., spr. -táj), die einzelnen Teile eines
größern Ganzen, Einzelheiten, das Einzelne; en détail, in der Kaufmannssprache der dem Handel en gros entgegengesetzte Kleinhandel
(Detailhandel), daher Detaillist oder Detailleur, ein Klein- oder Ausschnitthändler; detaillieren, etwas en détail behandeln,
es ins einzelne eingehend, genau, umständlich erörtern oder ausführen. - In der Kunstsprache bezeichnet
man mit Detail einzelne Partien oder Teile eines Ganzen, im Gegensatz zum Ensemble, der Gesamtwirkung.
Die stärkere oder geringere Betonung, die mehr oder minder eingehende Behandlung des Detail ist eng mit dem Überwiegen der idealistischen
oder realistischen Kunstrichtung verwachsen. Während die idealistische das Detail meist als nebensächlich
betrachtet, legt die realistische einen großen Wert darauf. Schon in der Kunst des ägyptischen und griechischen Altertums
gehen beide Strömungen in einzelnen Perioden nebeneinander her. In der griechischen Plastik bevorzugte besonders die rhodisch-pergamenische
Schule die Ausbildung des Detail, in der spätern Kunst die pompejanische Wandmalerei (Stillleben) und die römische
Porträt- und Geschichtsbildnerei.
Mit der Wiedererwachung des Naturgefühls durch die niederländische Schule der van Eycks trat dann die sorgfältige Behandlung
des Detail wieder in den Vordergrund, und daraus entwickelte sich allmählich die Stillleben-, Blumen- und Früchtemalerei. In der
modernen Malerei hat die Ausbildung des Detail wieder eine große
Bedeutung gewonnen, welche von einer Gruppe
von Künstlern (Malern und Bildhauern) bis zur miniaturartigen Feinheit und photographischen Treue getrieben wird. Detailzeichnung,
geometrische Zeichnung im großen Maßstab von solchen einzelnen Baugegenständen, die in dem kleinen Maßstab des Baurisses
nicht deutlich genug angegeben werden konnten; auch s. v. w. Situationszeichnung.
(spr. -táj), Edouard, franz.
Maler, geb. zu Paris, trat mit 17 Jahren in das Atelier Meissoniers und stellte schon 1867 sein erstes Bild, das Atelier
seines Meisters, im Salon aus. Bei seiner Vorliebe für Soldaten und Pferde widmete er sich aber besonders dem militärischen
Genre und hatte bereits sowohl auf diesem Gebiet (Kürassiere ihre Pferde beschlagend, die Rast der Trommler)
als mit eleganten, geistreich und lebendig gezeichneten Kostümbildern aus der Revolutionszeit (Eckplatz eines Cafés, die
Incroyables) schöne Erfolge erzielt, als der Krieg von 1870 ausbrach, welchen er anfangs als Mobilgardist mitmachte.
Seine Kunst war fortan der Verherrlichung der Tapferkeit und des Edelmuts seiner Landsleute gewidmet, und
da er glückliche Wahl der Motive mit großer Lebendigkeit der Darstellung und höchster Virtuosität der Zeichnung zu verbinden
wußte, errangen seine Kriegsbilder eine ausgedehnte Popularität, welche durch den Chauvinismus des Malers noch gehoben wurde.
Seine Hauptwerke sind: die Sieger (1872), plündernde Preußen vor Paris, die Kürassiere von Maursbronn
(1874), das Regiment auf dem Boulevard (1875), die Rekognoszierung (1876), Gruß den Verwundeten (1877), die Verteilung der
Fahnen an die Armee (1881, in großem Maßstab und deshalb die Kraft des Kleinmalers Detaille überschreitend) und das Panorama der
Schlacht von Champigny (1882, im Verein mit A. de Neuville). Detaille ist auch ein ausgezeichneter Aquarellmaler
und veröffentlichte das Prachtwerk »L'armée française« (mit Text von Richard, 1885). Er ist Offizier des Ordens der Ehrenlegion.
(engl., spr. ditécktĭw), in England und Amerika ein Mitglied der Entdeckungs- oder geheimen Polizei, daher
man auch in Deutschland einen Geheimpolizisten einen Detektive nennt.
(lat.), in der Mathematik gewisse Zahlenverbindungen, auf welche man bei Berechnung der Unbekannten aus
einem System linearer Gleichungen kommt. Berechnet man auf gewöhnliche Weise x und y aus den zwei Gleichungen
a1x + b1y = k1 ^[a1x + b1y = k1]
a2x + b2y = k2 ^[a2x + b2y = k2],
in denen a, b und k bekannte Größen sind und die ihnen unten angehängten Ziffern (Indices) die Nummer
der Gleichung bezeichnen, so erhält man
Der gemeinschaftliche Nenner der beiden Formeln, a1b2 - a2b1, heißt nun die Determinante der
Größen ^[img] und wird mit ^[img] bezeichnet. Man sieht ferner, daß der Zähler von x aus dem Nenner erhalten wird, wenn
man k an die Stelle von a setzt, und ebenso wird der Zähler von y aus dem Nenner
mehr
erhalten, wenn man b durch k ersetzt. Die Zähler von x und y sind daher ebenfalls Determinánten, und zwar ist der Zähler von x gleich
^[img], der Zähler von y aber gleich ^[img]. Ähnlich ist es auch bei n Gleichungen mit n Unbekannten. Als Beispiel mögen die
vier Gleichungen
a1x + b1y + c1z + d1t = k1
a2x + b2y + c2z + d2t = k2
a3x + b3y + c3z + d3t = k3
a4x + b4y + c4z + d4t = k4
^[a1x + b1y + c1z + d1t = k1
a2x + b2y + c2z + d2t = k2
a3x + b3y + c3z + d3t = k3
a4x + b4y + c4z + d4t = k4]
mit den Unbekannten x, y, z, t dienen. Durch das gewöhnliche Eliminationsverfahren, bei welchem man aber alle gemeinschaftlichen
Faktoren entfernen muß, erhält man x, y, z und t in Form von Brüchen, welche als Nenner den Ausdruck haben:
a1b2c3d4 - a1b2c4d3 - a1b3c2d4 + a1b3c4d2
+ a1b4c2d3 - a1b4c3d2 - a2b1c3d4 + a2b1c4d3
+ a2b3c1d4 - a2b3c4d1 - a2b4c1d3 + a2b4c3d1
+ a3b1c2d4 - a3b1c4d2 - a3b2c1d4 + a3b2c4d1
+ a3b4c1d2 - a3b4c2d1 - a4b1c2d3 + a4b1c3d2
+ a4b2c1d3 - a4b2c3d1 - a4b3c1d2 - a4b3c2d1,
^[a1b2c3d4 - a1b2c4d3 - a1b3c2d4 + a1b3c4d2
+ a1b4c2d3 - a1b4c3d2 - a2b1c3d4 + a2b1c4d3
+ a2b3c1d4 - a2b3c4d1 - a2b4c1d3 + a2b4c3d1
+ a3b1c2d4 - a3b1c4d2 - a3b2c1d4 + a3b2c4d1
+ a3b4c1d2 - a3b4c2d1 - a4b1c2d3 + a4b1c3d2
+ a4b2c1d3 - a4b2c3d1 - a4b3c1d2 - a4b3c2d1,]
^[Berichtigung: das letzte Glied müßte addiert, nicht subtrahiert werden]
welchen man die Determinante der Größen
a1 b1 c1 d1
a2 b2 c2 d2
a3 b3 c3 d3
a4 b4 c4 d4
^[a1 b1 c1 d1
a2 b2 c2 d2
a3 b3 c3 d3
a4 b4 c4 d4]
nennt und dadurch bezeichnet, daß man die vorstehende Zahlengruppe links und rechts durch einen Vertikalstrich einschließt.
Die Zähler von x, y, z und t sind ebenfalls Determinánten, und zwar erhält man die vier Zähler, wenn man im Nenner der Reihe nach a, b,
c, d durch k ersetzt. - Was das Bildungsgesetz der Determinante betrifft, so besteht letztere aus 24 Gliedern,
von denen 12 das Zeichen plus, 12 das Zeichen minus haben. Erstes Glied ist das Produkt a1b2c3d4 ^[a1b2c3d4], in
welchem die Indices in der natürlichen Reihenfolge 1 2 3 4 stehen.
Aus diesem ersten Glied, welches das Pluszeichen hat, erhält man alle andern, wenn man die vier Indices
auf alle möglichen Arten versetzt (permutiert). Da die Anzahl der Permutationen von 4 Elementen gleich 1 . 2 . 3 . 4 = 24 ist,
so hat unsre Determinante 24 Glieder. Man kann nun die sämtlichen Permutationen durch successive Vertauschung von
je 2 Indices bilden, und ein Glied hat das Zeichen plus, wenn es aus dem ersten Glied a1b2c3d4 ^[a1b2c3d4] hervorgeht
durch eine gerade Anzahl von Vertauschungen je zweier Indices, dagegen das Zeichen minus, wenn die Anzahl dieser Vertauschungen
ungerade ist. Es hat also im Ausdruck unsrer Determinante das Glied a3b4c1d2 ^[a3b4c1d2] das
Pluszeichen, denn man erhält aus der Reihenfolge 1 2 3 4 durch Vertauschung von 1 mit 3 und von 2 mit 4, also durch zwei
Vertauschungen, die gewünschte Folge 3 4 1 2. Dagegen hat a4b3c1d2 ^[a4b3c1d2] das Zeichen minus, denn man hat
drei Vertauschungen, 1 gegen 4, dann 1 gegen 3 und noch 3 gegen 2, vorzunehmen, um aus 1 2 3 4 der Reihe
nach 4 2 3 1, 4 2 1 3 und endlich 4 3 1 2 zu erhalten. - Leibniz gebührt das Verdienst, zuerst auf die Determinánten aufmerksam gemacht
zu haben.
Die Anwendung dieser Funktionen ist aber nicht beschränkt auf das oben besprochene Problem der Lösung eines
Systems linearer Gleichungen. Die wirkliche Ausführung der Rechnung in Determinantenform würde sogar bei Zahlengleichungen,
wenn deren Anzahl einigermaßen beträchtlich ist, wenig zu empfehlen sein. Vielmehr kommen Determinánten in den
verschiedensten Gebieten der Mathematik vor, und ihr Hauptnutzen besteht darin, daß sie eine
symbolische
Darstellung der Resultate komplizierter Rechnungen gestatten, ohne daß es der wirklichen Ausführung bedarf, während es möglich
ist, aus den symbolischen Formen weitere Schlüsse zu ziehen, damit zu rechnen etc. Zu dem Zweck muß man natürlich die Eigenschaften
der Determinánten kennen, über welche die Lehrbücher nachzulesen sind.
Vgl. Diekmann, Einleitung in die Lehre von
den Determinánten (Essen 1876);
Baltzer, Theorie und Anwendung der Determinánten (5. Aufl., Leipz.
1882);
Günther, Lehrbuch der Determinantentheorie (2. Aufl., Erlang. 1877).
(lat.), Bestimmung, logische Operation, vermöge deren einem Allgemeinbegriff bestimmende Merkmale hinzugefügt
werden, wodurch man zu einem dem Inhalt nach reichern, dem Umfang nach jenem untergeordneten Begriff gelangt.
Die Logik drückt den Grundsatz, daß ein durch ein bestimmtes Merkmal schon determinierter Begriff ohne Widerspruch nicht auch
durch das entgegengesetzte Merkmal bestimmt werden kann, durch den Satz des ausgeschlossenen Dritten (principium exclusi medii
inter duo contradictoria) oder den Satz der durchgängigen Bestimmbarkeit (principium omnimodae determinationis)
aus, welcher also lautet: Von zwei entgegengesetzten Bestimmungen, wenn sie überhaupt auf einen Begriff sich beziehen, kann
in derselben Beziehung nur die eine ihm beigelegt werden, während die andre ihm abzusprechen ist.
(lat.), im allgemeinen ein Bestimmtsein durch Gründe, in besonderer Anwendung auf das menschliche Wollen
die Abhängigkeit des letztern von Motiven der Intelligenz. In letzterm Sinn steht der Determinismus ebenso dem Indeterminismus, welcher
die gänzliche Unabhängigkeit des Wollens von Gründen jeder Art, wie dem Fatalismus gegenüber, welcher die Abhängigkeit
des Wollens von außerhalb der Intelligenz gelegenen Gründen lehrt. Jener, der auch transcendentale Freiheit
heißt, erklärt, indem er jeden bestimmenden Einfluß von Gründen jeder Art auf das Wollen, auch den der Vernunft und der Einsicht,
in Abrede stellt, damit auch jede Leitung und Vervollkommnung des Wollens durch Erziehung und Unterricht für unmöglich.
Dieser, indem er jeden Einfluß der Intelligenz auf das Wollen verwirft, hebt nicht nur, wie es seine Absicht
ist, die Freiheit des Wollens, sondern das Wollen selbst auf, dessen Unterschied vom bloßen Streben und Begehren eben darin besteht,
intelligentes, d. h. mit der Vorstellung der Erreichbarkeit des Begehrten verbundenes, Streben zu sein.
Der Determinismus, indem er das Wollen einerseits bloßer Naturgewalt entzieht, anderseits dem Kausalgesetz der Motivierung durch Gründe
der Intelligenz unterwirft, befreit von der Knechtung durch äußern Zwang und ermöglicht jene Herrschaft der Vernunft über
das Wollen, worin die wahre (d. h. die sittliche) Willensfreiheit (s. Wille) besteht. Der Vorwurf, daß der
Determinismus die Zurechnung der That und die persönliche Verantwortung aufhebe, ist unbegründet; derselbe trifft vielmehr die beiden
Gegensätze desselben: den Indeterminismus, weil er nur blindes, grundloses Wollen (d. h. Willkür, Laune), den Fatalismus, weil er
kein (wirkliches) Wollen, sondern nur durch physische Reize erzwungenes Begehren kennt. Determinist, einer, der dem Determinismus huldigt.
[* ] Haupt- und Residenzstadt des Fürstentums Lippe, freundlich gelegen am östlichen Fuß des Teutoburger Waldes,
zwischen der Werre und einem linken Seitenbach (Berlebecke), an der Linie Herford-Detmold der Preußischen Staatseisenbahn,
hat eine reformierte, eine lutherische und eine katholische Kirche, ein altes Residenzschloß im Renaissancestil, ein neues
Palais (Residenz des Fürsten), einen großen Park auf dem Büchenberg mit dem fürstlichen Mausoleum, ein Theater, Landkrankenhaus,
Zuchthaus, Gasbeleuchtung und (1880) mit der Garnison (1. Bataillon Nr. 55) 8053 meist protest. Einwohner,
welche Bierbrauerei, Fabrikation von Etiketten, Steinnußknöpfen, Tabak und Zigarren, Bildhauerei in Holz und Stein u. a. betreiben.
Detmold ist Sitz der Landesbehörden, eines Landgerichts (für die neun Amtsgerichte zu Alverdissen, Blomberg, Detmold, Hohenhausen, Horn,
Lage, Lemgo, Örlinghausen und Salzuflen), eines Amtsgerichts und hat ein Gymnasium, ein Realprogymnasium,
eine höhere Töchterschule, ein Lehrerseminar mit Taubstummenanstalt, eine Gewerbeschule, ein Waisenhaus, eine öffentliche
Bibliothek und ein naturhistorisches Museum. Die städtischen Behörden bestehen aus dem Magistrat von 5 und dem Stadtverordnetenkollegium
von 18 Mitgliedern; die Presse ist vertreten durch drei Zeitungen. - Zwischen Detmold und Horn, auf dem sogen.
Winnfeld, fand nach gewöhnlicher Annahme die Varusschlacht statt.
Aus Karls d. Gr. Zeit ist Theotmalli, Thiatmelle (»Volksgericht«)
als Schauplatz eines Siegs über die Sachsen (Mai 783) bekannt. 1011 schenkte König Heinrich II. den Gau von an das Bistum Paderborn,
welches später die edlen Herren von Lippe damit belehnte. Um 1350 erhielt Detmold unter der Regierung des Grafen
Otto von Lippe Stadtrechte. Während der Soester Fehde wurde es 1447 von den hussitisch-böhmischen Kriegshorden erobert, 1547 mit
der Burg durch einen Brand zerstört. Simon V. (gest. 1536) erbaute das jetzige Schloß und umgab es mit Wall und Graben. Detmold ist
Geburtsstadt der Dichter Grabbe und Freiligrath. 5 km von der Stadt liegt die Grotenburg mit dem kolossalen Hermannsdenkmal,
dessen Besuch der Stadt zahlreiche Touristen zuführt, und 7 km das fürstliche Jagdschloß Lopshorn mit Gestüt.
Vgl. Thorbecke,
Reisehandbuch für den Teutoburger Wald, Detmold etc. (Detm. 1882).
Johann Hermann, Mitglied der deutschen Nationalversammlung, geb. zu Hannover, widmete sich in Göttingen
und Heidelberg juristischen Studien, ließ sich 1830 in Hannover als Advokat nieder, beschäftigte sich aber nebenbei viel mit
Kunststudien und schrieb eine »Anleitung zur Kunstkennerschaft« (Hannov.
1833, 2. Aufl. 1845), einen Lokalscherz voll frischen Humors und scharf einschneidender Satire. Auch für
Poesie hatte er Interesse und war mit Heinrich Heine befreundet.
Nach Aufhebung des hannöverschen Staatsgrundgesetzes 1838 zum Deputierten der Stadt Münden erwählt, beteiligte er sich an
dem passiven Widerstand gegen die
neue Verfassung sowohl in der Kammer als in Zeitungskorrespondenzen und Privatbriefen
und ward deshalb von der Regierung auf alle Weise verfolgt und 1843 zu einer Gefängnis- und Geldstrafe verurteilt. Er veröffentlichte
damals die »Randzeichnungen« (Braunschw.
1843), die zu dem Besten im Genre der feinen Satire gehören.
Konservativen Grundsätzen huldigend, zeigte er sich den revolutionären Bewegungen von 1848 entschieden abgeneigt, und im
Mai 1848 im Osnabrückschen in die deutsche Nationalversammlung gewählt, schloß er sich der äußersten Rechten an. Als Mitglied
des Verfassungsausschusses gehörte Detmold zu den wenigen, die sich aufs entschiedenste den Grundrechten und dem Verfassungsentwurf
widersetzten und an dem Vereinbarungsstandpunkt festhielten. Viele Gegner machte er sich damals durch die Satire »Thaten
und Meinungen des Herrn Piepmeyer« (Frankf. 1849). In der Oberhauptsfrage opponierte er entschieden dem preußischen Kaisertum.
Daher ließ er sich auch bewegen, nach Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. und dem Rücktritt Gagerns in das
vom Reichsverweser gebildete neue Ministerium einzutreten, welches Österreich die Rückkehr zu den alten Verhältnissen
ermöglichen sollte. Er übernahm das Portefeuille der Justiz, bald darauf, nach Grävells Austritt, auch noch das des Innern
und hielt allen Versuchen gegenüber, das Ministerium und mit ihm den Reichsverweser zum Rücktritt zu bewegen, so lange stand,
bis der Reichsverweser selbst die Gewalt der Bundeszentralkommission übergab. Detmold ging nach
Hannover zurück und wurde bald darauf vom König zum hannöverschen Bevollmächtigten bei der provisorischen Bundeszentralkommission,
nachher zum Gesandten beim Bundestag ernannt. In dieser Stellung wirkte er dahin, das Bundesrecht wieder zum Ausgangspunkt der
Ordnung der deutschen Verhältnisse zu gewinnen. Durch das Ministerium Münchhausen von seinem Frankfurter Posten abgerufen,
kehrte Detmold im Juli 1851 nach Hannover zurück, wo er starb.
tripŏdedictum (lat.), vom Dreifuß herab gesprochen, d. h. ein orakelmäßiger Ausspruch, von
dem Dreifuß, auf welchem die Apollonpriesterin Pythia saß, wenn sie Orakelsprüche erteilte.
(spr. ditreut), größte Stadt im nordamerikan.
Staat Michigan, am 1 km breiten Detroitfluß, der den St. Clairsee mit dem Eriesee verbindet, mit vorzüglichem
Hafen und Knotenpunkt zahlreicher Eisenbahnen. Am Fluß liegen Mühlen, Werften, Fabriken, Korn- und Warenspeicher und der großartige
Güterbahnhof der Michiganbahn, hinter welchem die schöne, ja teilweise glänzend gebaute Stadt sich über eine Ebene von
mäßiger Erhebung ausbreitet. Ein Park (Grand Circus) bildet den Mittelpunkt derselben, und von ihm laufen
breite, von Bäumen beschattete Straßen strahlenförmig nach allen Richtungen aus.
Aber in diesen Stern hat man noch ein rechtwinkeliges Straßennetz hineingebaut, so daß der Plan stellenweise ein ziemlich
verwickelter ist. Am Campus Martius, das ein Kriegerdenkmal ziert, erheben sich die neue, aus Sandstein
erbaute City Hall und das glänzende Opernhaus. An sonstigen öffentlichen Gebäuden sind zu erwähnen: das Zoll- und Postamt,
die Handelskammer und ein Zuchthaus. Unter den zahlreichen Kirchen zeichnet sich die katholische Kathedrale aus.
Handel und Gewerbe blühen. Im J. 1880 beschäftigten die 919 gewerblichen Anstalten 16,110 Arbeiter in 31 Kleiderfabriken, 7 Eisen-
und Stahlfabriken, 69 Stiefelfabriken, 41 Kornmühlen, 24 Gießereien und Maschinenbauwerkstätten, 28 Brauereien, 7 Schlächtereien, 62 Tabaksfabriken
etc. Zum Hafen gehörten 1884: 309 Schiffe von 93,546 Ton. Gehalt; der Handel geht hauptsächlich nach Kanada; ausgeführt wurden
namentlich: Getreide, Holz, Wolle, Fleisch und Kupfer (von den benachbarten Kupferschmelzen), zusammen im
Wert von 3,397,057 Doll., während die Einfuhr sich auf 1,851,825 Doll. belief. Es liefen 1883-84 in den Hafen vom Ausland ein 2937 Schiffe
von 225,583 T. Das Schulwesen ist gut geordnet. Die öffentliche Bibliothek enthält 30,000 Bände. - Schon 1610 ließen sich
französische Händler an der Stelle der heutigen Stadt nieder; doch erst 1701 erhielt diese Niederlassung,
durch das Fort Pontchartrain geschützt, Bedeutung.
Der Ort blieb seitdem ein wichtiger Militärposten und im Besitz der Franzosen bis 1759. Nach Beendigung des französisch-indianischen
Kriegs kam er in die Hände der Engländer und wurde durch den Frieden von Versailles 1783 an die Vereinigten Staaten
abgetreten. 1805 bis auf ein Haus niedergebrannt, wurde Detroit schöner als zuvor wieder aufgebaut, fiel 1812 im englisch-amerikanischen
Krieg in die Macht der Engländer, wurde aber schon 1813 von den Amerikanern zurückerobert. Seine Wichtigkeit als Handelsplatz
entfaltete sich erst seit Errichtung der Dampfschiffahrt auf den kanadischen Seen. Seitdem hat sich die
Bevölkerung in steigender Progression vermehrt. Während sie 1820: 1842 und 1840: 9192 Seelen betrug, zählte Detroit 1870: 79,577
und 1880: 116,340 Einw.
Troy (spr. trŏa), Jean François, franz. Maler, geb. 1679 zu Paris, Schüler seines Vaters, des Porträtmalers François
De Troy (1645-1730), ging nach Italien, wo er bis zu seinem 27. Jahr blieb, und wurde nach seiner Rückkehr
auf Grund einer Darstellung der Niobe und ihrer getöteten Kinder Mitglied und 1719 Professor der Akademie. Im J. 1738 wurde er
Direktor der französischen Akademie in Rom und starb daselbst, im Begriff nach Frankreich zurückzukehren, Er
hat eine große Zahl von mythologischen, biblischen und historischen Gemälden für Kirchen und Schlösser geistvoll, aber
flüchtig und ohne Wahrheit ausgeführt. (Hauptbilder: das Kapitel der Ritter des Heiligen Geistes, im Louvre zu Paris; die Pest,
in Marseille.) Ungleich wertvoller und kulturgeschichtlich wichtiger sind seine anmutigen Genrebilder
aus der Gesellschaft seiner Zeit, die zu den liebenswürdigsten Schöpfungen der Rokokozeit gehören (das Austernfrühstück
beim Herzog von Aumale; das Frühstück, im Museum zu Berlin; die Liebeserklärung, im königlichen Schloß daselbst).
Stadt im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken, Bezirksamt Kitzingen, 187 m ü. M., am Main und an der Würzburg-Nürnberger
Eisenbahn, Sitz eines Amtsgerichts, hat ein gotisches Rathaus, ein Frauenkloster mit Erziehungsanstalt, vorzüglichen Weinbau
(Dettelbacher), Steinbrüche, Mühlenbetrieb und (1880) 2217 fast nur kathol.
Einwohner. In der Nähe Wallfahrt mit einem 1505 erbauten Kloster, zu dessen Kirche wegen eines wunderthätigen Marienbildes
(»Vesperbild«) stark gewallfahrtet wird. Schon zu Anfang des 9. Jahrh. stand an der Stelle von Dettelbach der königliche Meierhof
Tetelbach, der damals der uralten Abtei zu Kitzingen gehörte. Im 14. Jahrh. kam an das Hochstift Würzburg,
und 1484 erhielt es städtische Gerechtsame.
1) Kirchdorf im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken und Aschaffenburg, Bezirksamt Alzenau, am Main, 15 km unterhalb
Aschaffenburg, mit (1880) 657 Einw. und Zündhölzerfabrik. Hier
im österreichischen Erbfolgekrieg Sieg der verbündeten Engländer, Hannoveraner und Österreicher (der
sogen. pragmatischen Armee), 42,000 Mann stark, unter Georg II. von England über die Franzosen unter Noailles welche
den Verbündeten den Weg von Aschaffenburg nach Hanau hatten verlegen wollen.
Vgl. Steiner, Beschreibung der Schlacht von Dettingen (2.
Aufl., Darmst. 1834). -
2) (Dettingen unter Urach) Marktflecken im württembergischen Schwarzwaldkreis, Oberamt Urach, 394 m ü. M., an der
Erms und an der Linie Metzingen-Urach der Württembergischen Staatsbahn, hat eine alte Kirche, ein Schloß, eine Papierfabrik,
Baumwollspinnerei und -Weberei, Obst- und Weinbau und (1880) 3119 evang. Einwohner. Das Schloß gehörte früher den Grafen von
Achalm und kam bald an Württemberg. Graf Eberhard errichtete hier 1482 ein Chorherrenstift, das jedoch 1516 wieder
aufgehoben wurde.
1) Wilhelm, Opernsänger (Baß), geb. zu Breinum bei Hildesheim als Sohn eines Bauern, erhielt seine
Schulbildung am Andreanum zu Hildesheim und später am Schullehrerseminar in Alfeld, das er aber bald verließ, um sich
mehr
wandernden Schauspielern anzuschließen. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er von seinem Direktor Santo, und bald fand er
Engagements in Hannover, Braunschweig, Breslau, Kassel, wo Spohr für ihn vom günstigsten Einfluß war, und Frankfurt a. M. Im
J. 1842 gastierte Dettmer, bereits auf hoher Stufe der Künstlerschaft stehend, am Hoftheater in Dresden, wo
er auch engagiert wurde und, nachdem er sich noch unter Mieksch' Leitung im Kunstgesang vervollkommt hatte, eine Reihe von
Jahren hindurch der Liebling des Publikums war. Nichtsdestoweniger vertauschte er in den 60er Jahren das Dresdener Theater mit
dem zu Frankfurt a. M., und hier wurde er bis zu seinem Rücktritt von der Bühne 1874 als Sänger und Darsteller
nicht minder gefeiert. Er starb daselbst
2) Friedrich, Schauspieler, Sohn des vorigen, geb. zu Kassel, ging, anfänglich zum Klaviervirtuosen bestimmt, heimlich
zur Bühne, die er in Basel
1852 zuerst betrat, und erhielt 1853 ein Engagement in Danzig. Nach kürzerm Aufenthalt
in Weimar (1855) und Hamburg (1855-56) wurde er 1856 Mitglied der Hofbühne zu Dresden und nahm dann ein abermaliges Engagement
in Hamburg (1859-1860), um 1860 an das Dresdener Hoftheater zurückzukehren, wo er nun bis an seinen Tod eine sehr erfolgreiche
Thätigkeit entfaltete. Er starb Dettmer erinnerte an Emil Devrient, dessen ganzes Rollenfach er
sich angeeignet hatte, ohne ihn zu kopieren. Er besaß ein klangvolles, modulationsfähiges Organ, eine edle und charakteristische
Haltung und ein natürliches, fein abgerundetes Spiel. Hauptrollen von ihm waren: Hamlet, Egmont, Uriel, Tell, Posa, Bolz, Fiesco,
Richard II. etc. Früher wirkte Dettmer auch in der Oper mit, wozu ihn eine sympathische Baritonstimme befähigte;
er sang den Barbier, Papageno, Scherasmin, Simeon, Don Juan u. a.
Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft und Amtshauptmannschaft Dresden, an der Weißeritz, im Plauenschen
Grund und an der Dresden-Chemnitzer Eisenbahn, mit schöner Kirche, Samt-, Schmirgel-, Wasserglas-, Pappenfabrikation und (1880) 6115 meist
evang. Einwohnern.
nach griech. Mythe Sohn des Prometheus und der Klymene, Enkel des Iapetos, Herrscher im thessalischen Phthia
und Gemahl der Pyrrha, des Epimetheus und der Pandora Tochter. Er verfertigte, als Zeus das Menschengeschlecht zu vertilgen beschlossen
hatte, auf den Rat der Götter oder seines Vaters Prometheus einen hölzernen Kasten (Arche), in welchem er
während der neuntägigen Flut auf den Wassern herumfuhr und endlich, von allen Menschen mit Pyrrha allein gerettet, auf dem
Parnassos (nach andern auf dem Othrys in Thessalien, dem Ätna oder dem Athos) landete.
Nach seiner Landung opferte er dem Zeus, und auf die Erklärung des Gottes, ihm einen Wunsch zu bewilligen,
bildete er durch »Gebeine der großen Mutter« (Steine aus der Erde), die von ihm und Pyrrha rückwärts geworfen wurden, Menschen
und wurde so der Stammvater des neuen Menschengeschlechts. Mit dem neuen Geschlecht gründete Deukalion
ein Reich, ungewiß wo, und
zeugte mit Pyrrha den Hellen, Amphiktyon und die Protogeneia. Zum Andenken der Flut soll er das Trauerfest
der Hydrophorien zu Athen gestiftet haben.
(spr. döl), Fluß im franz. Departement Nord, entspringt nahe bei Carency unter diesem Namen, dient mit Hilfe mehrerer
Schleusen zur Verbindung zwischen Lille, Lens und Douai, nimmt bei Lille die Marque auf und mündet nach einem
Laufe von 86 km bei Deulemonde in die Lys.
Dorf im russ. Gouvernement Moskau, Kreis Dmitrow, unweit des Dreifaltigkeitsklosters, ist bekannt durch den
Vertrag von 1618, in welchem der polnische Prinz Wladislaw der russischen Krone entsagte und der Zar Michael
Feodorowitsch als rechtmäßiger Herrscher Rußlands von den Polen anerkannt wurde.
(spr. dē-us), João de, portug. Lyriker der Gegenwart, geb. zu São Bartolomeu de Messines in Algarve,
lebte lange Zeit zu Coimbra, wo er seit 1849 Rechtswissenschaft studiert hatte, nahm dann (1862) seinen
Aufenthalt in Beja und zuletzt in seiner Vaterstadt, die ihn 1868 zum Abgeordneten nach Lissabon wählte. Deus gilt bei seinen
Landsleuten für den Begründer einer neuen Ära der portugiesischen Poesie. Seine Gedichte, die sich durch schlichte Volkstümlichkeit
und Ursprünglichkeit auszeichnen, erschienen gesammelt unter den Titeln: »Flores do campo« (Lissab. 1870),
»Ramo de flores«
(Porto 1870) und »Folhas soltas« (das.
1876).
sprichwörtlich gewordener Ausdruck für die durch plötzliches Dazwischentreten einer Person oder eines
Zufalls bewirkte und unerwartet günstige Lösung eines tragisch geschürzten Knotens im Drama oder auch im Roman. Ursprünglich
kommt der Ausdruck von der antiken Tragödie her, in welcher es häufig geschah, daß die Katastrophe durch
einen vermittelst der Maschinen herabgelassenen helfenden Gott zur Befriedigung der Zuschauer plötzlich gelöst wurde.
Dahin gehört z. B. die Erscheinung des Herakles im »Philoktet« und der Artemis in der »Iphigenia in Tauris«. In den modernen
Zauberspielen geschieht dies noch jetzt, und im modernen Lust- und Schauspiel sowie im Roman kann man jeden
Inkognitofürsten oder reichen ostindischen Onkel etc., der wie aus den Wolken fällt, um den Konflikt zu lösen, einen Deus ex machina nennen.
Auch auf plötzlich eintretende Ereignisse im gewöhnlichen Leben hat man den Ausdruck übertragen.
(auch Deuterolog), im Drama der alten Griechen der von Äschylos eingeführte zweite
Schauspieler, wie Protagonist (Protolog) der erste und Tritagonist (Hysterolog) der dritte.
und Deuteropyramiden (griech.), durch ihre Stellung von den Prismen und Pyramiden im engern Sinn (Protoprismen
und Protopyramiden) ebensowohl wie von den Tritoprismen und Tritopyramiden verschiedene Prismen und Pyramiden des quadratischen
und hexagonalen Kristallsystems;
Martin, Philosoph, geb. 1815 bei Langenpreising in Oberbayern, studierte in München Theologie und Philosophie
unter Görres, Schelling und Baader, ward 1837 zum Priester geweiht, 1841 Dozent der Philosophie am Lyceum zu
Freising, 1846 außerordentlicher Professor der Philosophie an der Universität München, wurde aber 1847 mit Döllinger, Lasaulx
u. a. seiner Stelle enthoben und nach Dillingen versetzt, lebte seit 1852, in den Ruhestand getreten, wieder in München und
starb 1864 im Bad Pfäfers. Deutinger hat in seinem Hauptwerk: »Grundlinien einer positiven Philosophie« (Regensb.
1843-49, 7 Bde.), den Versuch einer Zurückführung aller Teile der Philosophie auf christliche Prinzipien gemacht, der sich
auf Grund einer empirisch keineswegs unanfechtbaren und merklich theologisch gefärbten dualistischen Ansicht vom Wesen des
Menschen aufbaut.
Das Bewußtsein der Freiheit, verbunden mit jenem der Abhängigkeit, ist ihm zufolge die ursprüngliche
Antinomie im menschlichen Selbstbewußtsein; aus der Wechselwirkung des Gegensatzes eines freien und unfreien Lebensgrundes gehen
alle spezifisch menschlichen Thätigkeiten und deren Gesetze hervor. Derselben sind drei: je nachdem das freie Menschen-Ich,
der Geist, seine Herrschaft übt nacheinander erstens über den idealen oder Gedankenstoff im Denken, zweitens über
den realen oder materiellen Stoff im Können, drittens über sich selbst als sein eignes Objekt im sittlichen Handeln.
Werk des erstern ist das Wahre, das also wesentlich Erkenntnis, des zweiten das Schöne, das wesentlich Kunst ist; aus dem dritten
entspringt der vollendete sittliche Charakter. Von seinen zahlreichen andern Schriften sind zu erwähnen:
»Geschichte der griechischen Philosophie« (Regensb. 1852-53, 2 Bde.)
und »Über den gegenwärtigen Zustand der deutschen Philosophie« (das. 1866, aus dem Nachlaß).
Vgl. Kastner, Deutingers Leben
und Schriften (Regensb. 1874);
Neudecker, Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik (Würzb. 1879).
Bezeichnung eines Begriffs oder einer Vorstellung, wenn man aller einzelnen Merkmale derselben
sich bewußt ist.
Die Deutlichkeit ist von der Klarheit insofern verschieden, als diese darin besteht, daß man einen Begriff
von andern Begriffen, jene dagegen darin, daß man die einzelnen Merkmale, die im Begriff selbst liegen,
unterscheidet.
(got. thiudisk, althochd. diutisc, mittelhochd.
diutsch, altsächs. thiudisc, niederd. düdesk, niederländ.
duitsch, schwed. tysk, dän. tydsk) stammt von dem gotischen
Substantiv thiuda (althochd. diota, »Volk«) ab und bedeutet daher ursprünglich s. v. w. volkstümlich, dem Volk angehörig,
teils im Gegensatz zu dem, was bei einzelnen Stämmen vorkommt, teils zu dem Fremden, Ausländischen (zunächst Lateinischen
und Welschen), so in Bezug auf Sitte, Leute etc., namentlich aber auf die Sprache. Im 10. Jahrh., als die
deutschen Herzogtümer und Völker zu einem Reich vereinigt blieben, wurde dann das altdeutsche diutisc (latinisiert theodiscus)
zum Volksnamen. Lange schwankte die Schreibweise zwischen deutsch und teutsch, das besonders im 17. Jahrh.
im Gebrauch war; die ältere und nach Grimm allein richtige ist jedoch deutsch.
Vgl. J. Grimm, Exkurs über
Germanisch und Deutsch, in der »Deutschen Grammatik« (Bd. 1).
1) Emanuel Oskar, Orientalist, geb. zu Neiße i. Schl. von jüdischen Eltern, erwarb sich bei einem
Oheim frühzeitig eine gründliche Kenntnis der hebräischen und chaldäischen Litteratur, vollendete
dann seine Studien in Berlin und ging 1853 nach London, wo er eine Stelle an der Nationalbibliothek des Britischen Museums erhielt
und durch seine der Förderung der semitischen Studien gewidmeten Arbeiten bald zu großem Ruf gelangte. Hierher gehören namentlich
seine glänzenden Abhandlungen über den Talmud (deutsche Bearbeitung, 3. Aufl., Berl.
1880) und über den Islam (deutsch, das. 1874) in der »Quarterly Review« sowie seine Artikel über die »Targums« und den »Samaritanischen
Pentateuch« in Smiths Bibellexikon; ferner: »Egypt, ancient and modern«, »Hermes Trismegistus«, »Judeo-arabic metaphysics«,
»Semitic palaeography, culture and languages« u. a.
Deutsch starb in Alexandria, wohin er sich zur Stärkung seiner Gesundheit begeben hatte. Nach seinem
Tod erschienen seine »Litterary remains« (Lond.
1874, mit Biographie).
Dorf in Niederösterreich, Bezirk Bruck, an der Donau, unterhalb Wien, mit Schloß, einem an Altertümern
reichen Museum, Schwefelquelle und (1880) 965 Einw. Auf einem
Berg in der Nähe steht die Kirche St. Peter und Paul (aus dem 13. Jahrh.).
Zwischen Deutsch-Altenburg und Petronell lag das alte Carnuntum (s. d.).
(tschech. Nēmecký Brod), Stadt im südöstlichen Böhmen, an der Sazawa und der Österreichischen Nordwestbahn,
welche sich hier nach Kolin und Pardubitz teilt, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts,
hat 2 Vorstädte, 5 Kirchen, darunter die Dechanteikirche mit altem Kunstwerk auf dem Turm (Ziskas Sieg über Siegmund darstellend),
ein Rathaus mit altem Uhrwerk, ein Prämonstratenser-Chorherrenstift mit Oberrealgymnasium, Waisenhaus und (1880) 5436 Einw.
An industriellen Unternehmungen bestehen in Deutsch-Brod mehrere Mühlen, eine Dampfbrettsäge, Stärke- und Spodiumfabrik,
Tuchfabriken und Glasraffinerie. - Deutsch-Brod, das schon 793 bestand, gehörte im 12. Jahrh. den
Herren v. Lichtenburg, hatte um 1258 eine Deutschherrenkommende, erhielt 1278 Stadtrechte und ward 1321 zur Bergstadt erhoben.
Hier Sieg der Hussiten unter Ziska über Kaiser Siegmund. Der Sieger zerstörte die Stadt und vertrieb
die deutschen Bewohner, so daß die Stadt erst nach
mehr
sieben Jahren wieder bevölkert wurde, dann an die Ritter von Lipa und (1620) an Österreich kam. Im J. 1637 wurde Deutsch-Brod zur königlichen
freien Stadt erklärt. Am wurde sie von den Schweden eingenommen, geplündert und angezündet und 1644 nochmals
heimgesucht.
[* ] Farben. Die alte deutsche Reichssturmfahne bestand aus einem goldenen Banner mit einem zweiköpfigen schwarzen
Adler im Felde, der des Kaisers Hauswappen auf der Brust trug; sie wurde an roter Stange mit silberner Spitze getragen. Dieselbe
bestand bis zum Ausgang des Mittelalters, als Reichsfarben galten nach ihr Schwarz und Gelb (Gold). Erst die
aus der patriotischen Begeisterung der Freiheitskriege hervorgegangene deutsche Burschenschaft wählte 1815 die Trikolore »Schwarz-(Karmesin)
Rot-Gold« als Symbol des deutschen Vaterlandes zu ihrem Abzeichen. Ob bei dieser Wahl nur der zufällige Geschmack eines patriotisch
begeisterten Mädchens (Amalie Nitschke), welche der Studentenschaft Jenas die erste schwarz-rot-goldene Fahne verehrte, oder
das alte Reichsbanner, dessen goldenes Feld häufig auch von einem roten Streifen durchzogen war, den Ausschlag gegeben, gilt
als streitige Frage.
Die bald eintretende Verfolgung der Burschenschaften als des Herdes demagogischer Umtriebe zog jedoch auch deren Abzeichen in
ihren Bereich, und ein Bundesbeschluß vom verbot das Tragen von Bändern, Kokarden etc. in diesen
Farben. Gerade die Bedeutung, welche sie hierdurch erlangten, bewirkte, daß die liberalen deutschen Patrioten Schwarz-Rot-Gold
als die Nationalfarben anerkannten, und verhalf ihnen in der Bewegung von 1848 zu glänzendem Sieg. Am 9. März d. J. wurde durch
Bundesbeschluß der alte deutsche Reichsadler mit der Aufschrift »Deutscher Bund« als Bundeswappen angenommen
und gleichzeitig damit die Farben Schwarz-Rot-Gold zu Farben des Deutschen Bundes erhoben.
Jedoch mit Reaktivierung des Deutschen Bundes fand diese Glanzperiode der deutschen Farben bereits ihr Ende, ja in verschiedenen
Staaten verfiel das Tragen derselben von neuem der polizeilichen Verfolgung. Erst bei Wiederbeginn der nationalen
Bewegung wurde die »deutsche Trikolore« von neuem zum Nationalsymbol erhoben, und während des Frankfurter Fürstentags 1863 wehten
sie stolz über dem Sitz der Bundesversammlung. 1866 wurden sie dann offiziell von den Bundesregierungen, welche sich gegen
Preußen erklärt hatten, als gemeinsames Zeichen anerkannt, und das 8. deutsche Armeekorps, die »deutsche Reichsarmee«,
trug im Kriege gegen Preußen als Feldzeichen eine schwarz-rot-goldene Armbinde. Als die preußenfeindliche Partei in Deutschland
unterlag, ward bei der Gründung des Norddeutschen Bundes die Trikolore »Schwarz-Weiß-Rot« (die beiden ersten Farben offenbar
mit Rücksicht auf die Landesfarben Preußens, die letzte, weil sie in den Landesfarben mehrerer andrer Staaten vorkommt) zum
offiziellen Banner des Bundes bestimmt und ging von ihm 1871 auf das neue Deutsche Reich über. - Schwarz-Rot-Gold (Gelb) ist
Landesfarbe der reußischen Fürstentümer, Schwarz-Gold-Rot diejenige des Königreichs Belgien.
Vgl. Fürst Hohenlohe, Die deutschen
Farben Schwarz-Gold-Rot (Stuttg. 1866);
Hildebrandt, Wappen und Banner des Deutschen Reichs (Berl. 1870);
Pallmann, Zur Geschichte
der deutschen Fahne und ihrer Farben (das. 1871);
freisinnigePartei, die im März 1884 durch die Verschmelzung (Fusion) der deutschen Fortschrittspartei und
der liberalen Vereinigung (sogen. Sezessionisten) begründete Partei in Deutschland. Durch Beschluß jener beiden bis dahin
getrennten Fraktionen im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus kam die Fusion zu stande, um demnächst 15. und 16. März von
allgemeinen Parteitagen der Fortschrittspartei und der liberalen Vereinigung, welche in Berlin abgehalten wurden, genehmigt
zu werden.
Von den 106 Mitgliedern der beiden Fraktionen im Reichstag traten 100 der neuen Partei bei. Die Verschmelzung
erfolgte auf Grund von Einigungspunkten, welche zugleich als Programm der neuen Partei dienten. Man hatte sich in denselben
über einige Punkte, in welchen die beiden Fraktionen bisher voneinander abgewichen waren, verständigt; namentlich hatte die
Fortschrittspartei darein gewilligt, daß ihre bisherige programmäßige Forderung der alljährlichen Feststellung
der Friedenspräsenzstärke der deutschen Armee dahin modifiziert ward, daß die Feststellung derselben für jede Legislaturperiode
(drei Jahre) verlangt wurde.
Die in das Parteiprogramm der Deutschfreisinnigen mit aufgenommene Forderung der Organisation eines verantwortlichen Reichsministeriums
gab zu einem hierauf bezüglichen Beschluß des Bundesrats Veranlassung, welcher diese Forderung in scharfer Weise zurückwies.
Die neue Partei bildete ein Zentralkomitee mit dem Abgeordneten v. Stauffenberg als Vorsitzendem und den Abgeordneten Hänel
und Virchow als Stellvertretern. An die Spitze des geschäftsführenden Ausschusses trat Eugen Richter, während der Abgeordnete
Rickert sein Vertreter ward.
Außerdem wurden die Abgeordneten Bamberger, v. Forckenbeck, Hänel und Klotz mit in den Vorstand berufen.
Die Hoffnung, daß die neue Partei bei den Neuwahlen im Herbst 1884 bedeutend zunehmen und zu einer großen liberalen Partei sich
erweitern werde, erfüllte sich nicht. Von 100 Mitgliedern schmolz die deutsche freisinnige Partei im Reichstag auf 65 (Herbst 1885) zusammen.
Im Abgeordnetenhaus zählt sie seit 1885: 44 Mitglieder. Ihr Zentralbüreau befindet sich in Berlin, ihr
offizielles Organ ist die ebendaselbst allmonatlich erscheinende »Parlamentarische Korrespondenz«, welche nur an Parteigenossen
versandt wird.
[* ] Heilstätte in Loschwitz, eine unter dem Protektorat der Königin Carola von Sachsen stehende Stiftung des Roten
Kreuzes, welche von einem Stiftungsvorstand geleitet wird, an dessen Spitze ein von der Königin ernannter
Vorsitzender steht. Die Stiftung soll mitwirken an der Erfüllung der Aufgaben der freiwilligen Krankenpflege. Sie besteht
in einer Anstalt, welche nach den unterm bestätigten Statuten einen fünffachen Zweck verfolgt:
1) Aufnahme von Invaliden des deutschen Heers;
2) Kur und Verpflegung kranker und verwundeter Soldaten;
3) Vor- und Ausbildung von Krankenpflegepersonal;
4) Gewährung von freier Kur an Pflegepersonal, welches in der Ausübung des Berufs erkrankt ist, und 5) Aufnahme kranker Personen
gegen Entgelt (Kuranstalt). In letzterer Beziehung hat sich die Anstalt bereits einen guten Ruf erworben. Gleichzeitig wird
in der Anstalt ziemlich umfassende Armenkrankenpflege ausgeübt. Im Krieg soll die Heilstätte zugleich
als Vereinslazarett dienen.
Litteratur, im weitesten Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen Volkes, insofern dieselben
Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten Anteils sind oder doch einen
bestimmten geschichtlichen Wert für gewisse Perioden und Kulturentwickelungen gehabt haben. In der Regel unterscheidet man
die deutsche Nationallitteratur von der wissenschaftlichen (gelehrten) Litteratur der verschiedensten
Gebiete.
A. Nationallitteratur.
Der Begriff der Nationallitteratur, die uns hier zunächst und hauptsächlich beschäftigt, kann mit einer gewissen Willkür
bald verengert, bald erweitert werden; immer aber bleibt es unzweifelhaft, daß die poetischen Schöpfungen im Mittelpunkt
der Nationallitteratur stehen und den wichtigsten Teil derselben bilden. »Unter
den Denkmälern der Litteratur sind die poetischen insofern die wichtigern, als sie, ihren Zweck in sich selbst tragend, auf
eine freiere, deutsches Gemüt und deutschen Geist entschiedener aussprechende Weise entstanden sind als die meisten Werke der
Beredsamkeit, das Wort im weitern Sinn verstanden, da bei deren Abfassung in der Regel praktische oder wissenschaftliche
Zwecke vorzugsweise gewaltet haben« (Koberstein).
Die außerhalb der Dichtung stehenden Werke der Nationallitteratur können im wesentlichen nur solche sein, welche sich durch
eine durchgebildete, schöne Form auszeichnen und in gewissem Sinn eine ästhetische Wirkung hervorzubringen vermögen. Die
Aufgabe der Geschichte der deutschen Litteratur bleibt es daher, der Entwickelung des deutschen Volksgeistes
und der deutschen Sprache, wie sie sich in den Tausenden von Schriftwerken der bezeichneten Art darstellt, treu und sorgsam
nachzugehen, die Wechselwirkung zwischen dem nationalen Leben und unsrer Litteratur klar zu machen, den Reichtum von Besonderheiten,
die doch wieder einem allgemeinen Gesetz untergeordnet erscheinen, zu erfassen, die Entwickelungsbeziehungen
zwischen den einzelnen Zeiträumen und Schöpfungen der Litteratur darzulegen, und durch historisch-ästhetische Betrachtung
zum Genuß litterarischer Schöpfungen anzuleiten.
Die Werke der deutschen Litteratur stellen eins der kostbarsten Besitztümer des deutschen Volkes dar; sie sind in verhängnisvollen
Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen
und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher
Eigenart. Von den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart gehen in Vorzügen und Mängeln bestimmte erkennbare Grundzüge durch
die Entwickelung der deutschen Litteratur; allem Wandel und Wechsel der Zeiten, der Sitten und Zustände,
selbst der Sprache trotzend, treten, meist unbewußt und unbeabsichtigt, die geheimsten Regungen der Volksseele, die besondern
Eigentümlichkeiten des deutschen Wesens in den Schriftdenkmälern zu Tage. Liegt auch die Periode der ausschließlichen Pflege
der Litteratur und eines durchaus litterarischen Charakters der deutschen Kultur schon längst hinter uns,
so wird doch keine Zeit aufhören können, an den Leistungen und Ehren der Nationallitteratur warmen, ja leidenschaftlichen
Anteil zu nehmen.
Die Geschichte der deutschen Litteratur zerfällt naturgemäß in zwei große Hauptabschnitte, deren erster von den Anfängen
und ältesten Zeugnissen der Litteratur bis zum Ausgang des Mittelalters, der zweite von da bis zur Gegenwart
reicht. Die Untereinteilungen ergeben
sich durch die Hauptperiode in der nationalen Geschichte, des deutschen Kulturlebens,
aus denen die Litteratur gedeihend und blühend oder in kümmerlicher Entfaltung erwachsen ist, mit denen sie in so engem
Zusammenhang, so unablässiger Wechselwirkung gestanden hat, daß neuerlich eine Auffassung herrschend werden konnte,
welche die Bedeutung der besondern Elemente und der individuellen Begabungen so gut wie verneinte.
Zeigt es sich indessen, daß, je näher jede geschichtliche Darstellung der neuern Zeit rückt, je reicher die Quellen fließen,
aus denen wir unsre Kenntnis über die einzelnen Träger der poetischen Litteratur schöpfen, die Mitwirkung jener Eigenart,
der zufolge jeder Mensch gleichsam eine Welt für sich darstellt, immer bedeutsamer wird: so ist ein Anteil hoch stehender Einzelner
an der Entwickelung der Dichtung auch für jene Zustände und Gebiete anzunehmen, in denen für uns längst das Besondere im
Allgemeinen untergetaucht erscheint.
Vorepoche: Heldensage und Heldensang.
Den Perioden der deutschen Litteratur, die sich historisch fixieren lassen, an deren Ein- und Ausgang bestimmte
Werke und Namen stehen, und von denen spärliche oder reiche schriftliche Denkmäler und Zeugnisse vorhanden sind, ist eine
Entwickelung, ja, wie man neuerdings geneigt ist anzunehmen, eine hohe Blüte deutscher Dichtung vorangegangen, deren Nachklänge
weit in die Zeiten des Mittelalters hereinreichen. Unerkennbar bleibt, wann und wo die poetische Gestaltung
der Götter- und Heldensage angehoben hat, deren Anfänge vielleicht schon jene Arier auf ihrem Zug
von Asien nach Europa begleiteten,
welche sich vom gemeinsamen indogermanischen Stamm ablösten und nach mancher dazwischenliegenden Entwickelung als Germanen
mehrere Jahrhunderte vor Christo Norddeutschland bis zu den Mündungen des Rheins und die Küsten der Nord-
und Ostsee bevölkerten, die Kelten süd- und westwärts vor sich herdrängend.
Große Stämme dieser Germanen, vor allen das Volk der Goten, saßen noch weit im Osten zur Zeit, als Rom vor den Teutonen zitterte,
welche schließlich die Feldherrnkunst des Marius überwand, als Cäsar mit Ariovist kämpfte, als das Heer
des Varus vor den germanischen Stämmen im Teutoburger Wald erlag, und als in den Tagen Kaiser Trajans Tacitus in seiner »Germania«
die erste genauere Kunde über die germanischen Völker gab und die rauhen, jugendfrischen, kriegerischen und häuslichen Tugenden
derselben im Gegensatz zu der übersteigerten und alt werdenden Kultur der römischen Welt schilderte.
Bei allen oder doch bei einer Mehrzahl der germanischen Stämme fanden sich nach dem Zeugnis der Römer Lieder, die schon Tacitus
als »alte« bezeichnet. Der eine jener beiden »Merseburger Zaubersprüche«, die im 9. Jahrh. aufgeschrieben wurden, klingt
an eine altindische Spruchformel an und deutet um Jahrhunderte zurück. Auch die ältesten Fassungen der Siegfriedsage, die
Anfänge jener Tiersage, in deren Mittelpunkt der Fuchs steht, mögen weiter zurückreichen als die historische Kunde von unsern
Urvätern.
Aus der Vergleichung der Reste altheidnischer Gedichte mit den Dichtungen der Skandinavier und Angelsachsen,
mit den uralten Rechtsformeln hat man mit einiger Sicherheit geschlossen, daß allen ältesten Gesängen durch Allitteration
Form und Gestalt gegeben worden sei, eine Form, die besonders geeignet erscheint, eben diese Lieder dem Gedächtnis einzuprägen
und so von Mund zu Mund zu überliefern. Beweise im strengsten Wortsinn sind hier nicht möglich;
mehr
auch daß bei dem »Singen und Sagen«, welches nach dem Bericht des Tacitus gemeinsam geübt wurde, das Wort die Hauptsache, die
»Musik« dagegen sehr unentwickelt war, läßt sich doch immer nur mit Wahrscheinlichkeit vermuten. Beweise, denen nicht zu widersprechen
wäre, gibt es für diese Vorzeit, in welcher Überlieferung und Wiedergabe unmittelbarer Eindrücke, Mythe
und lebendige Erinnerung, Namen der Stämme und Völker, historisch Beglaubigtes und Sagenhaftes ineinander verschwimmen, eben
nicht.
Auch als in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt die Germanen immer entschiedener in den Vordergrund der Geschichte treten,
als mit der Periode der Völkerwanderung und des Ansturms deutscher Stämme gegen das zerbröckelnde römische
Weltreich Menschen und Dinge deutlicher werden, bleibt die Kunde von der deutschen Dichtung dürftig und unzulänglich. Wohl hat
der geistvolle Forscher und Darsteller recht, der sagt: »Verlorne Gedichte sind ebenso wichtig wie erhaltene, wenn
man ihre Existenz beweisen und ihre Nachwirkungen feststellen kann« (Scherer), und nicht minder wahr ist,
daß es nicht leicht einen stärkern Beweis von der schöpferischen Macht einer Dichtung geben kann, als daß sie ohne schriftliche
Fixierung wesentlich unverändert fortlebt, daß ihre Situationen, Gestalten und Hauptzüge zum Teil bis auf den Wortlaut
zu spätern Geschlechtern gelangen.
Immer aber ist es nur ein Rückschluß, der aus den spätern Gestaltungen der großen Heldensage, aus verwandten
Erscheinungen bei den germanischen Völkern über dem Meer und aus einzelnen ganz unbedeutenden Resten auf die Blüte einer
großen epischen Dichtung, unmittelbar nach der Völkerwanderung, gemacht wird. Die gewaltigen und erschütternden Kämpfe,
durch welche die deutschen Völker im ersten Halbjahrtausend der christlichen Zeitrechnung hindurchgingen,
konnten nicht anders als befruchtend auf den poetischen Geist und den poetischen Gestaltungstrieb wirken; Eindrücke und Erinnerungen
von fortreißender Macht, das Hervortreten einzelner Heldengestalten, ungeheure Schicksalswechsel fanden ihren Widerklang
in Heldenliedern, deren Mannigfaltigkeit sich mehr und mehr auf einzelne große Gruppen (Sagenkreise) konzentrierte.
Wie stark die großen historischen Ereignisse, an denen die deutschen Stämme kämpfend und leidend Anteil
nahmen, und in denen sie zum Teil ihren Untergang fanden, auf die Phantasie wirkten, ist aus den spätern mittelalterlichen
Erneuerungen der Heldensage der Völkerwanderungszeit noch zu erraten. Der Grundcharakter dieser Poesie war heidnisch; an die
heidnische Vergangenheit der Völker und die alten Überlieferungen knüpften die Dichter, oder wie man
sie immer nennen will, auch dann noch an, als die Bekehrung der meisten deutschen Völker zum Christentum längst erfolgt war.
Bei allen deutschen Völkern oder vielmehr Völkervereinen, deren hervorragendste in den Zeiten der großen Völkerwanderung
Goten, Langobarden, Burgunder, Franken, Alemannen, Bayern, Thüringer, Sachsen und Friesen waren, werden in Fortbildung
der ältern Lieder und unter den Einwirkungen der neuen Erlebnisse eigne Heldenlieder existiert haben, die inzwischen bald
mannigfach aufeinander bezogen wurden und ineinander übergingen. Nachklänge der bei Tacitus erwähnten verlornen Lieder von
Hermann dem Cherusker scheinen in andern Sagen vorhanden; Züge der gotischen Dichtungen von den Königsgeschlechtern
der Balthen und Amaler und späterhin von Odoaker und Theoderich wurden weit verbreitet; die Gestalt Attilas (Etzels), des Hunnenkönigs,
der mit seiner Augenblicksmacht Freiheit und Existenz
beinahe aller germanischen Stämme gefährdete, kehrt in den verschiedenen
Sagenkreisen wieder. So ist der Sagenforschung und der Kritik, welche den wesentlichsten Inhalt der alten,
noch bis zum Schluß des ersten Jahrtausends erklingenden epischen Lieder festzustellen sucht, ein weites und wichtiges Feld
eröffnet, und das Bewußtsein, daß eine mächtige, stoffreiche, von großartigem Leben und tausend Erinnerungen getränkte
Dichtung vor der Zeit der geschriebenen Litteratur vorhanden war, muß festgehalten werden.
Die Dichtungen selbst aber, von denen nach glaubhaften Berichten noch Karl d. Gr. im 8. und 9. Jahrh. einen großen Teil
aufzeichnen ließ und lassen konnte, sind fast vollständig verloren gegangen. Als schriftliche Denkmäler der heidnischen
und halbheidnischen Völkerwanderungsepoche besitzen wir nur unbedeutende Bruchstücke. Die beiden von G. Waitz 1841 in Merseburg
aufgefundenen sogen. »Merseburger Zaubersprüche«, die ähnlichen von Miklosich 1857 entdeckten Formen sind minder wichtig als
das um 800 von zwei Fuldaer Mönchen aufgezeichnete »Lied von Hildebrand und Hadubrand«, in der That die einzige volle Probe
der Form und des Wesens der großen, einst allverbreiteten Heldenlieder. In zweiter Linie stehen lateinische
Niederschriften eines im 10. Jahrh. von Ekkehard von St. Gallen in Hexametern bearbeiteten Gedichts von »Walther und Hiltgund«
(»Waltharius von Aquitanien«),
welches offenbar zu seiner Entstehungszeit ein deutsches Vorbild hatte, und eines an der Grenzscheide
des 10. und 11. Jahrh. von dem Tegernseer Mönch Fromund in leoninischen Hexametern niedergeschriebenen
Gedichts: »Rudlieb«. Einzelne Vorstellungen, die aus altheidnischen Gedichten in die kümmerlichen deutschen Dichtungsversuche
der Geistlichen des 10. und 11. Jahrh. hereinragen (so im »Wessobrunner Gebet« und in den Versen vom Jüngsten Gericht: »Muspilli«),
die eigentümliche, an die alte epische Poesie gemahnende Auffassung des Erlösers als des Heerkönigs und reichen Volkskönigs
im altsächsischen Gedicht »Heliand«, die Vergleichungen mit angelsächsischen und altnordischen Liedern kommen der Vorstellung,
welche das Hildebrandslied gewähren kann, zu Hilfe. Letztes Resultat bleibt doch nach Jakob Grimms Wort: »Von althochdeutscher
Poesie sind uns nur kümmerliche Bruchstücke gefristet, gerade so viel noch, um sicher schließen zu dürfen, daß Besseres,
Reicheres untergegangen ist. Aber das Vermögen der Sprache, den nationalen Stil der Dichtkunst erkennen lassen
uns nur die angelsächsischen und altnordischen Lieder, jene, weil sie dessen älteste, diese, weil sie eine noch heidnische
Auffassung sind.«
I. Zeitraum.
Zeit der althochdeutschen geistlichen Dichtung.
Seit dem 4. Jahrh. war zuerst den in das römische Reich eindringenden, späterhin den andern deutschen
Völkern das Christentum gepredigt worden. Am Ausgang des 8. Jahrh. bekehrte Karl d. Gr. die bis dahin heidnisch gebliebenen
Sachsen mit Anwendung der äußersten Gewaltmittel. Mit den Heidenbekehrern, die ihre Klöster als Mittelpunkte des neuen kirchlichen
Lebens im ganzen deutschen Land errichteten, kam auch die Herrschaft der lateinischen Sprache für kirchliche
und geistliche Zwecke, für die neue christliche Bildung. Freilich übertrug schon im 4. Jahrh. der gotische Bischof Ulfilas
(Wulfila) die Bibel (mit Ausnahme der Bücher der Könige) und hinterließ in dieser teilweise erhaltenen Übersetzung eins
der kostbarsten Denkmäler für die Geschichte der deutschen Sprache, das einzige wesentliche Zeugnis
mehr
des sonst untergegangenen Gotischen. Aber das mutige Beispiel des arianischen Bischofs fand keine entsprechende Nachahmung, und
nur das äußerste Bedürfnis drang den fränkischen, irischen und angelsächsischen Bekehrern im eigentlichen Deutschland
nach und nach Übersetzungen einzelner Predigten, Glaubens- und Beichtformeln ab oder reizte zu eigenen Abfassungen in der
im ganzen doch für barbarisch erachteten Sprache. In der Hauptsache war es »dürftige Prosa«, was auf
diesem Weg entstand.
Dem Reichtum und der eigentlichen Macht der deutschen Sprache wichen die Geistlichen eher aus, als daß sie ihn suchten. Da
sie die Lust des Volkes an den alten Liedern, welche in dieser Zeit der wandernde Spielmann noch von Herd
zu Herd trug, als verderblich erachteten, in der Erinnerung an die kriegerischen Sagenhelden nicht mit Unrecht Rückfall ins
Heidentum witterten, da sie sich lange in einem völligen Gegensatz zu der Vorstellungs- und Sinnesweise des Volkes befanden
und das Gefühl dieses Gegensatzes in den Klosterschulen auch bei der heranwachsenden Generation genährt
ward, so währte es geraume Zeit, bis ein Einklang zwischen der eigentlichen Volksnatur und Volkssitte und der neuen kirchlichen
Ordnung eintrat.
Spärlich waren unter solchen Umständen auch die poetischen Versuche, welche aus der neuen christlichen Bildung und aus den
Reihen der Geistlichkeit hervorgingen. Einige Gesänge aus dem 9. Jahrh. (»Bittgesang an den
heil. Petrus«, ein »Loblied auf den heil. Georg«, eine Bearbeitung des 138. Psalms),
das »Wessobrunner Gebet« und das vom Jüngsten
Tag handelnde Gedicht »Muspilli«, welches mit der heidnischen Vorstellung vom großen Weltbrand durchsetzt ist, zeigen die Dürftigkeit
der Vorstellungen, die Ungelenkheit der Form. In poetischer Hinsicht wichtiger sind die beiden christlichen
Hauptdichtungen der karolingischen Zeit: der in altsächsischer Mundart nach dem Evangelium des Matthäus und der Tatianischen
Evangelienharmonie verfaßte, kräftig-einfache »Heliand« (Heiland), den ein niederdeutscher Dichter in den Tagen Ludwigs des
Frommen (vielleicht im Auftrag desselben) schrieb, und der im direkten Anschluß an die Weise der allitterierenden
Heldengesänge die tiefere Teilnahme des neubekehrten Sachsenvolkes an dem mächtigen Sohn Gottes als dem Völkerherrn und
Landeswart zu wecken suchte, und die hochdeutsche »Evangelienharmonie« des Weißenburger Mönches Otfried vom Ende des 9. Jahrh.,
in welcher der Dichter den Franken ein christliches Heldengedicht zu schaffen beabsichtigte. Otfried war
der erste, welcher an die Stelle der Stabreimform den Reim setzte und regelmäßigen Strophenbau einführte, womit er für
einen Teil der folgenden Dichter vorbildlich wurde.
Ungefähr derselben Zeit gehört das von einem Geistlichen verfaßte weltliche »Ludwigslied« an, welches einen Sieg Ludwigs III.
über die Normannen bei Saucourt (881) feiert. In der Weise dieses auf ein Zeitereignis bezüglichen Liedes
haben nach zuverlässigen Zeugnissen noch andre Lieder existiert, die namentlich während des 10. und im Übergang zum 11. Jahrh.
zahlreicher wurden. Auch gemischt lateinische und deutsche Gedichte scheinen zu erweisen, daß zwischen der Spielmannsdichtung
und der Poesie der Kleriker sich allmählich eine Wechselwirkung herstellte.
In der lateinischen Klosterlitteratur dieses Zeitraums entwickelten sich überdies mancherlei Keime, welche später in der
deutschen Litteratur aufgehen sollten, und so muß der ältesten Anfänge der Weihnachts- und Passionsspiele in
kleinen lateinischen
Dramen sowie der lateinischen Stücke der Gandersheimer Nonne Hroswitha (Roswitha) vom Ende des 10. Jahrh. gedacht
werden, mit denen sie den in den Klöstern vielgelesenen Terenz verdrängen wollte.
Die Litteraturdenkmäler, auch im 10. Jahrh. noch vereinzelt, werden im 11. etwas zahlreicher;
es treten bestimmtere Autorennamen, man kann noch nicht sagen erkennbare Dichterpersönlichkeiten, hervor. In der Zeit der
sächsischen und fränkischen Kaiser (von der Thronbesteigung Heinrichs I., 919, bis zum Tod Heinrichs III.,
1056) bestanden im wesentlichen die großen Formen der karolingischen Monarchie, des »theokratischen Kaisertums« fort; die
emporstrebende streng kirchliche Auffassung samt der ganzen Vorstellungswelt der Geistlichkeit drang auch in die Volksmassen
ein, obwohl mit Spott und Entrüstung bezeugt wird, daß die »Bauern« fortfuhren, von Siegfried und Dietrich von Bern
zu singen.
Die Legendenpoesie, mit den Pseudoevangelien, mit heimischen und fremden Wundergeschichten genährt, trat in den Vordergrund,
fand inzwischen erst im 12. Jahrh. künstlerische Gestaltung. Dem 11. Jahrh.
gehören die deutsche Psalmbearbeitung des St. Gallener Mönches Notker Labeo (gest. 1022), die Auslegung des »Hohenliedes« des
Fuldaer Mönches Williram (gest. 1085 als Abt des Klosters Ebersberg),
die biblischen Gedichte des Scholastikus Ezzo, auch das
vielbesprochene kosmographische Gedicht »Merigarto« an. Im Übergang zum 12. Jahrh.
verfaßte eine Frau Ava (gest. 1127 zu Göttweih) ein größeres Gedicht: »Vom Leben Jesu und vom Antichrist«, ihr angeblicher
Sohn Heinrich ein Gedicht »Von des Todes Gehügede«. Die meisten Gedichte und poetischen Bruchstücke dieses
Zeitraums erscheinen kunstloser, verwilderter; in manchen wechselt Poesie und Prosa. Die eigentlich althochdeutsche Sprache,
von der die ganze Litteraturperiode den Namen der althochdeutschen führt, klingt mit Notker aus. Auch die altniederdeutsche
(altsächsische) Sprache bewahrte höchstens bis zu diesem Zeitraum die alte Kraft und Fülle; die Zeugnisse
eines litterarischen Lebens blieben ganz vereinzelt, der »Heliand« fand keine Nachahmung.
II. Zeitraum.
Zeit der Kreuzzüge. Aufschwung der Dichtung. Beginn der ritterlich-höfischen Poesie.
Im Wendepunkt des 11. zum 12. Jahrh. beginnt eine neue, hochinteressante und reiche Entwickelung der deutschen Litteratur,
im wesentlichen an das Emporkommen und die weitere Durchbildung der als Mittelhochdeutsch bezeichneten
Schriftsprache gebunden. Den stärksten Anteil an dem raschen Aufblühen einer großen geistlichen Litteratur in deutscher
Sprache und einer ihr kühn zur Seite tretenden ritterlichen Dichtung hatten die Eindrücke der bewegten Zeit. Der unter Heinrich
IV. beginnende Riesenkampf zwischen der weltlichen Gewalt und den Weltbeherrschungsansprüchen der Hierarchie,
die gewaltigen, bunten und wechselnden Eindrücke der Kreuzzüge, die tausendfach neuen Lebensverhältnisse selbst, die in
Deutschland aus dem Emporkommen der Landesfürsten, dem gesamten Lehnssystem und Städtewesen erwuchsen, die Aufwühlung
der Volksseele bis in ihre Tiefen und die Erweiterung des Gesichtskreises förderten gleichmäßig das
Gedeihen der Litteratur, welche sich fast ausschließlich in den Formen der Poesie darstellt und selbst in Weltbeschreibungen,
Lebensgeschichten und historischen Werken die Übermacht einer gesteigerten Phantasie erkennen läßt. Das tiefe innige Glaubensleben,
das sich in
mehr
dieser Zeit geltend machte, schloß eine freudige, kräftige, selbst verwegene Weltlichkeit nicht aus, ja durchdrang sich
in wundersamster Weise mit derselben; aus heimischem Leben und Fremde, aus Lektüre und Anschauung strömte den Dichtern eine
Fülle der Stoffe wie der Empfindungen zu. Die niemals erstorbene und von den wandernden Spielleuten weiter
getragene Volksdichtung erwacht gleichzeitig mit der ritterlichen Poesie zu neuem Leben, zieht höher strebende poetische Kräfte
zur Neugestaltung ihrer alten großen Stoffe an, und das Mittel der Schrift wird für einzelne ihrer Bildungen in umfassenderer
Weise in Anspruch genommen. Die ganze volle Entfaltung all dieses poetischen Lebens fand erst in der folgenden
Periode unter den hohenstaufischen Kaisern statt, aber immerhin darf die Zeit von der Mitte des 11. bis gegen das Ende des 12. Jahrh.
schon eine litterarisch reiche genannt werden.
Mit dem »Annolied«, zu Ehren des 1075 verstorbenen heil. Anno, Erzbischofs von Köln, gedichtet, mit der poetischen »Kaiserchronik«
(bis 1147 reichend),
die ältere Dichtungen in sich aufgenommen hat, mit dem »Lied von Alexander« des niederrheinischen
Pfaffen Lamprecht, dem aus einem französischen Gedicht übersetzten »Rolandslied« des Pfaffen Konrad, die sämtlich der ersten
Hälfte des 12. Jahrh. angehören, betreten wir das große Gebiet der epischen Dichtung, deren Stoffmischung sich schon hier
offenbart. Gedichte von »König Rother«, »Orendel«, »St. Oswald«, die Sage von »Pilatus«, die »Legende der heil. Veronika« von Wernher
vom Niederrhein weisen zum Teil auf die weltliche Spielmannsdichtung hin.
Wie die alten Stoffe weiter bearbeitet wurden, geht aus »Reinhart Fuchs« von Heinrich dem Gleißner (Glichesäre), einem Elsässer,
der nach französischem Vorbild dichtete, hervor. Vertreter der eigentlichen Kunstlyrik und der Anfänge
des nachmals so ausgebreiteten Minnesanges treten gleichfalls in der ersten Hälfte und um die Mitte des 12. Jahrh.
auf: so der Österreicher von Kürenberg (zwischen 1120-40), der sich der Nibelungenstrophe bedient, und dem darum einzelne
Forscher die Dichtung des Nibelungenliedes selbst zuschreiben wollen;
so sein Landsmann Dietmar von Aiste,
der Schwabe Meinloh von Sevelingen, der Burggraf von Regensburg und Friedrich von Hausen, der als Kreuzfahrer 1190 im Heiligen
Land blieb.
Mit dem letztern begann die Herübernahme der Weisen romanischer Lyrik in die deutsche Dichtung; rasch entfaltete
sich eine große Abwechselung der Formen und der Liederarten. Die »Taglieder«, »Klagelieder«,
»Leiche«, »Tanzlieder«, »Lob- und Rügelieder«, »Kreuzlieder« in der weltlichen Lyrik, die »Marienlieder« in der geistlichen
begannen von allen Seiten zu erklingen.
III. Zeitraum.
Die Blütezeit der mittelhochdeutschen Dichtung. Zeit der Hohenstaufen (Staufer).
Die höchste Blüte der mittelhochdeutschen Dichtung, vom Ende des 12. Jahrh. an, fiel mit der ruhmreichen
Herrschaft der Kaiser aus dem staufischen Haus zusammen. Selbstgefühl, Thatkraft und Wohlstand aller Stände des deutschen
Volkes waren mächtig gehoben, die gewaltigen Herrschergestalten Friedrichs I. (Rotbart), Heinrichs VI. und Friedrichs II., die
fortwirkenden Eindrücke großen Weltverkehrs und siegreicher Kämpfe, gesteigerter und freudiger Lebensgenuß, namentlich
an den Höfen und in den Kreisen des ritterlichen Adels, gaben der Periode den Charakter einer Glanzzeit.
Die poetische Litteratur in allen Formen der erzählenden Dichtung, der Lyrik und Lehrdichtung, spärlich nur
in dramatischen
Gebilden, erlangt eine beinahe überwältigende Fülle und erstaunliche Breite. Ihre Hauptrepräsentanten waren jetzt nicht
mehr Geistliche, sondern Männer ritterlichen Standes. Nahmen an der Minnedichtung Fürsten und Herren, selbst
die staufischen Kaiser und Könige Anteil, so machten doch vorwiegend Glieder des niedern Adels, denen sich vereinzelt bürgerliche
Meister anschlossen, die Dichtung zum Lebensberuf und suchten durch unablässiges Anrufen der »Milde« hochgepriesener Gönner
Unterhalt und gelegentlichen Überfluß zu gewinnen.
Daß neben diesen ritterlichen Sängern die fahrenden Spielleute nicht verschwanden, braucht kaum hervorgehoben zu werden.
Soweit Namen und Gestalten erkennbar sind, bevorzugten die ritterlich-höfischen Dichter die neuen weltlichen welschen Stoffe,
die ihnen meist aus französischen Quellen zuflossen; indes bleibt es Thatsache, daß die endgültigen Gestaltungen der großen,
auf rein deutschen Überlieferungen beruhenden Nationalepen, das »Nibelungenlied« und »Gudrunlied«, in
die Blütezeit der ritterlichen Dichtung fallen und in Südostdeutschland der Entfaltung der ritterlichen Epik auf Grund fremder
Sagen und Erfindungen zur Seite standen, vielleicht vorangingen.
Auf alle Fälle sind die Volksepen, voran »Der Nibelungen Not«, die großartigsten Denkmäler dieser Blütezeit deutscher
Poesie. Das »Nibelungenlied« vereinigt die hervorragendsten Gestalten des niederrheinischen und burgundischen mit einzelnen
des gotischen Sagenkreises; es sucht an erzählender und charakterisierender Kraft, an innerm Reichtum und gewaltiger hochdramatischer
Steigerung, namentlich in der zweiten Hälfte, seinesgleichen. Wieviel auch in einzelnen Liedern und Abenteuern vorhanden gewesen
sein mag, an der nun niedergeschriebenen Gestaltung, die in den Anfang dieser Periode hinaufreicht, muß
eine mächtige dichterische Begabung entscheidenden Anteil gehabt haben. In mindern, aber noch immer hohem Grad begegnen uns
die eindringlichen Vorzüge der volkstümlichen Epik im »Gudrunlied«, welches friesisch-normännische Sagen mit dem Hintergrund
der See- und Raubzüge und der Kämpfe altgermanischer Seekönige gestaltet und namentlich im unübertrefflich
schönen, seelisch tiefen letzten Teil auf einen großen Dichter zurückweist.
Ferner im Zeitalter der ritterlichen Dichtung entstandene und wahrscheinlich ritterlichen Sängern angehörige Gestaltungen alter
Sagenstoffe waren: »Die Rabenschlacht« und »Dietrichs Flucht« (beide von einem Heinrich dem Vogler),
»Alphart«, »Walther und Hildegunde«
(von einem steirischen Dichter, nur bruchstückweise erhalten),
»Ortnit«, »Wolfdietrich«, »Der große Rosengarten«,
»Biterolf«, »Laurin«, »Der kleine Rosengarten«, »Der Nibelungen Klage«, »Das Eckenlied«, »Dietrichs Drachenkämpfe«, »Goldemar«
(von einem Tiroler Ritter, Albrecht von Kemenaten), von denen denn freilich ein Teil nur in spätern Überarbeitungen und Handschriften
erhalten blieb.
Die ritterlich-höfische Epik im engern Sinn, mit Trägern, von deren Leben und Schicksalen wir meist einige
Nachrichten besitzen, Dichtern, denen mehrere Werke angehören, und die beinahe alle auch in den Reihen der Lyriker (Minnesänger)
stehen, hatte einen raschen Aufschwung, eine glänzende Entfaltung und verhältnismäßig raschen Verfall. Ihr erster namhafter
Vertreter war Heinrich von Veldeke (zwischen 1175-90), aus dem Limburgischen, ein Edelmann vom Niederrhein,
der auch sprachlich insofern Bedeutung hat, als er den Übergang vom »Mitteldeutschen«
mehr
zum eigentlichen Mittelhochdeutschen vertritt. Er schrieb außer einem legendarischen »Servatius« und Minneliedern seine »Eneide«
(nach französischem Vorbild),
deren Anlage und Ausführung auf die nachfolgende ritterliche Dichtung stark einwirkte. Gleichzeitig
und wenig später entstanden der »Eraclius« des Meisters Otto, der »Karlmeinet« eines ungenannten Dichters, das »Lied von Troja«
(Trojanerkrieg) des Herbart von Fritzlar. Höher in Weltauffassung und Kunst erhoben sich die großen Epiker
der ersten Jahrzehnte des 13. Jahrh.: Hartmann von Aue, der in den Gedichten: »Der arme Heinrich«, »Erec«, »Gregorius
vom Stein«, »Iwein« die verschiedensten Stoffe behandelt;
Gottfried von Straßburg, dessen viel angefochtener »Tristan« durch
glutvolle Leidenschaft und höchste Formvorzüge wie kein andres Gedicht der Zeit ausgezeichnet ist;
Wolfram von Eschenbach,
der tiefsinnigste, innigste, sprachgewaltigste und phantasiereichste ritterliche Dichter des deutschen Mittelalters, welcher
im »Parzival« die über Frankreich nach Deutschland gelangte keltische Sage in wunderbarer und eigenartiger Richtung neu gestaltete,
im Gedicht »Willehalm« einen Stoff des karolingischen Sagenkreises bearbeitete, im unvollendeten »Schionatulander«
aber auf seine frühere Stoffwelt zurückgriff.
Der Blütezeit gehören an Dichtungen von tieferm Gehalt und durchgebildeter
Kunst noch an: »Flore und Blanscheflur« des Konrad Flecke, »Wigalois« des Wirnt von Gravenberg, »Lancelot« des Ulrich von Zatzikhoven.
Gottfried von Straßburg fand später Fortsetzer in Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, Wolfram von Eschenbach
gleichfalls in dem Türheimer, in Ulrich von dem Türlin, Albrecht von Scharffenberg und den unbekannten Dichtern des »Wartburgkriegs«
und des »Lohengrin«.
Auch die Zeit zwischen 1220-60, obschon den ritterlichen Dichtern bereits minder günstig, brachte noch hervorragende Leistungen.
Der Stricker dichtete außer den größern Epen »Daniel von Blumenthal« und »Karl« einzelne Fabeln und die
im »Amis« vereinten Schwänke; Rudolf von Ems bewährte sich als fruchtbarer und glücklicher poetischer Erzähler im »Guten
Gerhard«, »Baarlam und Josaphat«, »Wilhelm von Orlienz«, im »Alexander« und der unvollendeten »Weltchronik«; der »Pleier«,
aus einem steirischen Geschlecht, vollendete nicht weniger als drei Epen aus dem Artuskreis: »Garel vom
blühenden Thal«, »Tandarois und Flordibel«, »Meleranz
von Frankreich«. Am höchsten unter allen erzählenden Gedichten der Nachblüte steht wohl der vortreffliche »Meier Helmbrecht«
von Wernher dem Gartener, einem bayrischen Geistlichen zwischen 1234 und 1250. Selbst rein geistliche Stoffe wurden im Stil des
höfischen Epos behandelt, so: »Die Kindheit Jesu« von Konrad von Fußesbrunn und die »Himmelfahrt Maria«
von Konrad von Heimesfurt.
Gegen den Schluß des Jahrhunderts, unter ungünstigen Zeitumständen und bei rasch eintretender Kunstverwilderung, erhob sich
noch ein fruchtbarer, phantasievoller Dichter bürgerlichen Ursprungs, Meister Konrad von Würzburg, der in lyrischen Gedichten
und einer besondern »Klage der Kunst« freilich schon andeutet, daß guter Gesang jetzt bei Hof minder gefällt
als schmähliche Worte, aber mit einer ganzen Reihe von erzählenden Gedichten: »Alexius«, »Silvester«, »Die goldene Schmiede«,
»Engelhart und Engeltrud«, »Kaiser Otte«, »Das Herze«, »Partonopier und Meliur«, und dem ungeheuerlich großen
Gedicht »Der Trojanische Krieg« die spröden Zeitgenossen zu gewinnen trachtete.
Neben
der Epik blühte eine reiche ritterliche Lyrik. Außer Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und Gottfried finden wir Heinrich von Morungen,
Reinmar von Hagenau (Reinmar der Alte), Ulrich von Singenberg, Christian von Hameln, Leutold von Säben, Gottfried von Neifen, Burkard
von Hohenfels, Ulrich von Lichtenstein (dessen »Frauendienst« zugleich
ein lebendig anschauliches Bild des ungesund gewordenen Minnewerbens und Minnedienstes gewährt), Hildbold von Schwangau, Ulrich von Winterstetten,
Reinmar von Zweter, alle überwiegend der weltlichen Minne huldigend, gelegentlich auch (namentlich in Marienliedern) ihrer
religiösen Empfindung Ausdruck gebend oder zur politischen Lyrik hinüberneigend.
Der größte lyrische Dichter der Periode, Walther von der Vogelweide (gest. 1230 bei Würzburg), wahrscheinlich
ein Tiroler oder Franke, der in Österreich am kunstsinnigen Hof der Babenberger »singen und sagen gelernt« und am Hof Landgraf
Hermanns von Thüringen gesungen, beherrscht das ganze Gebiet des Liedes. Seine Lieder lassen sich zwischen 1198 und 1228 fixieren.
Ihm gelang es, in den künstlichsten Strophen der ritterlichen Lyrik die volle Frische des volkstümlichen
Liedes zu erhalten; er ist »der vielseitigste, tiefste, männlichste lyrische
Dichter Deutschlands«. Unter seinen Zeitgenossen und Nachfolgern bilden Nithart von Reuenthal, der Tannhäuser, Steinmar, Konrad von
Kirchberg u. a. durch die Anlehnung an die volksmäßigen (dörfischen) Reigen eine besondere Gruppe innerhalb
der ritterlichen Lyrik.
Auch die didaktischen Gedichte des Zeitraums stellen höfische Sitten und Tugenden (Hofzucht) in den Vordergrund, so: »Der Winsbeke«
und (minder wertvoll) »Die Winsbekin«;
»Der welsche Gast« des Thomasin von Zerclaere;
Freidanks »Bescheidenheit«, des Tannhäusers
»Hofzucht« und »Der Renner« des Hugo von Trimberg, der am Ausgang dieser Zeit (zwischen 1260 und 1309) entstand
und einen allgemeinern Ton der Sittenpredigt anschlägt.
IV. Zeitraum.
Der Verfall der ritterlichen Dichtung und der Übergang zur bürgerlich-lehrhaften Poesie.
Am Ausgang des 13. Jahrh. war es entschieden, daß die ritterliche Dichtung keine Zukunft habe; der höfische Adel hatte aufgehört,
Träger der besten Bildung der Zeit zu sein. Die edlen Sänger wurden wieder abgelöst von fahrenden Leuten
bürgerlichen Ursprungs, welche freilich noch eine Zeitlang mit den Mitteln zu wirken suchten, durch welche die großen erzählenden
Dichter und Lyriker der vergangenen Periode gewonnen hatten. Allegorie und übel angebrachte Gelehrsamkeit verdrängen das wirkliche
Leben aus den epischen Dichtungen.
So in der »Martina« des Deutschordensritters Hugo von Langenstein (um 1293 gedichtet),
so im »Alexander« des Ulrich von Eschenbach
(zwischen 1270-84),
so im »Apollonius von Tyrland« des Wiener Arztes Heinrich von der Neuenstadt (um 1300),
so in der »Deutschordenschronik«
des Nikolaus von Jeroschin (um 1350). Einfacher blieben die großen Dichtungen geistlichen Stoffs und Gepräges,
die jetzt in dem mannigfach heimgesuchten Deutschland wieder größern Beifall gefunden zu haben scheinen. Die große Legendensammlung
eines ungenannten Dichters: »Das große Passional« (100,000 Verse),
die legendarische »Geschichte der heil. Elisabeth«, die
»Marienleben« von Bruder Philipp dem Kartäuser und Walther von Rheinau gehören hierher. Das rein allegorische
Gedicht, welches im Anfang der Verfallzeit noch mit einer gewissen
mehr
Frische vereinbar war, wie »Die Jagd« des Hadamar von Laber erweist, wird bereits im »Maidenkranz« des Heinrich von Mügeln (um
1340) immer gespreizter und trockner. »Die Mörin« und »Der goldene Tempel« von Hermann von Sachsenheim (nach 1400) sowie »Die
Blume der Tugend« von dem Tiroler Konrad Vintler (1411) leiten zu den völlig didaktischen und in ihrer Lebhaftigkeit
rein ungenießbaren allegorischen Dichtungen hinüber, als deren letzte namhafte noch am Ausgang des 15. Jahrh. der »Teuerdank«
Kaiser Maximilians I. hervortritt. Auch die wenigen ritterlichen Lyriker, die verspätet noch sangen, wie Graf Hugo von Montfort,
Oswald von Wolkenstein, suchten sich durch didaktische Wendungen und geistliche Mahnungen gleichsam zu
rechtfertigen. Sie trafen hierin mit den bürgerlichen Didaktikern und strafenden Satirikern zusammen. Schon Heinrich zur Meise
(Frauenlob, gest. 1318) hatte nach dieser Richtung eingelenkt, ebenso Heinrich der Teichner mit seinen Spruchgedichten und Peter
Suchenwirt (in der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.); der Dominikaner Ulrich Boner gestaltete seine moralisierende
Fabelsammlung: »Edelstein« (1330-1340) zu einem Lehrgedicht, das wiederum Spätern zum Muster diente.
Die umherwandernden Dichter vom Handwerk wandelten sich allmählich in »Meistersänger« um; sie legten großes Gewicht auf die
Forterhaltung der künstlichen Formen der ritterlichen Kunst, deren Geist sie freilich in der völlig veränderten Zeit nicht
erhalten konnten. Indem das bürgerliche Element mehr und mehr in den Vordergrund trat, begann sich rasch
eine Scheidung zwischen den seßhaften, in den Städten die Kunst neben ihrem Handwerk ausübenden Meistersängern und den Vertretern
des Meistergesanges zu vollziehen, welche »auf ihre Kunst ihr Brot suchten«.
Die spätern Meistersänger beriefen sich allerdings noch auf umherziehende Meister, wie Bartel Regenbogen,
den Schmied (vom Ende des 13. Jahrh.), auf Muskatblüt, den Gegner der Hussiten (erste Hälfte des 15. Jahrh.),
auf Michael Behaim
(1421-74), Weber, Kriegsmann und Berufsdichter, der, neben geistlichen und weltlichen Meisterliedern in 14 Meistertönen,
die chronikalischen Gedichte: »Das Buch von den Wienern« (Aufruhr der Wiener gegen Friedrich III., 1462) und
»Das Leben des Pfalzgrafen Friedrich I. bei Rhein« (1469) verfaßte. Im allgemeinen aber scheint dem in besondern »Zünften«,
namentlich in den oberdeutschen Reichsstädten, gepflegten Meistergesang von vornherein eine Tendenz zum Bürgerlich-Ehrbaren,
Ernst-Lehrhaften, ja, wie die Beziehung einzelner Meistersängerzünfte zu Begräbnisbrüderschaften etc.
erweist, zum Erbaulichen und Andächtigen innegewohnt zu haben.
Freilich vermochten die biedern bürgerlichen Meister weder die Ausschreitungen einzelner Genossen zu hindern, welche um die
Wette mit den fahrenden Leuten, mit Geistlichen und Mönchen in derben und unzüchtigen Schwänken, Schmaus- und Trinkliedern
den großen Haufen unterhielten, noch wußten sie mit ihren verschnörkelten und erkünstelten Weisen und
Tönen den allgemeinen Verfall der eigentlich poetischen Kunst und die wachsende Sprachverwilderung aufzuhalten.
Die gemeinsame mittelhochdeutsche Schriftsprache der großen Blütezeit verschwand im 14. und 15. Jahrh. in einer Art sprachlichem
Chaos. Mundartliche Besonderheiten drängen sich überall vor; der Sinn für Reinheit der Reime, für den Wechsel
von Hebungen und Senkungen im Vers, für Feinheit und Anmut wie für die Würde des Ausdrucks verlor sich völlig. Der Drang zum
Neuen und Charakteristischen, der unverkennbar
in dieser Verfallzeit sich geltend machte, kam zunächst doch mehr der Prosa
als der Poesie zugute, welche in diesem Zeitraum meist vom Abhub der verrauschten glänzenden Zeit lebte.
Von wirklicher Bedeutung für die Weiterentwickelung der Litteratur wurde die allmähliche Erstarkung der dramatischen Dichtung.
Schon im 13. Jahrh. und zu Anfang des 14. Jahrh. waren
die geistlichen Spiele, ursprünglich an kirchliche Feste geknüpft und in lateinischer Sprache geschrieben, teilweise vollständig
deutsch geworden; in einem und dem andern lassen sich Spuren der höfischen Kunst erkennen, im allgemeinen
aber gingen die Dichter und Bearbeiter der Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsspiele (denen sich verhältnismäßig wenige
Legendenspiele nach fremden Mustern hinzugesellten) ihren eignen Weg.
Die poetische Individualität hatte hier zunächst wenig Raum; ein Spiel, entlehnt aus dem andern, geht
in das andre über; gleichwohl trat eine wachsende Mannigfaltigkeit der frei erfundenen und detaillierten Szenen ein, welche
den Spielen einen stets volkstümlichern Charakter gab. Von den Spielen dieser Art sind hier das »St. Gallener Weihnachtsspiel«
und »St. Gallener Osterspiel«, das »Niederhessische Weihnachtsspiel« und »Kremnitzer Weihnachtsspiel«, das »Wiener Osterspiel«,
»Innsbrucker Osterspiel«, das »Redentiner Osterspiel« (in niederdeutscher Sprache),
die ausgedehnten, auf
mehrtägige Darstellung berechneten »Passionsspiele« von Alsfeld, Friedberg, Frankfurt a. M. zu nennen. Unter den Himmelfahrtsspielen
bietet das Tiroler besonderes Interesse. Apokrypher waren die Spiele von der »Kindheit Jesu«, »Mariä
Himmelfahrt«, das höchst eigentümliche, 1322 zu Eisenach aufgeführte »Spiel von den klugen und thörichten
Jungfrauen«, dessen Dichter man auch das Erfurter Spiel »Von der heil. Katharina« zuschreibt.
Unter den Legendenspielen, welche Leben der Heiligen dramatisierten, finden wir das »Spiel vom heil. Georg«, das Kremsmünsterer
»Spiel von der heil. Dorothea«, Spiele von »Susanna«, »Vom heil. Meinhard«, »Vom
heiligen Kreuz« (die Legende der Helena, der Mutter Konstantins, behandelnd),
fast alle dem 15. Jahrh. angehörig.
Den bedeutendsten dramatischen Anlauf nahm im »Spiel von Frau Jutten« der Mühlhäuser »Meßpfaffe« Theodorich Schernbeck
(1480).
Vom 15. Jahrh. an treten selbständig neben den geistlichen Spielen, in denen es an derben und possenhaften Szenen nicht mangelt,
die Fastnachtsspiele hervor, welche in den Städten von Gesellschaften junger Leute, zunächst wohl in Privathäusern,
umherziehend gespielt wurden, besondere Bedeutung in Nürnberg gewannen, wo zwei volkstümliche, auch als Dichter erzählender
Schwänke und Meistersänger auftretende Poeten, Hans Rosenplüt (zwischen 1440 und 1480) und der Bader Hans Folz, sie weiterbildeten.
Der reinere von ihnen war unzweifelhaft Rosenplüt, während der »Barbierer« Folz durch die üppigsten und
zweideutigsten Scherze zu wirken suchte, vor keiner Unflätigkeit zurückschrak, aber viel frisches Leben und größere Gewandtheit
im Aufbau und der Durchführung der Spiele entwickelte. Gelegentlich spielen die geistige Bewegung der Vorreformationsperiode
(von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 16. Jahrh.), die Abneigung gegen
das Treiben der entarteten Geistlichkeit, selbst der Anteil am politischen Leben und namentlich die Furcht vor den Türken herein.
Zahlreiche Fastnachtsspiele sind ohne Namen der Dichter aufbewahrt, noch zahlreichere jedenfalls verschwunden.
mehr
Die alte Sagendichtung wie die ritterlich-höfische Epik erlebten in dieser Periode eine letzte eigenartige Wandlung. Wohl gab es
noch einige wenige poetische Bearbeiter; noch am Ausgang des 15. Jahrh. dichtete der Maler Ulrich Füterer für Herzog Albrecht
IV. von Bayern ein Epos über »Lancelot und die Tafelrunde«, welches mit dem Argonautenzug beginnt. Im allgemeinen
aber entsprach es dem realistischen Sinn der unkünstlerisch gewordenen Zeit, daß die alten großen Epen in Prosaerzählungen
aufgelöst wurden.
Mit wirklichen Vorzügen und der kostbaren künstlerischen Form der Gedichte verschwanden gleichwohl auch einzelne Mängel.
Da es sich um gedrängte Wiedergabe der Handlung und Charakteristik handelte, traten viele Äußerlichkeiten
zurück; das Standesgefühl, welches die höfische Poesie erfüllt hatte, wich einer andern Auffassung der Dinge, die vielfach
aus den sogen. Volksbüchern zu uns spricht. Großen Einfluß auf die rasche Entstehung und Verbreitung dieser Erzählungen
in Prosa hatte die Erfindung des Buchdrucks, die überhaupt vom Ende des 15. Jahrh. an
die Entwickelung der Litteratur mit bestimmte.
Bis tief ins 16. Jahrh. hinein währte die im 15. beginnende Abfassung dieser Volksbücher, welche die Reste des Reichtums
der mittelalterlichen deutschen Poesie mit einzelnen Bearbeitungen späterer fremder Dichtungen zugleich einer völlig veränderten
Zeit überlieferten. »Loher und Maller«, »Hug Schapler«, »Melusine«, »Fierabras«, »Die Haimonskinder«, »Die
schöne Magelone«, »Kaiser Octavianus«, »Herzog Ernst«, »Wigalois« und »Tristan«, die Schwanksammlungen: »Peter Leu« und »Tyl Eulenspiegel«
bis zu den erst am Ende des 16. Jahrh. hervortretenden Volksromanen: »Doktor Faust« und »Die Schildbürger« vergegenwärtigen,
wie trotz der vorwaltenden Verstandesrichtung der Zeit die Ansprüche der Phantasie auch in breiten Lebensschichten
fortbestanden.
Daß in dem in Rede stehenden Zeitraum die Bedeutung, Ausbreitung und die Wirkung der Prosa, der geschichtlichen, beschreibenden
und lehrhaften Litteratur, wuchsen, ward schon angedeutet. Einen entscheidenden Anteil am Gewinn einer auch formell wertvollen
und die geistige wie sprachliche Weiterbildung der Nationallitteratur fördernden Prosa hatten vor allen die deutschen
Mystiker des 14. Jahrh., unter denen Meister Eckhart (zwischen 1260 und 1327) der älteste war.
Außer seinen Schriften wurden die von Nikolaus von Basel,
Johann Tauler (gest. 1361, »Nachfolgung des armen Lebens Christi«),
Heinrich
Suso (gest. 1365, »Büchlein von der ewigen Weisheit«),
Rulmann Merswin (gest. 1382, »Buch von den neun Felsen«),
Otto von Passau (»Die vierundzwanzig Alten«, oder »Der
güldene Thron der minnenden Seelen«),
ferner das Büchlein »Deutsche Theologia« von einem Frankfurter Priester (Ende des 14. Jahrh.)
und die Predigten des spätern Johann Geiler von Kaisersberg (1445-1510, namentlich die über Seb. Brants »Narrenschiff«) von
besonderer Wichtigkeit. In der darstellenden Prosa versuchten einzelne Chronisten sich schon jetzt zur
Geschichtschreibung zu erheben, ohne daß ihnen dies sonderlich geglückt wäre. Die »Limburgische
Chronik« des Stadtschreibers Johannes (um 1350),
die »Thüringische Chronik« des Johannes Rothe von Eisenach (um 1420),
die »Berner
Chronik« von Diebold Schilling und die »Chronik der Eidgenossenschaft« von Petermann Etterlin ragen aus der
Menge der Versuche hervor; ihr litterarischer Wert liegt in Ansätzen zu lebendigen Einzelschilderungen und sprachlichen Eigentümlichkeiten.
V. Zeitraum.
Das Reformationsjahrhundert.
Um
die Mitte des 15. Jahrh. hatte während der langen ruhmlosen Regierung Kaiser Friedrichs III. der Verfall des Deutschen Reichs
stetige Fortschritte gemacht; die kirchlichen Verhältnisse waren trotz der Reformkonzile von Konstanz
und Basel
immer unerquicklicher, die Entsittlichung und Verweltlichung der Geistlichkeit immer ärger geworden. Dabei trat eine
weitreichende Veränderung aller frühern realen Lebensverhältnisse ein, deren Ursachen man nur vereinzelt begriff, deren
Druck aber ganze Volksklassen und Stände traf, so daß schon durch diese Vorbedingungen eine Epoche der
Gärung und des Kampfes gegeben gewesen wäre.
Regten sich nun, wie es überall in Deutschland der Fall war, dabei Tausende von gesunden Kräften und Bestrebungen im einzelnen,
drängten sich zwischen den absterbenden Bildungen des Mittelalters neue hochbedeutsame Lebensbildungen hervor, begegnete dem
tiefreichenden Unmut und der weithin sichtbaren Zerrüttung anderseits ein frischer Aufschwung des Volksgeistes,
Sehnsucht und zuversichtliche Erwartung einer Reform an Haupt und Gliedern, einer großen Veränderung zum Bessern: so mußte
daraus ein Zustand chaotischer, aber frischer und im ganzen hoffnungsfreudiger Bewegung hervorgehen. So trafen die großen
Bewegungen des Humanismus und der Reformation auf eine außerordentliche Empfänglichkeit der Einzelnen wie
der Massen.
Das Studium der Sprachen und Schriftwerke des klassischen Altertums gewann vom Ende des 15. Jahrh. an eine kaum abzuschätzende
Verbreitung, Bedeutung und Einwirkung auch auf das deutsche Leben. In bemerkenswertem Gegensatz zum italienischen Humanismus
zeigte der deutsche zunächst einen schwer wiegenden Ernst, pädagogisch reformatorische Tendenzen. Die Anfänge der
großen geistigen Bewegung knüpften an die Fortbildungen der Mystik an; der Zusammenhang der ersten hervorragenden Humanisten
mit den niederdeutschen Brüdern vom gemeinsamen Leben darf mit Recht betont werden.
Die geistigen Grundstimmungen, aus denen der deutsche Humanismus erwuchs, und die er wiederum großzog und nährte, erfüllten
auch einen Teil der Litteratur in der Volkssprache. Die moralisierende und satirische Richtung, die beständige
Forderung und Erwartung einer kirchlichen Erneuerung, die sich in den lateinischen Schriften der Humanisten finden, beleben
auch die deutschen Dichtungen und Prosawerke der Vorreformation. Der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der deutschen politischen
und sozialen Zustände um die Wende des 15. und 16. Jahrh. entsprach eine ähnliche Mannigfaltigkeit
der geistigen Leistungen und Versuche.
Aber das eigentliche Ideal der Zeit blieb bewußt und unbewußt die kirchliche Reform, und die mächtige Bewegung der Kirchenreformation,
die mit dem Auftreten Luthers 1517 ihren Anfang nahm, überwältigte und verschlang in Deutschland bald alle andern Bewegungen
und Bestrebungen. Durch sie wurde der Volksgeist wie nie vorher oder nachher bis in seine letzten Tiefen
erregt. Erlebte in der Reformation der vom Humanismus und der emporstrebenden Weltlichkeit bedrohte und im Kern mittelalterliche
Geist ausschließlich kirchlich-religiöser Lebensrichtung seine gewaltigste Auferstehung, so verband er sich doch mit Elementen,
die ausschließlich der neuern Zeit angehörten, und entfesselte, indem die große europäische Kircheneinheit
des Mittelalters endgültig gebrochen ward, die freie Überzeugung und Empfindung der Individuen. Das