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quer über fast die ganze Breite [* 2] der Schweiz [* 3] ausgedehnt, erstreckt sich über alle vier Terrainzonen: Hochalpen, Voralpen, Ebene und Jura, vergleichbar einem Sitz mit ungleich hohen Seitenlehnen. Steigt die alpine Lehne, das Berner Oberland, bis zum Grate des Hochgebirges hinauf (s. Berner Alpen), so erhebt sich die jurassische zu geringerer Höhe, aber zu einem nicht weniger ausgedehnten Bergland (Leberberg oder Berner Jura), jenseit dessen selbst noch ein Fetzen, das Pays d'Ajoie (Elsgau, um Pruntrut), zu den Ebenen des Oberelsaß niedersteigt, durch den Bergrücken des Repais von dem übrigen Kantonsgebiet abgetrennt.
Rechts und links vom Aarethal treten voralpine Bergländer zur Ebene hinaus: Ober-Emmenthal und Schwarzenburg, so daß das Flachland sich auf Oberaargau (um Langenthal), das Mittelland (um Bern) [* 4] und Seeland (um Biel) beschränkt. Aus dem Mittelland, bei Bern, ragen die Hügelmassen des Gurten (861 m) und des Bantiger Hubels (950 m) empor. Der Leberberg, abgesehen von dem transjurassischen Elsgau, besteht aus dem Val St.-Imier, dem Birsthal und den Franches Montagnes (Freibergen).
Letztere umfassen die plateauartigen Höhen, zu deren Besiedelung der ehemalige Souverän, der Baseler Bischof Imer von Ramstein (1384), durch Erteilung von Freiheiten aufmunterte (um Saignelégier). Ebenso verschieden wie die Landschaften ist die Bevölkerung, [* 5] die 1880: 532,164 Seelen (77 auf 1 qkm) zählte, nach Sprache [* 6] und Konfession wie nach besondern Charakterzügen. Die Jurassier sind großenteils französisch (78,640), die Bewohner des alten Kantonteils deutsch, jene meist katholisch (65,828 Seelen, zur Diözese Basel-Solothurn gehörig), diese reformiert (463,163 Seelen).
Dazu kommen über 1300 Juden. Die Bauernschaft des Mittellandes ist der Kern des Landes, sehr wohlhabend, aber auch stolz. Fleiß und Sparsamkeit, teilweise verbunden mit der Gunst großer Güterkomplexe (durch das Minorat), haben sie zu solcher Blüte [* 7] erhoben. Der deutsche Berner hat eine zähe, kühle Natur, ist kräftig, derb, schwerfällig, behaglich und phlegmatisch, von mäßiger Intelligenz. Der Jurassier und auch der weinbauende Seeländer sind weit beweglicher und leidenschaftlicher und nähern sich dem französischen Charakter. Die Bevölkerung des Oberlandes, von Natur ein gutmütiger, intelligenter, hübscher und kräftiger Schlag, zeigt heutzutage mehrfache schlimme Einwirkungen des ungemein starken Fremdenbesuchs: der Reisende klagt über Zudringlichkeit und Bettelei, über teure Preise und Übervorteilung, und man bedauert, daß Arbeitsscheu und Genußsucht überhandnehmen.
Der bernische Feldbau hat seinen Hauptsitz in der Hochebene, erzeugt aber nicht genug Getreide. [* 8] In neuerer Zeit wird die Hebung [* 9] des Obstbaues, behufs Bekämpfung der Branntweinpest, kräftig angestrebt. Wein, fast nur im Seeland gebaut, ist einzuführen (meist aus der Waadt). Die Wälder sind kaum mehr ausreichend; selbst im Jura, der zwar immer noch Holz [* 10] zur Ausfuhr bringt, sind die Waldungen sehr gelichtet, noch mehr im Oberland. Viel Rindvieh, von schönstem Schlag (Fleckvieh) im Simmenthal (Erlenbacher Schlag), im Saanenland, im Frutigen- und Emmenthal.
Die Alpen [* 11] des Simmen- und des Emmenthals sind sorgfältig bewirtschaftet. Die fetten Emmenthaler Käse werden in Langnau aufgestapelt und selbst die ähnlichen Käse der Nachbargebiete angekauft, um von diesem Platz aus in die weite Welt zu wandern. Das Haslithal hat seine eigne Rasse Braunvieh, welches dem Unterwaldner am nächsten kommt. Im Flachland gibt es viel Viehmast. Pferdezucht [* 12] wird am stärksten in den Freibergen und im Simmenthal (Erlenbach) betrieben; daneben züchtet man sehr viele Schweine, [* 13] Ziegen und Schafe [* 14] (s. Frutigen).
Auf dem jurassischen Gebiet findet Bergbau [* 15] auf Eisen [* 16] statt (s. Délémont). Treffliche Sandsteine finden sich bei Ostermundingen (s. d.), Kalk und Gips [* 17] sowohl in den Voralpen als im Jura, Thonschiefer am Niesen (Mühlenen). Granit liefern die erratischen Blöcke. Im Seeland gräbt man auch Torf. Berühmte Heilquellen sind zu Rosenlaui, Gurnigel, Lenk, Weißenburg [* 18] und Blumenstein. Im alten Kantonsteil sind von Bedeutung die Leinenindustrie des Mittellandes, die Baumwollindustrie des Oberaargaus, die Tuchweberei (s. Frutigen), die Parkettfabrikation von Interlaken und die Holzschnitzerei des Oberlandes (s. Brienz); im neuen hingegen die Uhrmacherei (Val St.-Imier, Biel u. a.) und die Seidenweberei (s. Basel), [* 19] örtlich auch Glasfabrikation, [* 20] Töpferei etc. Das »Pruntruter Geschirr« aus dem Ort Bonfol, roh von Form, plump und schwer, ist wegen seiner Feuerbeständigkeit beliebt. Größere Handelsgeschäfte knüpfen sich an einige Zweige der Urproduktion und Industrie sowie an einige Geldinstitute der Hauptstadt; aber im ganzen tritt der Handel gegen die übrigen Erwerbsarten zurück. Eine mächtige Erwerbsquelle bildet der Touristenzug im Oberland; Hotels, Pensionen, Transportmittel, Führer, Träger [* 21] etc. haben allsommerlich ihre goldene Saison. Ist für dieses Treiben Interlaken der Lieblingsplatz, so verleiht es auch dem Schlüsselpunkt des Oberlandes (s. Thun) ein bewegteres Leben und verzweigt sich in die Bergthäler, die in frühern Jahrhunderten ein sehr abgeschiedenes Stillleben genossen.
Mittelschulen, humanistische und realistische, existieren zu Bern, in Pruntrut, Burgdorf und Biel. Das deutsche Lehrerseminar befindet sich in Münchenbuchsee, das französische in Pruntrut, Seminare für Lehrerinnen in Bern, Hindelbank und Délémont. Das Volksschulwesen, das allgemeine (primäre) und das fakultative (sekundäre), gehört zu den entwickeltsten der Schweiz. Es gibt mehrere öffentliche Bibliotheken in Bern (s. unten), ferner die Stadtbibliothek von Burgdorf (11,000 Bände) und die Bibliothèque de l'école cantonale in Pruntrut (Porrentruy, 14,000 Bände).
Zufolge der noch in Kraft [* 22] bestehenden Verfassung vom bildet der Kanton [* 23] Bern einen demokratischen Freistaat und ein Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit des Volkes. Es übt sie teils unmittelbar (seit 1869 auch durch das Referendum), teils mittelbar durch die verfassungsmäßigen Behörden. Die Verfassung garantiert die in den schweizerischen Republiken üblichen Grundrechte, enthält Periodizität der Beamtungen (seit 1870, resp. 1874 auch der geistlichen und Lehrerstellen), erklärt den Primärunterricht für obligatorisch, verpflichtet den Staat, für den Unterricht zu sorgen, und macht die Niederlassung und Lehrthätigkeit kantonsfremder religiöser Korporationen von der Bewilligung der gesetzgebenden Behörde abhängig.
Dem neuen Kantonsteil sind eine besondere Armengesetzgebung sowie die französischen Zivil-, Handels- und Strafgesetzbücher garantiert. Deutsch und Französisch sind als Landessprachen anerkannt. 8000 Bürger können die Revision der Verfassung verlangen. Die höchste Staatsbehörde ist der Große Rat. Ihm stehen die Legislative, die Oberaufsicht über die gesamte Staatsverwaltung sowie die Wahl gewisser Beamten und Behörden zu. Er wird durch die Wahlversammlung der Wahlkreise, je ein Mitglied auf 2000 ¶
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Seelen der Bevölkerung, gewählt und alle vier Jahre erneuert. Oberste Exekutivbehörde ist ein Regierungsrat von neun Mitgliedern, der nach jeder Gesamterneuerung der Legislative neu bestellt wird. In den Amtsbezirken wird derselbe durch einen Regierungsstatthalter vertreten, der auf doppelten Vorschlag der Wahlversammlung des Amtsbezirks und auf doppelten Vorschlag des Regierungsrats durch den Großen Rat zu wählen ist. Höchste richterliche Behörde ist ein Obergericht, aus höchstens 15 Mitgliedern bestehend; dasselbe wird durch den Großen Rat gewählt und je nach vier Jahren zur Hälfte erneuert. Die Amtsgerichte werden durch die Wahlversammlungen der Bezirke bestellt, ihre Präsidenten durch den Großen Rat. Für Kriminal-, politische und Preßvergehen bestehen Geschwornengerichte. In Kommunalsachen gilt die Gemeinde als autonom.
Zufolge der Staatsrechnung für 1883 betrugen die Einnahmen 20,925,908 Frank (darunter: direkte Steuern 3,685,078, Salz [* 25] 1,805,463, Wirtschaftspatente etc. 1,123,160, Ohmgeld 1,084,528 Fr.); die Ausgaben 20,900,005 Fr. (darunter Erziehung 1,998,403, Bauwesen 1,701,549, Justiz und Polizei 1,749,012 Fr.). Das Stammvermögen belief sich Ende 1883 auf 156,930,431 Fr. Aktiva und 107,290,315 Fr. Passiva, mithin wirkliches Vermögen 49,640,116 Fr., ungerechnet 4,161,408 Fr. an Spezialfonds. Das Kantonswappen: ein roter Schild, [* 26] worin im goldenen Rechtsschrägbalken ein schwarzer Bär schreitet (s. Abbildung). Eingeteilt wird der Kanton in 30 Amtsbezirke.
Die Stadt Bern,
in 540 m Meereshöhe gelegen, ist zwar immer noch Sitz und Zentrum reicher Patriziergeschlechter, aber eine Handelsstadt im gewöhnlichen Sinne nicht mehr. Dennoch laufen mehrere Eisenbahnen (die Linien Olten-Bern-Thun, Bern-Luzern, Jura-Bern und Bern-Lausanne) hier zusammen, eine Folge ihrer Lage und ihrer Eigenschaft als Bundeshauptstadt. Sie wird auf drei Seiten von der tief gebetteten Aare umrauscht und ist eine der schönsten Schweizerstädte wegen der massiven, stolzen Wohnhäuser, [* 27] der breiten, geraden Straßen und Wege, der Arkaden oder Bogengänge (»Lauben«),
welche an den Häusern zu beiden Seiten der Straße sich hinziehen. Von der Plattform aus, 30 m über der Aare, genießt man eine herrliche Aussicht auf die Alpen. Unter den Sehenswürdigkeiten steht der Bundespalast, ein neuer Prachtbau auf weit schauender Terrasse, mit zwei Flügeln und vor dem Eingang des Mittelbaues durch das eherne Standbild der Berna (von R. Christen) geschmückt, obenan. Diesem Gebäude (1852-57 nach den Plänen von Kubli und Stadler gebaut) reihen sich das ehrwürdige (reformierte) Münster [* 28] im spätgotischen Stil mit unvollendetem Turm und [* 29] schönem Portal, das Bürgerspital, das Kunst- und das naturhistorische Museum, das Gymnasium, das Frauenspital, die Blindenanstalt und das Verwaltungsgebäude der Jura-Bern-Luzerner Bahn, verschiedene vornehme Hotels, die 1841-44 erbaute Nydeck-, die 1883 erbaute prächtige Kirchenfeldbrücke (s. Tafel »Brücken«) [* 30] und die Eisenbahnbrücke an. Außerhalb der Stadt sind sehr bemerkenswert die Militäranstalten auf dem Beundenfeld und das neue Inselspital bei der Linde. Eine prachtvolle Fontäne sprudelt beim Bahnhof. Auf dem Platz vor dem Münster steht das Denkmal Rudolfs von Erlach, des Siegers in der Schlacht bei Laupen. Ein andres Denkmal ist das Bertholds V. von Zähringen (auf der Münsterterrasse), des Gründers von und aus der großen Schanze dasjenige des Bundespräsidenten Stämpfli. Die Stadt zählt (1880) 44,087 Einw. (darunter 3456 Katholiken und 387 Juden). - Die Industrie erstreckt sich auf die Fabrikation von Stroh- und Seidenhüten, Seiden- und Baumwollwaren, Bijouterien, ferner Buchdruckerei.
Der Handel in Tuch, Wein, Getreide und Käse hat nur geringen Umfang. Auf Einwohner und Touristen übt der Bärengraben, eine uralte Stiftung, noch immer viel Anziehung. Nicht übel symbolisiert das bernische Wappentier die etwas derbe, aber kraftbewußte Energie des alten Bern. Zeichnete Zürich [* 31] sich von jeher auf dem Gebiet der Industrie und Wissenschaften aus (»Schweizer Athen«, [* 32] »Limmat-Athen«),
so ragte die Berner Aristokratie mehr auf dem Felde der Krieger und Regenten hervor. Doch besitzt Bern seit 1834 eine Universität, die 1884: 81 Dozenten und 409 Studierende (darunter 36 weibliche, wovon 28 Russinnen) zählte. Zur Universität gehört die Tierarzneischule mit 8 Lehrern und 44 Hörern. Die Kantonschule wurde durch städtische Mittelschulen ersetzt. Von Bibliotheken sind zu erwähnen: die eidgenössische Zentralbibliothek mit 20,000 Bänden, die Stadtbibliothek (75,000 Bände), die Bibliothek der Lesegesellschaft (45,000 Bände) und die Studentenbibliothek (10,000 Bände). Bern ist Sitz der Bundesbehörden (seit 1848), eines altkatholischen Bischofs und der bei der Schweiz akkreditierten Gesandten.
Geschichte der Stadt und des Kantons Bern.
Die Zeit der römischen Herrschaft in Helvetien hat im Gebiet des heutigen Kantons Bern nur geringe Spuren hinterlassen. In der Völkerwanderung begegneten sich hier Alemannen und Burgunder, mit deren Unterwerfung das Land unter fränkische Herrschaft kam. Seit 888 ein Bestandteil des neuburgundischen Reichs, fiel es mit diesem 1032 an Deutschland. [* 33] Die Zähringer, welche 1156 von Barbarossa das »Rektorat« über das diesseit des Jura gelegene Burgund erhalten hatten, suchten den widerspenstigen Adel durch Anlegung fester Waffenplätze [* 34] im Zaum zu halten; so gründete im Mai 1191 Berchtold V. die Stadt Bern, welche er wohl zum Andenken an die ehemals von seinem Haus besessene Markgrafschaft Verona [* 35] (Welschbern) so benannte. Da die Stadt auf Reichsgrund lag, wurde sie mit dem Tod ihres Gründers, in welchem das Geschlecht erlosch, 1218 thatsächlich reichsfrei, obschon die »goldene Handfeste« des Kaisers Friedrich II. vom 17. Mai d. J. als eine Fälschung aus späterer Zeit erwiesen worden ist.
Um den Nachstellungen der mächtigen Grafen von Kyburg zu entgehen, welche die schweizerischen Allodien der Zähringer geerbt hatten, begab sie sich 1255 in ein Schirmverhältnis zu Savoyen, wodurch sie in den Streit dieses Hauses gegen Rudolf von Habsburg verwickelt wurde und wiederholte Belagerungen von seiten des letztern zu erdulden hatte (1288-89). Ein Sieg, den Bern 1298 über das österreichische Freiburg [* 36] und den mit ihm verbündeten Adel am Dornbühl erfocht, begründete seine Macht. Es benutzte dieselbe, um die benachbarten Dynasten zu zwingen, Bürger in der Stadt zu werden, was sie zur Kriegsfolge verpflichtete und ihr Gebiet indirekt unter die Herrschaft von Bern brachte. Andre Besitzungen wurden durch Kauf erworben, wie Thun (1323), Laupen (1324), die Reichsvogtei über Hasli (1334). 1339 vereinte sich fast der gesamte Adel des schweizerischen Burgund mit Freiburg gegen Bern, wurde aber von diesem mit Hilfe der
[* 4] ^[Abb.: Wappen [* 37] von Bern.] ¶
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Waldstätte, mit denen es 1323 ein Bündnis geschlossen, bei Laupen 21. Juni gänzlich geschlagen. Am wandelte Bern sein Verhältnis zu den Waldstätten in einen ewigen Bund um. Nachdem es hierauf eine Menge neuer Herrschaften kaufweise erworben (z. B. Aarberg 1375, Burgdorf 1384, Nidau 1386, Frutigen 1400, Bipp 1413), eroberte es 1415 im Reichskrieg gegen Österreich [* 39] den größten Teil des Aargaus. Während der Burgunderkriege übernahm Bern die Führung der Eidgenossenschaft und faßte durch die mit Freiburg gemeinsam unternommene Eroberung von Murten, Granson, Orbe und Echallens 1475 festen Fuß in der Waadt, die es 1536 Savoyen gänzlich entriß.
Seitdem beherrschte ein Gebiet von 236 QMeilen, d. h. ein Drittel der Schweiz. Die Reformation fand hier in dem Pfarrer Berthold Haller und dem als Dichter und Maler bedeutenden Niklaus Manuel eifrige Anhänger, und durch Zwinglis Disputation im Januar 1528 wurde Berns Übertritt zu derselben entschieden. Von da an stand es mit Zürich an der Spitze der protestantischen Schweiz und nahm teil an den Religionskriegen von 1531, 1656 und 1712. In diese Zeit fällt die Ausbildung der Berner Aristokratie.
Ursprünglich stand die höchste Gewalt bei der Bürgergemeinde, welche Rat und Schultheiß wählte; aber darin, daß das Regiment naturgemäß den zahlreichen edlen Geschlechtern, die sich in der Stadt eingebürgert hatten, zufiel, und daß die Handwerker nie dazu gelangen konnten, ihren Innungen politische Bedeutung zu verleihen, lag der Keim zur aristokratischen Entwickelung. Schon 1294 gingen die Befugnisse der Bürgergemeinde größtenteils auf einen Bürgerausschuß von 200 Mitgliedern über, der fortan Schultheiß und (Kleinen) Rat wählte. Im 15. Jahrh. wurden die 200 vom Kleinen Rat und den »Sechzehnern« gewählt, welch letztere wiederum, 4 aus jedem Viertel, von den 4 Vorstehern der 4 Stadtviertel, den »Vennern« (Bannerträgern), ernannt wurden; diese mußten aus den 4 Gesellschaften der Pfister (Bäcker), Gerber, Metzger und Schmiede genommen werden, ihre Wahl aber stand beim Rate der 200. So hatte die Gemeinde alle Einwirkung auf die Wahlen verloren, die verschiedenen Wahlkollegien ernannten oder bestätigten sich gegenseitig, und die Ämter wurden faktisch lebenslänglich. Im 17. Jahrh. bestand der (Kleine) Rat aus 2 Schultheißen, die jährlich miteinander abwechselten, 2 Säckelmeistern, 4 Bennern, 17 Ratsherren und 2 Heimlichern, welch letztere die besondern Vertreter der 200 waren, und wurde jährlich von diesen ergänzt und bestätigt; die 200 aber ergänzten sich teils selbst, teils durch die von ihnen aus ihrer Mitte gewählten Sechzehner, teils durch den (Kleinen) Rat. So war es möglich, daß sich eine Anzahl von Familien ausschließlich der Regierung bemächtigten.
Nachdem die Erwerbung des Bürgerrechts immer schwieriger gemacht worden war, erfolgte 1680 ein Beschluß, wonach nur diejenigen Familien, welche vor 1643 Bürger geworden waren, für »regimentsfähig« erklärt wurden. Die Namen derselben, 360 an der Zahl, wurden in das »rote Buch« eingetragen. Alle später aufgenommenen bildeten die niedrigere Klasse der »ewigen Habitanten«, die jedoch wieder vor den bloßen »Ansässen« durch die Erlaubnis, Handel und Handwerk zu treiben und Häuser zu besitzen, bevorzugt waren.
Von den »regimentsfähigen« waren aber nur 80 wirklich »regierende«; von diesen konnten wieder 30 ihre adlige Herkunft erweisen und maßten sich ausschließend den Namen »Patrizier« an, zerfielen aber wiederum in »wohledelfeste«, »edelfeste« und »feste«. Die Staatsämter, welche Alleinbesitz dieser Familien wurden, waren sehr einträglich; man schlug das »Barett«, das Abzeichen der ratsherrlichen Würde, zu 30,000 Thlr. an; insbesondere boten die 62 Landvogteien, die auf 6 Jahre vergeben wurden, eine reiche Einnahmequelle.
Jedes Verlangen nach einer Änderung der bestehenden Ordnung wurde als Aufruhr behandelt und Umsturzversuche mit Härte bestraft, so 1749 die Verschwörung von Hentzi (s. d.). Anderseits zeichnete sich die bernische Regierung aus durch ihre sorgfältige, sparsame und milde Verwaltung, so daß Männer der verschiedensten Richtungen, Haller, Rousseau, Napoleon, Joh. v. Müller, in Bern das Muster eines weise verwalteten Staats erblickten. Der durch die französische Revolution erwachte demokratische Geist vertrug sich nicht mehr mit diesen Zuständen.
Das nach dem bernischen Staatsschatz lüsterne französische Direktorium bot den unzufriedenen Waadtländern die Hand, [* 40] und indem Bern trotz heldenmütigen Widerstandes bei Fraubrunnen und Neueneck der französischen Übermacht erlag, stürzte die Aristokratie zusammen. Durch die helvetische Verfassung wurden Waadt, Aargau und Oberland als besondere Kantone von Bern losgerissen. Die Mediationsakte hielt 1803 die Selbständigkeit der Waadt und des Aargaus aufrecht, vereinte dagegen wieder das Oberland mit und gab dem Kanton, der vor 1798 ein Aggregat der verschiedenartigsten Bestandteile mit mannigfaltigen Lokal- und Partikularrechten gewesen war, seine gegenwärtige Einheit. Am erklärte die Regierung unter dem Druck Österreichs die Mediationsverfassung für aufgehoben und legte ihre Gewalt in die Hände des patrizischen Rats von 1798 nieder, der sofort seine Souveränität auch über Waadt und Aargau geltend zu machen suchte.
Allein diese Ansprüche scheiterten an dem entschiedenen Widerstand jener Kantone und an der Einsicht der Mächte. Dagegen erhielt Bern vom Wiener Kongreß als Entschädigung den größten Teil des ehemaligen Fürstbistums Basel (Berner Jura). Im Innern wurde die alte Verfassung hergestellt mit der Milderung, daß das Bürgerrecht der Stadt geöffnet und dem Rate der Zweihundert 99 Vertreter der Landschaft hinzugefügt wurden Die Julirevolution gab auch in Bern den Anstoß zur demokratischen Umgestaltung des Staatswesens.
Auf das stürmische Verlangen einer am zu Münsingen abgehaltenen Volksversammlung berief der Große Rat einen Verfassungsrat von 240 Mitgliedern, der nach der Volkszahl von den Gemeinden gewählt wurde. Die neue, am 31. Juli angenommene Verfassung hob die Vorrechte der Stadt gänzlich auf und setzte proportionale Vertretung im Großen Rat fest, dessen Wahl jedoch indirekt durch Wahlmänner erfolgte. Die gestürzten Patrizier trugen sich eine Zeitlang mit gewaltsamen Umsturzplänen, deren Entdeckung (August 1832) einen Monsterprozeß herbeiführte, welcher ihren Einfluß vollkommen brach. 1834 wurde die Hochschule gegründet.
Der Beitritt Berns zu den Beschlüssen der Badener Konferenz (s. Schweiz) erregte im katholischen Jura 1836 eine heftige Gärung, die von Frankreich geschürt wurde und zur Zurücknahme der »Badener Artikel« führte. Allmählich trat gegen die von den Brüdern Schnell aus Burgdorf und später von Neuhaus geleitete liberale Regierung unter dem Einfluß der an der Hochschule wirkenden deutschen Flüchtlinge Ludwig und Wilhelm Snell eine radikale Opposition auf, welche 1846 eine Revision des Grundgesetzes bewirkte. Die neue, am angenommene ¶
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Verfassung beseitigte das indirekte Wahlsystem samt den letzten Wahlbeschränkungen, setzte die Mitgliederzahl der Regierung von 17 auf 9 herab, gab dem Volk das Recht, den Großen Rat abzuberufen, führte Geschwornengerichte ein und sah den Loskauf der Zehnten und Bodenzinsen vor. In die neue Regierung gelangten die Führer der Radikalen, der Freischarenführer Ochsenbein und Stämpfli, W. Snells Schwiegersohn. Am wurde Bern zur Bundeshauptstadt erhoben.
Mittlerweile hatte sich den Radikalen gegenüber eine große konservative Partei gebildet, welche bei den Wahlen im Mai 1850 die Oberhand gewann und die Regierung mit ihren Häuptern, Blösch, Straub u. a., besetzte. Die reaktionären Schritte der Konservativen (Entfernung freisinniger Lehrer, Erlaß eines strengen Preßgesetzes) bewirkten, daß schon 1854 Radikale und Konservative sich bei den Großratswahlen die Wage [* 42] hielten, worauf durch ein Kompromiß die Führer beider Parteien in die Regierung gewählt wurden.
Bei den spätern Neuwahlen wurde die konservative Partei immer schwächer und zuletzt ganz aus der Regierung gedrängt, worauf auch ihre Schöpfungen, das Preßgesetz etc., fielen. Durch eine vom Volk angenommene Partialrevision wurde das obligatorische Referendum über Gesetze, größere Ausgaben und das vierjährige Budget eingeführt. Der Kanton Bern wurde von den kirchlichen Kämpfen, welche 1872 in der Schweiz ausbrachen, besonders berührt. Als die Regierung nach der Amtsentsetzung des Bischofs Lachat den katholischen Geistlichen des Kantons jeden Verkehr mit demselben untersagte, kündigten 97 Geistliche aus dem Jura, dem katholischen Landesteil Berns, in einer Zuschrift an die Regierung dieser den Gehorsam auf, worauf sie, soweit sie Pfarrstellen bekleideten, gerichtlich derselben entsetzt wurden (September 1873). Zugleich regelte ein Kirchengesetz, welches vom Volk mit ca. 70,000 gegen 17,000 Stimmen angenommen wurde, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche, so daß Zivilstand, Ehe und Begräbnis bürgerlich geordnet, den Gemeinden die Pfarrwahlen übertragen und als höchste kirchliche Behörde für beide Konfessionen [* 43] die Kantonsynoden eingesetzt wurden und jede bischöfliche Jurisdiktion von der Bewilligung der Regierung abhing. Da nur die Altkatholiken sich den Bestimmungen dieses Gesetzes unterwarfen, während die Römisch-Katholischen erklärten, dasselbe niemals annehmen zu können, so gingen alle landeskirchlichen Privilegien, Staatsbesoldungen, Kirchen, Pfarrhäuser und das Kirchenvermögen an die altkatholische Kirche über, während sich die Römischen in die Stellung eines Privatvereins gedrängt sahen.
An der Universität Bern wurde im November d. J. eine altkatholisch-theologische Fakultät errichtet. Die Unruhen im Jura wurden durch Militär unterdrückt und die abgesetzten Geistlichen ihrer Agitation wegen aus den jurassischen Amtsbezirken ausgewiesen. Da jedoch der Bundesrat auf den Rekurs der Betroffenen hin diese Ausweisung für ungesetzlich erklärte und die Bundesversammlung ihm beistimmte, mußte die bernische Regierung das Ausweisungsdekret zurücknehmen; sicherte sich aber vorher durch das Kultuspolizeigesetz vom 14. Sept. gegen neue Ausschreitungen. Da indes die Subventionierung der Jura- und Bern-Luzerner Bahn, der Rückkauf der letztern, als sie zum Konkurs kam (Januar 1877), sowie andre bedeutende Ausgaben den Staat mit Schulden überhäuften und die Staatsrechnung Jahr für Jahr bedeutende Defizits aufwies, so entstand Unzufriedenheit im Volke gegen die herrschenden Persönlichkeiten, und dasselbe versagte dem vierjährigen Budget seine Genehmigung.
Bei den Neuwahlen zum Großen Rat Ende Mai 1878 behielt zwar die radikale Partei die Oberhand, die Regierung aber wurde fast völlig neu bestellt. Zugleich traten auch die kirchlichen Angelegenheiten in eine neue Phase, indem die Römisch-Katholischen sich dem Kultusgesetz unterwarfen, wogegen der Große Rat die abgesetzten Geistlichen für wieder wählbar erklärte. Im März 1879 beteiligten sich die Ultramontanen bei den Erneuerungswahlen der Geistlichen und siegten in vielen Gemeinden, doch sicherte die Regierung den altkatholischen Minderheiten die Mitbenutzung der Kirchen.
Zur Ordnung der Finanzen erließ der Große Rat ein Stempelsteuergesetz und ein Gesetz, betreffend die Vereinfachung des Staatshaushalts, welche das Volk genehmigte, obschon ihm durch das letztere das bisherige Recht der Budgetbewilligung entzogen wurde. Dadurch sowie durch eine vorteilhafte Konversion der Staatsschuld ist es der neuen Regierung gelungen, die Ära der Defizits zu schließen. Die Staatsrechnung von 1882 zeigt bei 21,730,000 Frank Einnahmen 21,748,000 Fr. Ausgaben.
Die seit einiger Zeit in der ganzen Schweiz bemerkliche rückläufige Strömung ermutigte die bernischen Konservativen 1883 zu einem erneuten Sturm auf das liberal-radikale Regiment. Sie konstituierten sich als sogen. Volkspartei, bemächtigten sich der schon seit Jahren schwebenden Frage einer Revision der Verfassung von 1846 und sammelten die zum Verlangen einer Volksabstimmung nötigen Unterschriften. Da nun auch die radikalen Wortführer und Organe sich für die Revision Aussprachen, wurde dieselbe in der Volksabstimmung vom 3. Juni mit großer Mehrheit beschlossen und einem besondern Verfassungsrat übertragen.
Die Wahlen zu diesem fielen jedoch zu Ungunsten der Volkspartei aus, indem zwei Drittel der Gewählten den Radikalen angehörten. Der Verfassungsrat begann sein Werk und beendete es Das neue Grundgesetz sollte namentlich Reformen im Gemeinde- und Armenwesen bringen und bestimmte die Erträgnisse der Bürgergüter, die bis dahin ausschließlich den Korporationen der Bürgergemeinden zu gute kamen, für die Bedürfnisse der Gesamtgemeinden, wurde aber mit 55,612 gegen 31,547 Stimmen vom Volk abgelehnt.
Vgl. v. Tillier, Geschichte des eidgenössischen Freistaats Bern (Bern 1838-40, 6 Bde.);
Stettler, Staats- und Rechtsgeschichte des Kantons Bern (das. 1845);
Wurstemberger, Geschichte der alten Landschaft Bern (das. 1862, 2 Bde.);
Wattenwyl, Geschichte der Stadt und Landschaft Bern (Schaffh. 1867-72, Bd. 1a. 2);
Hodler, Geschichte des Berner Volks seit 1798 (das. 1865-70);
»Urkunden für die Geschichte der Stadt Bern«, herausgegeben von Zeerleder (das. 1853-54, 3 Bde.);
»Fontes rerum Bernensium« (das. 1880 ff.).