Die
Sterndeutekunst fand in Babylonien schon ihre vollkommene
Ausbildung und Anwendung. Ein ganzes Priesterkollegium lag der
Beobachtung
des gestirnten
Himmels ob, wobei wohl der weitschauende, genau orientierte Belosturm als
Sternwarte
[* 5] diente. Die Babylonier
verstanden bereits, eine
Mittagslinie zu ziehen und den Sonnenstand oder die Tagesstunde zu bestimmen.
Im
»Almagest« des
Ptolemäos sind uns Angaben über mehrere Mondfinsternisse nach babylonischer Berechnungsart erhalten, die
von den neuern Berechnungen nur 9
Minuten abweichen.
Der
Lauf desMondes scheint die babylonischen
Priester überhaupt viel beschäftigt zu haben: sie entdeckten,
daß 223 Monderneuerungen ungefähr 19
Sonnenjahre ausmachen, fanden aber auch den übrigbleibenden Unterschied und kamen
so auf eine genauere
Periode von 600
Jahren, wie sie auch schon wußten, daß die tägliche mittlere
Bewegung des
Mondes 13°
10' 35'' beträgt, was mit unsern Tafeln bis auf die
Sekunden übereinstimmt. Sogar eine rückgängige
Bewegung der
Sonne
[* 6] von W. nach O. und die ungefähre
Peripherie der
Erde waren ihnen nicht unbekannt, obgleich sie sich die
Erde
hohl und von der Gestalt eines halben
Eies dachten. Der Höhepunkt babylonischer
Kunst und
Wissenschaft fällt in die Zeit der
Unabhängigkeit (seit 626
v. Chr.). DieRegierung war nach asiatischer
Weise despotisch. Der König thronte,
unsichtbar für das
Volk, von einem glänzenden Hofstaat umgeben, in seinem
Palast;
Satrapen herrschten mehr oder minder unabhängig
in den
Provinzen.
Geschichte. Über die älteste Geschichte Babyloniens berichtet der Geschichtschreiber
Berosos,
daß die Babylonier die Anfänge
ihrer
Kultur:
Sprache
[* 7] und
Wissen, Künste und
Schrift,
Ackerbau und
Baukunst,
[* 8] durch
Oannes erhielten, ein Wundergeschöpf,
halb
Fisch, halb
Mensch, das dem
PersischenMeer entstieg, den
Tag über auf dem Land verweilte und des
Nachts ins
Meer zurückkehrte.
ZehnKönige, deren erster Aloros und deren letzter Isuthros geheißen, herrschten nun 120 Saren oder 432,000 Jahre lang
über das Land, bis
Bel die
Menschen durch eine große
Flut vernichtete.
Isuthros rettete sich
vor derSündflut mit
Tieren aller Art auf ein
Schiff,
[* 9] ward an das armenische Hochgebirge getrieben und
nach
Gründung eines neuen
Reichs zu den
Göttern erhoben, worauf zahlreiche
Könige aus verschiedenen Dynastien, einer medischen,
chaldäischen, arabischen und assyrischen, 36,000 Jahre bis auf
Nabopolassar regierten. Obgleich die erhaltenen
babylonischen
Inschriften nicht so zahlreich und belehrend sind wie die assyrischen, namentlich keine chronologischen Anhaltspunkte
gewähren, erfahren wir, nachdem ihre Entzifferung gelungen ist, aus ihnen doch so viel, daß in ältester Zeit von dem
Volk
derSumerier (s. d.) bewohnt wurde, welche die Grundlagen der babylonischen
Kultur geschaffen haben.
Als ein König von
Ur wird Likbagas genannt. Dann fielen, 1635 Jahre vor dem assyrischen König Assurbanipal,
wie derselbe in einer
Inschrift von etwa 650
v. Chr. berichtet, also um 2280, die Elamiten in ein, und elamitische
Könige,
wie Kudur-Nanchundi, Kudur-Mabuk u. a., herrschten etwa 300 Jahre über Babylonien, bis
bei Beginn des 2. Jahrtausends, um 1980,
Sargon I. von Agani (Sippara) in Nordbabylonien die Herrschaft
an sich riß, auch
Syrien eroberte und dem
Semitismus zum Übergewicht verhalf; er ließ die religiösen
Gesänge und die astronomischen
Tafeln der
Sumerier ins Semitische übersetzen und in Arku aufbewahren.
Später folgte die von Hammurabi gegründete Dynastie der
Kassi
(Kassier), welche
Babylon zur Hauptstadt
und
Residenz machte und die Anlegung des Kanalsystems begann.
VonBabylonien aus wurde
Assyrien bevölkert, das sich aber 1500 unabhängig
machte und im 9. Jahrh. das Übergewicht über Babylonien erlangte, ja es um 700 sich
auf 70-80 Jahre gänzlich unterwarf. Erst nach dem
Tode des assyrischen
Königs Assurbanipal (626) erlangte
unter
Nabopolassar wieder Selbständigkeit. Derselbe verband sich 609 mit
Kyaxares von
Medien zum
Kampf gegen
Assyrien und ward
nach dem
UntergangNinives der
Gründer des neubabylonischen
Reichs, welches außer auch
Mesopotamien und
Syrien umfaßte und den
höchsten
Glanz unter seinem Sohn und Nachfolger
Nebukadnezar (604-561) erreichte. Dieser, der noch während
der
Regierung seines
Vaters die Ägypter bei Karchemis (605) besiegt hatte, unterjochte
Phönikien und zerstörte das
ReichJuda,
dessen König
Zedekia (586) mit dem größten Teil seines
Volks nach Babylonien (s.
Babylonische Gefangenschaft) geschleppt ward.
Nebukadnezar
stellte das Kanalsystem wieder her und erweiterte es, vergrößerte
¶
Unter ihm rückte um 538 Kyros wider die Hauptstadt Babylon an, besiegte das babylonische Heer vor den Mauern derselben und drang
während eines Festes bei Nacht durch das trocken gelegte Flußbett des Euphrat in die Stadt ein, wobei
Nabonetos selbst das Leben verlor. Von jetzt an bildete Babylonien eine Satrapie des Perserreichs, welche 1000 TalenteTribut zahlte.
Während der Empörung des Pseudo-Smerdis erhob sich auch Babylon und konnte erst nach 18monatlicher Belagerung 518 von Dareios
I. wiedererobert werden, welcher die Babylonier für ihren Abfall grausam bestrafte.
Zur Zeit Alexanders d. Gr. war Bagophanes Statthalter daselbst; er übergab den Mazedoniern Babylon, worauf makedonische Statthalter
eingesetzt wurden. Nach AlexandersTod (323) wurde das Land auf der Versammlung zu Triparadeisos 321 Seleukos I. zugesprochen,
der es aber erst von Antigonos erkämpfen mußte. So kam Babylonien zum syrischen Reich, dem es um 140 durch die
Parther entrissen wurde. Unter römische Botmäßigkeit kam es nur vorübergehend unter Trajan 114 n. Chr., Septimius Severus 199 und
Julian 363. Als die Kalifen 636 dem neupersischen Reich der Sassaniden ein Ende gemacht hatten, eroberten
sie auch Babylonien, das nach dem Sturz der Kalifenherrschaft wieder eine Zeitlang unter persischer Obergewalt stand, bis sich 1638 die
Türken desselben bemächtigten, die es noch jetzt im Besitz haben.
Die Dauer dieses Exils wird in runder Zahl auf 70 Jahre angegeben, genauer berechnet sie sich von 597 bis 537, in welch letzterm
Jahr Kyros die Erlaubnis zur Rückkehr gab. Obgleich das Los der Verbannten kein allzu hartes war, da sie
nicht eigentlich gefangen gehalten wurden, sondern als Ansiedler Beschäftigung und Nahrung fanden und manche von ihnen nicht
nur zu Wohlstand und Reichtum, sondern auch zu hohen Ehrenstellen gelangten, so wurden doch der FallIsraels, die Zerstörung
des Tempels, die Unmöglichkeit des altherkömmlichen Gottesdienstes,
der Mangel und die Bedrückung einzelner, der Hohn und
der Spott der Gegner desto mehr als schweres Volksleiden und göttliches Strafgericht empfunden, je lebendiger die Erinnerung
an JerusalemsHerrlichkeit und frühere Hoffnungen war.
Viele Psalmen, die Klagelieder Jeremias', einzelne StellenHesekiels geben auf ergreifende Weise die Volksstimmung
wieder. Auf der andern Seite wurde aber die b. G. eine Periode der Läuterung, aus der das israelitische Volk national und religiös
wie neugeboren hervorging. Der Gegensatz zu dem siegreichen, aber entarteten Heidentum stärkte das Nationalgefühl und den
religiösen Glauben. Mit Inbrunst horchte man auf die Weissagungen und Tröstungen der Propheten, deren
Ansehen stieg. So wurde ihre religiöse Anschauung allgemeiner Volksglaube, statt eines beschränkten Stammgottes lernte man inJehovah den Herrn der Welt erkennen, unter dessen mächtiger Obhut man sich wußte.
Die religiöse Hoffnung auf Errettung gewann neuen Schwung, als die babylonischen Herrscher in Wollust und
Schwelgerei entarteten und der PerserKyros seinen Siegeslauf begann. Die prophetischen Aussprüche verkündigten einen nahen
UntergangBabels und bezeichneten Koresch (Kyros) offen als den Gesalbten Gottes, so vor allen der jüngere Jesaias. Wirklich erließ
auch Kyros 537 den Aufruf an die Juden zur Rückkehr in die Heimat und zum Wiederaufbau des Tempels.
Mit religiöser Begeisterung wurden nun der Tempelbau und die Reorganisation des Gemeindelebens begonnen,
und trotz mancher Störungen und Ränke konnte 515 der neue Tempel
[* 15] eingeweiht werden. Von größter Bedeutung wurde eine zweite
Einwanderung unter dem Schriftgelehrten Esra (458), deren Folge eine strenge Reinigung des Volks nach levitischen Grundsätzen
und die Durchführung des Ritualgesetzes im gesamten Leben des Volks war. Nehemia gelang es dann, die Wiederherstellung
der MauernJerusalems und des politischen Daseins des neubegründeten Volks zu Ende zu führen. - babylonische Gefangenschaft (der Kirche) nennt man
auch den gezwungenen Aufenthalt der Päpste in Avignon statt in Rom
[* 16] 1309-77.
Turm,
[* 17] ein Turm, den nach
1. Mos. 11, 1-9. die Nachkommen Noahs als Mittel bleibender
Gemeinschaft zu erbauen beabsichtigten, dessen Vollendung aber durch die (babylonische) Sprachverwirrung verhindert wurde.
einer hübschen neuen Kirche (in gotischem Stil), Holzhandel und der bedeutendsten Kristallglasfabrik Frankreichs, welche seit 1766 besteht,
gegen 2000 Arbeiter beschäftigt und jährlich für ca. 7 Mill. FrankGlas
[* 19] produziert.
(spr. batschelli),Guido, Arzt, geb. zu Rom, wurde 1856 daselbst Professor der gerichtlichen Medizin
und übernahm später den Lehrstuhl für pathologische Anatomie und allgemeine Klinik. Er war lange Präsident
des Obermedizinalkollegiums, seit 1874 Mitglied der Kammer und wurde 1881 Unterrichtsminister. Er schrieb: »Patologia del
cuore e dell' aorta«
(Rom 1864-67, 3. Bde.) und mehrere
Monographien.
(spr. bakkiljone), Küstenfluß in der ital.
LandschaftVenetien, entspringt in denMonti Lessini, nimmt den Timonchio auf, tritt bei Schio in die Ebene,
empfängt unterhalb Vicenza, wo er schiffbar wird, den Astico, bildet von Padua
[* 21] bis Bovolento den Canal delle Roncaiette, vereinigt
sich hierauf mit dem Kanal
[* 22] von Pontelungo und folgt diesem bis zur Mündung ins Meer bei Brondolo. Er steht
durch mehrere Kanäle mit der Brenta und dem Frassine in Verbindung. Seine Länge beträgt 130 km. Unter Napoleon I. war danach
ein italienisches Departement mit der Hauptstadt Vicenza benannt.
(Bakcheios), dreisilbiger Versfuß, aus einer kurzen und zwei langen Silben bestehend: . - - (z. B. Gewohnheit),
benannt von seinem Gebrauch in Bacchushymnen;
bei den Griechen selten, häufiger von den römischen Komikern gebraucht.
natürlich fließende
Gewässer, in der Regel größer als ein Fließ oder Riesel, kleiner als ein Fluß. Man unterscheidet:
Faulbäche oder Faulfließe, in Niederungen, Bruch- und Moorgegenden, mit wenig Gefälle, trübem Wasser und schlammigem Grund;
Regenbäche oder Regenfließe, durch Regen erzeugt und bei dessen Mangel vertrocknend;
Gieß- und Waldbäche,
meist in Gebirgen, zur Zeit des Tauwetters oder bei starkem Regen sehr wasserreich und oft verheerend;
Sturz- und Staubbäche,
in Felsengegenden, nach ihren oft höchst malerischen Fällen genannt;
Steppenbäche, in Steppen entstehend und sich darin
verlaufend;
Gletscherbäche, aus Gletschern entstehend und daher nie ausbleibend, zur Zeit vermehrten
wässerigen Niederschlags oft zu Strömen anschwellend, auch die Quellen vieler großer Ströme bildend;
Flöß-, Schwemm- und
Mühlbäche, so genannt nach ihrer verschiedenen Benutzung.
deutsche Tonkünstlerfamilie, aus der über 50 zum Teil sehr berühmte Musiker hervorgegangen sind. Sie stammt
(wie Spitta in seiner BiographieSebastian Bachs nachgewiesen hat) aus Thüringen und nicht, wie man früher annahm, aus Ungarn.
[* 28] Der um 1590 aus Ungarn nach Wechmar bei Gotha
[* 29] eingewanderte BäckerVeit Bach, der als der Urahn des Geschlechts
angeführt wird, war nämlich aus ebendiesem Dorf gebürtig, betrieb aber selbst die Musik nur aus Liebhaberei. Dagegen war
sein Sohn Hans Bach (der Urgroßvater JohannSebastian Bachs) schon Musiker von Profession und wurde zu Gotha
durch einen Nikolaus Bach ausgebildet.
2) JohannMichael, Bruder des vorigen, geb. 1648, seit 1673 Organist in Gehren bei Arnstadt, wo er 1694 starb.
Seine jüngste Tochter, MariaBarbara, wurde Joh. Sebast. Bachs erste Frau (die Mutter von Friedemann und K. PhilippEmanuel Bach). J.
Michael Bach war besonders auf instrumentalem Gebiet bedeutend; leider sind nur wenige Choralvorspiele
auf uns gekommen, die indessen eine hohe Meinung von seinem Können erwecken. Dagegen stehen seine Vokalwerke, soviel deren
erhalten sind, hinter denen seines Bruders zurück.
¶
Von da aus besuchte er häufig das nahe Hamburg,
[* 38] um den Organisten Reinken, sowie Celle,
[* 39] um die dortige Hofkapelle zu
hören. Im J. 1703 wurde er Violinist bei der Hofkapelle in Weimar, 1704 Organist in Arnstadt, von wo er 1705 Lübeck
[* 40] besuchte,
um den berühmten Orgelmeister Buxtehude zu hören, 1707 Organist in Mühlhausen,
[* 41] 1708 Hoforganist in Weimar, welche Stellung
er bis 1717 bekleidete. Im letztern Jahr traf er in Dresden
[* 42] mit dem berühmten französischen Klavierspieler
Marchand zusammen, welchem er so imponierte, daß derselbe dem angebotenen Wettstreit durch unerwartete Abreise auswich.
Bach wurde in demselben Jahr Hofkapellmeister beim Fürsten von Anhalt-Köthen, übernahm jedoch schon 1723 die durch KuhnausTod erledigte Stelle des Kantors an der Thomasschule zu Leipzig,
[* 43] in welcher er bis an sein Lebensende verblieben
ist.
Abgesehen von seiner Ernennung zum sachsen-weißenfelsischen Kapellmeister und einem Besuch in Berlin
[* 44] (1747), wo er von Friedrich
d. Gr. mit Auszeichnung behandelt wurde, verfloß sein Leben zu Leipzig in völliger Zurückgezogenheit, nur seinem Amt, seiner
Familie und seinen Schülern gewidmet. Seine bedeutendsten Werke entstanden hier und waren größtenteils,
wie namentlich die zahlreichen Kirchenkantaten, durch seine amtlichen Verpflichtungen unmittelbar veranlaßt. Im höhern Alter
traf ihn das Mißgeschick, zu erblinden. Er starb in Leipzig. Bach war zweimal verheiratet, das erste Mal mit seiner
BaseMariaBarbara Bach, Tochter von Bach 2), die 1720 starb; sodann (seit 1721) mit AnnaMagdalena, Tochter des
Kammermusikus Wülken zu Weißenfels,
[* 45] welche ihn überlebte. Er hinterließ 6 Söhne und 4 Töchter; 5 Söhne und 5 Töchter
waren vor ihm gestorben.
Sebastian Bach war nicht allein einer der genialsten Komponisten, sondern zugleich einer der größten Klavier- und Orgelvirtuosen
aller Zeiten. Die gleichzeitig Lebenden bewunderten ihn sogar vorzugsweise in dieser letztern Hinsicht,
während die volle Würdigung seiner schöpferischen Thätigkeit einer spätern Generation vorbehalten blieb. Man rühmte
unter anderm die vollkommene Deutlichkeit und Gleichmäßigkeit seines Anschlags, Vorzüge, welche durch die von ihm neu festgestellte
Applikatur für Tasteninstrumente unterstützt wurden. Zu der technischen Durchbildung und Virtuosität
kamen dann aber eine bewunderungswürdige Beherrschung der kontrapunktischen Kunst und ein nie versiegender Reichtum der Phantasie,
Eigenschaften, welche seinen freien Vorträgen auf dem Instrument die höchste Bewunderung bei allen Hörern erwarben und ihm
von weither Schüler zuführten. Diese aber wurden durch seine Lehre
[* 46] und seinen Vortrag so nachhaltig beeinflußt,
daß man mit Recht alle bedeutenden, im Lauf desJahrhunderts gemachten Fortschritte auf dem Gebiet des Klavier- und Orgelspiels
sowie der Theorie auf Bach zurückführen darf.
Bachs Werke gruppieren sich in Instrumental- und Vokalkompositionen, jene wiederum in Kompositionen für Orgel, für Klavier
und für andre Instrumente.
Zu den erstern gehören: die Orgelsonaten, die Präludien und Fugen für Orgel,
die Choralvorspiele;
zu den Klaviersachen: die 15 Inventionen, die 15 Symphonien, die französischen und englischen Suiten,
die Klavierübung in drei Teilen (Partien u. a.), eine Reihe von Tokkaten und andern kleinern Stücken, dann das »Wohltemperierte
Klavier« (24 Präludien und Fugen in allen Tonarten) und die »Kunst der Fuge«.
Denselben schließen sich die
Sonaten für Klavier und Violine oder andre Instrumente, die Konzerte für zwei oder mehrere Klaviere etc. an. Außerdem schrieb
Bach Konzert- und andre Solostücke für verschiedene Streich- und Blasinstrumente sowie endlich Ouvertüren, Suiten und Symphonien
für Orchester. Allen diesen Werken ist die unglaubliche Kunst der polyphonen Behandlung, wie sie vor und
nach Sebastian Bach ihresgleichen nicht gehabt hat, charakteristisch. Mit der vollkommensten Sicherheit beherrscht
er auch die verwickeltsten Probleme kontrapunktischer Technik und löst sie in kleinen wie in großen Umrissen in vollendeter
Weise. Es wäre aber nichts irriger, als wenn man neben dieser großartigen Kunst ihm Melodie und Ausdruck
absprechen wollte.
Man muß eben festhalten, daß die kontrapunktische Kunst für Bach auf der Stufe seiner vollen Entwickelung nicht mehr als etwas
Angelerntes und mühsam Angewendetes erschien, sondern daß sie ihm natürliche Sprache und Form des Ausdrucks geworden war,
deren Erkenntnis und Verständnis man sich angeeignet haben muß, um die Regungen des tiefen und vollen
Gemütslebens, welches in jener Form sich ausspricht, von Grund aus zu verstehen, um den gewaltigen Ausbruch ernster, frommer
Stimmung in den Orgelkompositionen und wiederum die melodische Anmut und den Reichtum wechselnder Empfindungen in den Klavierfugen
und Suiten vollständig in sich aufzunehmen, in welch letztern er häufig durch Anwendung der leichten französischen Tanzformen
den Ansprüchen auf leichte Verständlichkeit und Zugänglichkeit weit genug entgegenkommt.
Daher haben wir in den meisten der hierher gehörigen Stücke, namentlich in den einzelnen Nummern des »Wohltemperierten Klaviers«,
neben ihrer Formvollendung zugleich Charakterstücke von großer Mannigfaltigkeit zu erblicken, und gerade
diese Vereinigung gibt ihnen ihre eigentümliche, einzige Stellung; dieselben sind »bis auf den heutigen Tag ein fester Damm
geblieben, an welchem die trüben Fluten des modernen Virtuosentums machtlos sich brechen« und trotz alledem waren Bachs Tonschöpfungen
nach seinem Tod während eines langen Zeitraums höchstens von einzelnen Kennern gekannt und geschätzt,
vom Publikum dagegen so gut wie vergessen.
Erst Mendelssohn vermochte es, durch die von ihm 1829 veranstaltete Aufführung der Bachschen Matthäuspassion die allgemeine
Teilnahme für den Meister wieder zu erwecken und namentlich seinen großen Vokalwerken den ihnen gebührenden Ehrenplatz im
öffentlichen Musikleben Deutschlands
[* 47] wieder zu erringen. Es gehören hierher zunächst die für den Gottesdienst
bestimmten Kirchenkantaten, deren er fünf vollständige Jahrgänge geschrieben hat; es sind ihrer noch etwa 226 nachgewiesen,
sehr viele aber verloren gegangen. Sie haben in ihrem Text jedesmal Bezug auf das betreffende Evangelium und bestehen aus Recitativen,
Arien, polyphonen Chören und dem meistens den Schluß bildenden Choral. Dann sind hier vor allem die großen
Passionsmusiken anzuführen, deren Bach ebenfalls fünf geschrieben hat, von welchen leider nur zwei erhalten
sind: die
¶
mehr
Johannespassion und die Matthäuspassion, die eine 1724, die andre 1729 zum erstenmal aufgeführt. Die schon von alters her
seitens der Kirche veranstaltete musikalisch-dramatische Darstellung der Leidensgeschichte Christi erscheint in diesen Werken
zur höchsten formellen Vollendung, zur höchsten musikalischen Schönheit und Kraft des Ausdrucks erhoben. In einer aus epischen,
dramatischen und lyrischen Elementen gemischten Form wird uns die Leidensgeschichte plastisch und eindringlich
vor Augen geführt.
Das erste (epische) Element haben wir in dem recitierenden Evangelisten vor uns, das dramatische in den einfallenden Worten
der andern Personen, namentlich Christi selbst, sowie in den lebendigen Chören des Volks, das lyrische in den betrachtenden
Arien und Chören, während der der gesamten Darstellung gegenübergestellte Choral wiederum die unmittelbare Beziehung des Werks
zum Gottesdienst bezeichnet und die Teilnahme der Gemeinde andeutet. Ein ähnliches Werk, nur im Gegensatz zu jenen mehr heitern
Charakters, ist das liebliche Weihnachtsoratorium, 1734 entstanden. In allen diesen Werken zeigt sich vor allem
wieder jene großartige polyphone Kunst, die nun bei den ernsten Worten und ausdrucksvollen Themata noch höhere Wirkungen erzielt;
dann aber tritt hier jene wunderbare, tiefsinnige Versenkung in den Sinn der Textesworte hervor, welche den seiner Kirche treu
ergebenen Mann begeisterten, wie seine höchste Kunst, so seine tiefste Empfindung ihnen darzubringen.
Die kontrapunktische Kunst tritt außer in den großen Chören besonders auch in der Behandlung der Choräle hervor, in welchen
(sowie in den übrigen Stücken) selbst der häufig schwülstige und geschmacklose Text, wie ihn die LeipzigerPoeten jener Zeit
(Picander u. a.) ihm lieferten, die Kraft seiner Begeisterung nicht zu hemmen vermochte. Neben diesen großen,
zu dem protestantischen Gottesdienst in unmittelbarer oder mittelbarer Beziehung stehenden Werken erscheinen in gleicher Höhe
und Vollendung die Bearbeitungen altlateinischer kirchlicher Texte, vor allen die Messen und das Magnifikat.
Unter ihnen und unter allen Werken Bachs nimmt die große Messe inH moll (1733) den ersten Platz ein.
Ohne hier irgend an eine bestimmte Art der Benutzung beim Gottesdienst denken zu können, hat Bach, wie früher in die Worte
der Bibel,
[* 49] so hier in die altüberlieferten Worte des Glaubensbekenntnisses und die übrigen den Text der Messe bildenden Worte
sich gläubig versenkt und sie mit einem Reichtum der Empfindung und mit einer Kraft des Ausdrucks zur Darstellung
gebracht, die uns auch heute noch, im Gewand der strengen polyphonen Kunst, tief ergreift und mächtig erhebt.
Die Chöre in diesem Werk sind vielleicht das Großartigste, was auf dem Gebiet kirchlicher Tonkunst jemals geschaffen worden
ist; die Einzelgesänge, kunstvoll gearbeitet und feinsinnig deklamiert, können jedoch den Stil und Geschmack
ihrer Zeit weniger verleugnen; auch läßt sich nicht in Abrede stellen, daß Bach, seinem vorwiegend dem Instrumentalen
zugewandten Naturell folgend, die Bedingungen zur wirksamen Verwendung der menschlichen Stimme hier nicht selten außer acht
gelassen hat, wie er überhaupt als Vokalkomponist hinter den Italienern und auch hinter seinen in der
italienischen Schule gebildeten Landsleuten, vor allen Händel (s. d.), zurückstehen muß. Unter diesen Umständen erwiesen
sich die ihm als Thomaskantor in Leipzig zur Verfügung stehenden bescheidenen Mittel zur Darstellung seiner größern Werke
vollends ungenügend; erst der Zeit nach Mendelssohn war es vorbehalten, ihnen durch Aufwendung der
reichsten
vokalen und orchestralen Mittel völlig gerecht zu werden.
Mit nicht geringerm Erfolg wirkte neuerdings zur Verbreitung der Kenntnis Bachs die 1850 in Leipzig zusammengetretene Bach-Gesellschaft,
gegründet von Härtel, K. F. Becker, M. Hauptmann, O. Jahn und R. Schumann; dieselbe stellte sich zur Aufgabe, durch Herstellung
einer möglichst vollständigen und korrekten Ausgabe von Bachs sämtlichen Werken dem deutschen Meister
das schönste und ehrenvollste Denkmal zu setzen. Von dieser Ausgabe waren 1884 dreißig Bände erschienen.
Mitglied der Gesellschaft ist jeder, der einen jährlichen Beitrag von 15 Mk. zeichnet, wofür er jedes Jahr
ein Exemplar der im Lauf desselben veröffentlichten Kompositionen empfängt. Einzelne Klavier- und Orgelwerke
Bachs erschienen in mehreren Ausgaben. Vollständigere Sammlungen der Klavierwerke veranstalteten zuerstPeters in Leipzig (durch
Czerny und Griepenkerl), Haslinger in Wien,
[* 50] später Holle in Wolfenbüttel
[* 51] (durch Chrysander). Die vierstimmigen Choralgesänge
wurden herausgegeben von Bachs Sohn KarlPhilippEmanuel (2. Ausg., Berl. u. Leipz.
1784-87, 4 Hefte, 370 Choräle enthaltend, größtenteils Bachs Kirchenkompositionen entnommen; neuer
Abdruck 1832), zuletzt von Becker (das. 1843). Um die Herausgabe und Bearbeitung einzelner Werke haben sich Marx und in neuerer
Zeit RobertFranz, H. v. Bülow, Fr. Kroll, A.Thomas u. a. Verdienste erworben.
Durch Mendelssohns Vermittelung wurde dem großen Musiker 1842 zu Leipzig ein bescheidenes Monument (von
Knaur ausgeführt) errichtet; ein zweites, größeres Denkmal (Statue, von Donndorf modelliert) wurde ihm in Eisenach gesetzt
und feierlich enthüllt.
Vgl. Forkel, Über J. S. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipz. 1803, neue Ausg., das.
1855);
Derselbe, J. S. Bachs Matthäuspassion (das. 1852).
Eine große Anzahl bedeutender Musiker ging aus Bachs Schule hervor; unter ihnen nehmen seine Söhne einen
hervorragenden Platz ein. Unter Bachs elf Söhnen haben sich die folgenden vier in der Geschichte der Musik oder wenigstens
im Musikleben ihrer Zeit eine bedeutende Stellung erworben.
4) Wilhelm Friedemann, der älteste und begabteste, aber auch unglücklichste der Söhne Bachs, geb. 1710 zu Weimar, brachte
es durch den Unterricht seines Vaters schon in der Jugend so weit, daß selbst der nicht leicht befriedigte
Meister das Höchste von ihm hoffte. Auf dem Klavier wie auf der Orgel und im Kontrapunkt errang er früh eine große Meisterschaft
und machte auch auf der Violine bedeutende Fortschritte. Seit 1722 besuchte er in Leipzig die Thomasschule,
hörte dann Vorlesungen an der Universität, ward 1733 als Organist an die Sophienkirche nach Dresden und 1747 als Musikdirektor
und Organist an die Marienkirche nach Halle
[* 52] berufen, daher er auch den Namen des Halleschen Bach führt. Im J. 1764 gab er letztere
Stelle auf und ging nach Leipzig zurück. Von dieser Zeit an lebte er unstet bald hier, bald da und suchte
durch Konzerte, Unterricht und Kompositionen sich seinen Unterhalt zu erwerben. Am längsten hielt er sich in Braunschweig,
[* 53] dann
in Göttingen
[* 54] und endlich in Berlin auf, wo er in kümmerlichen Verhältnissen starb. Sein unordentliches
Wesen, sein Künstlerstolz, seine unglaubliche Zerstreutheit, namentlich seine Trunksucht¶
mehr
hatten ihn zu keiner ruhigen und sichern Existenz gelangen lassen. Seine Zeitgenossen erkannten in ihm aber den größten
Orgelspieler und begabtesten Komponisten nach seinem Vater, und sein BruderEmanuel war der Überzeugung, daß Friedemann allein
im stande sei, wenn er wolle, ihren Vater zu ersetzen. Von seinen jetzt fast verschollenen Kompositionen
nennen wir: eine Pfingstmusik (»Lasset uns ablegen«),
eine Adventsmusik, mehrere Klavierkonzerte, 4 Orgelfugen, 8 Fugetten, 6 Klaviersonaten, 2 Sonaten
für zwei konzertierende Klaviere, 12 Polonäsen für Klavier u. a. Außerdem schrieb er ein Werkchen über den harmonischen
Dreiklang. E. Brachvogel behandelte sein Leben in einem Roman.
SeinLeben, von ihm selbst beschrieben, findet sich in Burneys »Tagebuch einer musikalischen Reise« (a. d. Engl., Leipz. 1772, 3 Bde.).
Emanuel Bach hatte sich die kunstvolle Manier seines großen Vaters vollständig zu eigen gemacht, besaß aber nicht entfernt
dessen Erhabenheit und Tiefe; er war mehr elegant und gefällig als gewaltig und ergreifend. Dabei konnte er sich in seiner
Wirksamkeit dem Einfluß des Zeitgeschmacks und der weitern Ausbildung der überlieferten Tonformen nicht entziehen.
Indem er daher die Strenge des alten Stils mit den Forderungen der Anmut und des sinnlichen Wohllauts zu
verschmelzen sucht, bildet er das Mittelglied zwischen der polyphonen Kunst des Vaters und dem homophonen Stil der folgenden
Haydn-MozartschenEpoche. Wieviel diese beiden Meister ihm verdankten, haben sie selbst wiederholt ausgesprochen und unter anderm
auch dadurch bewiesen, daß sie die von ihm überkommene Sonatenform in ihren cyklischen Werken unverändert
beibehielten.
eine andre besorgte H. v. Bülow (das., beiPeters).
Besonderes Verdienst
erwarb sich Bach durch sein Unterrichtswerk »Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen« (Leipz. 1753
u.
1763, 2 Bde.), welches zu seinen Lebzeiten den größten Einfluß
ausübte und noch jetzt zur Beschämung vieler Virtuosen zeigen kann, einen wie hohen Grad künstlerischer Durchbildung Bach vom
Klavierspieler verlangte.
6) JohannChristophFriedrich, geb. zu Leipzig, studierte erst Jura, wendete sich jedoch später
der Musik zu und wurde Kapellmeister des Grafen von Schaumburg, als welcher er glücklich, zufrieden und geehrt in Bückeburg
[* 60] (daher er auch der Bückeburger Bach genannt wird) lebte und starb. Er war ein vorzüglicher
Klavierspieler und komponierte Instrumental- und Vokalstücke verschiedenster Art. Unter den letztern waren zwei Kantaten:
»Ino« (von Ramler) und »Die Amerikanerin« (von Gerstenberg),
zu ihrer Zeit besonders beliebt. Ein Sammelwerk von Klavierstücken:
»Musikalische Nebenstunden«, gab er 1786 heraus. Er folgte der Richtung seines BrudersEmanuel, ohne demselben an Talent gleichzustehen.
7) JohannChristian, jüngster Sohn J. S. Bachs, geb. 1735 zu Leipzig, zur Unterscheidung von seinen Brüdern derLondoner, auch der Mailänder Bach genannt, ging nach dem Tod seines Vaters nach Berlin, wo er von seinem BruderEmanuel erzogen und
im Klavierspiel und in der Komposition mit Erfolg unterrichtet wurde. Im J. 1754 ging er nach Mailand
[* 61] und
wurde dort Organist am Dom, wandte sich jedoch 1759 nach London,
[* 62] wo er Kapellmeister der Königin wurde. Er komponierte eine Reihe
von Instrumentalstücken für Klavier und andre Instrumente, kleinere Gesangsachen und Opern, von denen »Orione, ossia Diana vendicata«
(1763) großen Beifall fand; eine andre, »La clemenza di Scipione«,
wurde noch 1805 aufgeführt. In allen diesen Arbeiten zeigt er sich noch mehr als sein BruderEmanuel geneigt, dem Zeitgeschmack
Zugeständnisse zu machen, wie er auch persönlich dem leichten Lebensgenuß sehr zugethan war. Er starb im Januar 1782 in
London. - Seine Frau, eine Italienerin, Cecilia, geborne Grassi, war seit 1767 Primadonna der LondonerOper.