Im alten Rom, das, aus einem kleinen Bauernstaat hervorgegangen, zuletzt unter anderm auch daran
zu Grunde ging, daß es nicht vermocht hat, sich einen breiten Stand freier Bauern mit mittlerm und kleinerm Grundbesitz zu
bewahren, waren die Agrarischen Gesetze (leges agrariae) bestimmt, die Benutzung des umfangreichen öffentlichen Landes
nach dieser Richtung hin zu regeln. Von alters her waren die eroberten Staatsländereien zum größten Teil von den Patriciern
gegen einen mäßigen Zins in Besitz genommen.
Der Staat blieb zwar Eigentümer, doch wurden die Besitzungen thatsächlich vererbt und verkauft. Dem Verlangen der Plebejer
nach gleichmäßiger, auch die Plebs berücksichtigender Ackerverteilung entsprachen die Gesetze der VolkstribunenCajus Licinius und Lucius Sextius 376-367 v. Chr. KeinBürger sollte mehr als 100 Rinder
[* 3] und 500 Schafe
[* 4] auf die Gemeinweide auftreiben,
und von den Staatsländereien nicht mehr als 500 Iugera (=126 ha) in Besitz haben dürfen.
Die Gutsbesitzer sollten auch neben den Sklaven eine entsprechende Anzahl freier Arbeiter auf den Feldern
beschäftigen. Zuwiderhandlungen wurden unter Strafe gestellt. Nach 300 Jahren waren diese Gesetze vergessen; TiberiusGracchus
(s. d.) griff unter heftigen Parteikämpfen auf ihr Princip zurück, er und seine
Gesetze gingen in den Parteikämpfen unter. Seine und seines BrudersCajus wohlgemeinten Vorschläge überboten und travestierten
die Gesetze des M. Livius Drusus.
Sie erlaubten die von der Lex Sempronia verbotene Veräußerung der zugeteilten Besitzungen, verboten jede Verteilung des
im Privatbesitz befindlichen Gemeinlandes und ordneten die Verteilung der davon zu erhebenden Abgaben unter die Armen an. Statt
AckerGeld! Eine Lex Thoria vom J. 111 hob noch die Abgabenauf und verwandelte die durch die argrarischen
Gesetze verliehenen öffentlichen Ländereien in Privateigentum. Cäsar brachte alles Gemeinland, welches bis dahin noch dem
Staat erhalten war, zur Verteilung.
Wenn man gegenwärtig von Agrargesetzgebung schlechthin spricht, so pflegt man darunter die große Socialgesetzgebung
zu verstehen, welche seit dem 18. und im Verlaufe des 19. Jahrh. in allen
europ. Kulturstaaten den vom Mittelalter überkommenen Gesellschaftszustand der ländlichen
und grundbesitzenden Bevölkerung
[* 5] mit seinen zahllosen Formen der persönlichen Unfreiheit
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und wirtschaftlichen Gebundenheit unter Entschädigung der bisher Berechtigten überzuleiten suchte in den gegenwärtigen
Zustand, der auf die persönliche Freiheit und das freie Privateigentum gegründet ist. Freilich ist eine Entschädigung für
die öffentlichen Rechte, die mit gewissen Grundbesitzungen verbunden waren, die Herrenrechte und die persönliche Abhängigkeit
der Bauern nicht erfolgt.
In Frankreich hat die Grundentlastung, obwohl das berühmte Dekret vom sorgfältig zwischen
den einfach aufzuhebenden und den ablösbaren Rechten unterschied, in ihrer Ausführung einen revolutionären Charakter angenommen.
In England ist die persönliche Unfreiheit der ländlichen Arbeiter seit dem 14. Jahrh. allmählich thatsächlich verschwunden.
Die Lehnsrechte der Krone gegenüber den ursprünglich freien Lehnsbesitzern wurden schon unter Karl II.
im wesentlichen aufgehoben, jedoch ist grundsätzlich die Krone auch jetzt noch die Obereigentümerin des sämtlichen Grundes
und Bodens.
Die Ablösung der Zehnten und der auf den ursprünglichen unfreien, sog. copyholds ruhenden
Lasten wurde erst 1836 und 1845 ernstlich in Angriff genommen. In Preußen
[* 7] hatte bereits die Gesetzgebung
des 18. Jahrh. die alte Agrarverfassung teils beseitigt, teils gelockert. Allgemein wurde die Erbunterthänigkeit durch Edikt
vom aufgehoben, jedoch mit der Maßgabe, daß alle Verbindlichkeiten, die den freigewordenen Unterthänigen vermöge
des Besitzes eines Grundstücks oder vertragsmäßig oblagen, in Kraft
[* 8] blieben.
Das Ausführungsedikt vom gewährte den gutsherrlichen Bauern die Möglichkeit, das volle Eigentum
an ihren Grundstücken zu erwerben und die Lasten durch Abtretung von Land oder Zahlung einer Rente abzulösen. Eine «Deklaration»
vom beschränkte jedoch zunächst die Regulierbarkeit auf die spannfähigen Bauerngüter. Das Gesetz vom machte
die Reallasten von den zu Eigentum oder Erbpacht besessenen Stellen ablösbar - unter der gleichen Beschränkung.
Die letztere wurde erst durch Gesetz vom beseitigt, welches zugleich die Erbpacht in Eigentum verwandelte und für
die Zukunft verbot. Zur Vermittelung des Ablösungsgeschäftes wurden nach sächs. Muster «Rentenbanken»
(s. d.) eingeführt. Die gutsherrliche (patrimoniale) Gerichtsbarkeit, schon
im 18. Jahrh. beschränkt, wurde 1848, die gutsherrliche Polizeigewalt durch die Kreisordnung
von 1872 abgeschafft. In Österreich
[* 9] erfolgte der endgültige Bruch mit den alten Zuständen erst 1848, die Ablösung erfolgte
von Amts wegen unter Kürzung des festgestellten Wertes der abzulösenden Lasten um ein Drittel und Übernahme
eines weitern Drittels auf die Staatskasse.
In den meisten andern deutschen Staaten gaben die polit. Bewegungen von 1830 und 1848 den Anstoß zu einer ähnlichen Agrargesetzgebung (S.
Frone, Reallasten, Bannrechte.) Hand
[* 10] in Hand mit der Aufhebung der bäuerlichen Unfreiheit und der feudalen Lasten (Agrargesetzgebung im engern
Sinne) ging das Bestreben, das Grundeigentum von den Einschränkungen zu befreien, die als Nachwirkungen des ursprünglichen
Gemeinbesitzes, der alten Feldgemeinschaft, erscheinen. (S. Dorfsystem, Gemengelage, Gemeinheit, Flurzwang.) Das bezweckte
die Gesetzgebung über Gemeinheitsteilung (s. d.) der Grundstücke. Eine solche Landeskulturgesetzgebung
sucht aber auch durch bestimmte positive Maßnahmen den landwirtschaftlichen Betrieb zu fördern. Dahin
gehört
die Begünstigung von Boden- und Wegeverbesserungen teils durch unmittelbare Staatshilfe, teils durch Einräumung wichtiger
Rechte an die Meliorationsgenossenschaften, teils durch Kreditanstalten, wie die Landeskulturrentenbanken (s. d.).
Der Inbegriff der wissenschaftlichen und praktischen Grundsätze, nach denen die Agrargesetzgebung im wirtschaftlichen
und socialen Interesse auf die landwirtschaftlichen Verhältnisse einwirken soll, bildet die Agrarpolitik.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrh. war sie vor allem auf das Wegräumen des Veralteten bedacht,
und sie fußte dabei auf der an sich richtigen Ansicht, daß das reine Privateigentum die der Produktion förderlichste Besitzform
sei. Die Erfahrung lehrte aber, daß die Beseitigung aller gemeinwirtschaftlichen Formen auch Nachteile
besitzt und die volle Freiheit der Grundbesitzer in Veräußerung und Verschuldung ihres Besitzes sowie die Unterstellung unter
das gemeine Erbrecht Gefahren in sich schließt.
Daher sind der gegenwärtigen Agrarpolitik neue Aufgaben erwachsen: Man wendet den Gemeindebesitzungen, den Allmenden (s. d.)
erneute Teilnahme zu, man sucht die bäuerliche Bevölkerung vor Überschuldung und Wucher durch ein geeignetes
Kreditwesen (s. Landwirtschaftlicher Kredit), vor allzu weit gehender Zersplitterung des Besitzes (s. Dismembration) zu schützen
und sie durch ein geeignetes Erbrecht (s. Anerbe und Höferecht) in einem gedeihlichen Vermögensstande zu halten.
Man fordert, daß in Gegenden mit vorherrschendem Großgrundbesitz der Bauernstand vermehrt und der Arbeiterstand
(s. Landwirtschaftliche Arbeiter) ansässig gemacht werde. Vom 28. Mai bis tagte eine vom preuß.
Laudwirtschaftlichen Ministerium berufene Agrarkonferenz, um über Maßregeln zur Hebung
[* 11] des landwirtschaftlichen Gewerbes
zu beraten (Bericht darüber im Ergänzungsband 2 der «Landwirtschaftlichen Jahrbücher»,
Berl. 1894). Auch die noch weiter gehenden Ansprüche der Agrarier (s. d.) fanden bei den Regierungen Beachtung,
so durch Berufung der Silberkommission (s. d.) 1894 und des preuß.
Staatsrates 1895 zur Beratung über den Antrag Kanitz auf Verstaatlichung des Getreidehandels. (S. Latifundien, Kolonisation
[innere], Rentengut, Erbpacht.)
Da in Deutschland
[* 12] das Latifundien- und Pachtwesen geringe Bedeutung hat, kommt die Schaffung eines mittlern und kleinern
Grundbesitzerstandes hier weniger in Frage als in Ländern, wo jene Zustände vorherrschen (s. Grundeigentum), namentlich
in England. Dahin gehört vor allem das irische Landgesetz von 1881, welches die Festsetzung der Pacht mangels Einigung der
Beteiligten durch einen Pachtgerichtshof zuläßt. Der Ankauf der Pachtgrundstücke durch den Pächter wird nach Gesetzen
von 1885 und 1891 dadurch gefördert, daß der Staat den durch die Landkommission genehmigten Kaufpreis
vorschießt. Ein Gesetz von 1887 (Allottments Act) gestattet Ankauf von Land durch die Orts-Sanitätsbehörden, ja sogar Enteignung
zum Zweck der Ansässigmachung von Arbeitern. Über die russische s. Bauernemancipation und Mir. -
Vgl. Eug. Jäger, Die
Agrarfrage der Gegenwart (4 Abteil., Berl. 1882-93);