Ottersleben,
s. Groß-Ottersleben.
s. Groß-Ottersleben.
der 401. Planetoid.
Luise, Schriftstellerin, geb. zu Meißen, erhielt eine sorgfältige Erziehung und begeisterte sich früh für freiheitliche Bestrebungen, gab 1849-52 eine demokratische «Frauenzeitung» heraus, vermählte sich 1858 mit dem Schriftsteller Aug. Peters und gab mit diesem bis zu seinem Tode (1864) in Leipzig die «Mitteldeutsche Volkszeitung» heraus. 1865 gründete sie den Allgemeinen deutschen Frauenverein, dessen Organ «Neue Bahnen» (seit 1866) sie mit Auguste Schmidt in Leipzig redigierte, wo sie starb. In gleichem Interesse erschienen von ihr: «Der Genius des Hauses - der Natur - der Menschheit» (Wien 1868-70) und «Frauenleben im Deutschen Reich» (1876). Auch verfaßte sie Gedichte (gesammelt als «Lieder eines deutschen Mädchens», Lpz. 1847; «Gedichte», ebd. 1868, und «Mein Lebensgang. Gedichte aus fünf Jahrzehnten», ebd. 1893) und Romane, wie «Schloß und Fabrik» (3 Bde., ebd. 1846),
«Nürnberg» (1859; 3 Bde., Norden 1883),
«Neue Bahnen» (2 Bde., Wien 1864),
«Privatgeschichten der Weltgeschichte» (6 Bde., Lpz. 1868-72),
«Deutsche Wunden» (4 Bde., Brem. 1872),
«Aus vier Jahrhunderten» (2 Bde., Norden 1883),
«Die Nachtigall von Werawag» (4 Bde., Freib. i. Br. 1887),
«Die Äbtissin von Lindau» (2. Aufl., Lpz. 1888).
Stadt, hat (1890) 3954 E., wogegen das gegenüberliegende Villa Nova de Ourem 2346 E. zählt.
Stadt, hat (1890) 3840 E.
(engl., spr. aut-), s. Ausleger.
Stadt, hat (1890) 11002 E.
Dorf im Kreis Mülheim a. Rhein des preuß. Reg.-Bez. Köln, am Aggerfluß und der Nebenlinie Siegburg-Bergneustadt der Köln-Gießener Staatsbahn, hat (1895) 452, als Gemeinde 5383 E., Post, Telegraph, Bürgermeisterei, kath. Kirche, Kriegerdenkmal;
Bleierz- und Zinkblendegrube.
s. Diaphtherin.
von Dr. Kopp in Straßburg, s. Geheimmittel.
P.
Geschichtliches. Die Pädagogik hat als Kunst des Erziehens eine praktische, als Lehre von dieser Kunst eine theoretische Seite. Ihre Geschichte hat daher beides ins Auge zu fassen, sowohl die Art, wie die verschiedenen Völker und Zeiten die Kinder erzogen haben, als auch die Theorien und Ideale, wie die Kinder nach psychol. und ethischen Gesetzen oder nach socialen und nationalen Gesichtspunkten erzogen werden sollten. Dabei hat man sich aber gewöhnt, die Geschichte der Erziehung bei entlegenen Völkern und Zeiten der Kulturgeschichte zu überlassen und nur das aufzunehmen, was in direktem Zusammenhang steht mit der heutigen Entwicklung und für diese ein naheliegendes Interesse hat. Und so beginnt man seit K. von Raumer meist mit der Renaissance, schickt aber einen kurzen Abriß des mittelalterlichen Erziehungswesens voran.
I. Das Unterrichtswesen im Mittelalter. Das Christentum hat die bestehenden heidn. Bildungsstätten zerstört, ersetzt und umgestaltet; namentlich in Gallien und weiterhin im Frankenreich vollzog sich dieser Prozeß. Die Kirche vermittelte den german. Völkern die Bildung, und darum sind die Schulen des frühern Mittelalters durchaus kirchlich. Zwar hat Karl d. Gr. an eine allgemeine, wenn auch zunächst nur religiöse Unterweisung des Volks gedacht; aber die Idee blieb unausgeführt.
Dagegen entstanden an Klöstern und durch den Bischof Chrodegang von Metz auch an Kathedralkirchen die Kloster-, Dom- und Stiftsschulen, in denen die pueri oblati und die zum geistlichen Stand bestimmten Knaben in den scholae interiores, andere Kinder in den scholae exteriores unterrichtet wurden. Dagegen waren auf dem Lande die Pfarrschulen zwar vorgesehen, aber kaum vorhanden. Der Sprache der Kirche und der Kanzleien entsprechend handelte es sich vor allem um die Erlernung des Lateinischen.
Die Unterrichtsfächer waren Grammatik, Rhetorik und Dialektik (das Trivium), Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Theorie der Musik (das Quadrivium), d. h. also die sieben Freien Künste, deren Gestaltung und Betrieb im einzelnen mit der Entwicklung der Scholastik zusammenhing. Nach Umfang und Wert waren die Schulen verschieden abgestuft: aus den entwickeltsten und berühmtesten ist im 13. Jahrh. das Studium generale, die Universität, entstanden. Den sieben Freien Künsten des Klerikers entsprachen die sieben Probitates des Ritters, zu denen neben sechs körperlichen Übungen doch auch das Versificare gehörte. Im spätern Mittelalter traten dann in den mächtig aufblühenden Städten die städtischen Pfarrschulen hinzu, ebenfalls lat. Schulen, jedoch mit ermäßigten Anforderungen; dagegen waren die deutschen oder Schreibschulen anfänglich Privatunternehmungen und dienten den Interessen des kleinen Bürgerstandes; das Rechnen lernte man ebenfalls privatim bei den sog. Stuhlschreibern oder Modisten.
Gab es so in den Städten gegen Ende des Mittelalters verschiedene Schulgattungen, so blieb dagegen die Bildung des Landvolks durchaus vernachlässigt, und mit dem Zusammenbruch der Scholastik zeigte sich auch qualitativ ein Sinken und ein Verfall. Die Mehrzahl der lediglich auf das Schulgeld angewiesenen Lehrer war intellektuell und moralisch schlecht, und das Latein, das in den Schulen gelehrt wurde, wurde immer unlebendiger und barbarischer, auch die Mängel der mittelalterlichen Schulgrammatik, des Doctrinale, traten immer deutlicher zu Tage. Eine theoretische Pädagogik gab es im Mittelalter nicht.
II. Der Humanismus. In Italien bedeutet die Renaissance nicht bloß die Wiedererweckung des klassischen Altertums, sondern eine vollständige Umgestaltung des Lebens und der Weltanschauung, eine neue Bildung; sie war hier universal und natürlich. So wandte sich denn auch der humanistische Unterricht in erster Linie an die Erwachsenen, und erst in der zweiten Generation kam dann der
Jugendunterricht hinzu; am Ende des 15. Jahrh. gehörte ein humanistisch gebildeter Erzieher an jeden Fürsten- und größern Adelshof. Gleichzeitig wurde aber auch die Theorie dieser neuen Erziehung ausgebildet, auch sie in Anlehnung an die Alten, vor allem an Quintilian; ihre Hauptvertreter sind Pädagogik. Pädagogik Vergerius, Mapheus Vegius, Äneas Sylvius und Battista Guarini der Jüngere. Durch die Reformkonzilien kam der Humanismus auch nach Deutschland und gewann hier in Rudolf Agricola eine Persönlichkeit, in deren harmonischer Natur er Geist und Leben war.
Aber auf deutschem Boden war darum der Humanismus doch ein fremdes und künstliches Gewächs, und so fällt bald genug derHauptaccent auf das Aneignen dieses Fremden, auf Lernen und Wissen. Daher gewinnt er auch vor allem Boden auf Universitäten und Schulen und nimmt alsbald eine gelehrte und schulmäßige Wendung. Unter den Universitäten sind es zuerst die neugegründeten, die ihn recipieren, die ältern folgen zögernd und oft unter heftigen Kämpfen nach; allmählich erobern aber die «Poeten» überall einen oder mehrere Lehrstühle für klassische Philologie.
Zuerst am Niederrhein drang er dann auch in die Schulen der Hieronymianer ein; besonders bekannt ist die Fraterherrnschule zu Lüttich, in Deventer lehrte Alexander Hegius, in Münster in Westfalen Johann Murmellius. Aus diesen Kreisen ging auch Erasmus hervor, der feinste Gelehrte unter den Humanisten und ein hervorragender Theoretiker der Pädagogik; das Wort rerum cognitio potior, verborum prior stammt von ihm. An den Oberrhein brachte der Westfale Dringenberg den niederdeutschen Humanismus und begründete in Schlettstadt eine berühmte Schule; einer ihrer Schüler war Wimpheling, der in Straßburg den Humanismus mit deutschnationalen Ideen verband und in seiner «Germania» den Plan zu einer großen humanistischen Lehranstalt entwickelte. Das Ziel aller dieser Schulen war die Verdrängung des scholastischen Lateins, das die Humanisten um Reuchlin in den «Epistolae virorum obscurorum» so geistreich verhöhnten, die Beseitigung des Doctrinale, die Kunst der lat. Rede, für die man sich immer ausschließlicher Cicero zum Vorbild nahm, und die Aufnahme des Griechischen in den Kreis der Unterrichtsfächer. Die Theoretiker verlangten eine humanere Behandlung der Kinder, denen das Lernen
angenehm gemacht werden müsse.
Im J. 1517 hatte der Humanismus auf der ganzen Linie gesiegt; da kam die Reformation, und nun schien es einen Augenblick, als ob vor dieser volkstümlichen religiösen Bewegung der aristokratische Humanismus die Waffen strecken müsse und das von ihm gegründete, vielfach noch an die alte Kirche sich anlehnende Schulwesen einem raschen Untergang verfallen sei. Allein nun nahm sich die Reformation selbst der Sache an, und mit seiner starken Stimme forderte Luther in seinem Sendschreiben an die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands (1524) die weltliche Obrigkeit auf, daß sie christl. Schulen aufrichten sollten. Er dachte dabei an alles Volk in Stadt und Land, betonte aber zugleich auch das Mittel der Sprachen für das Evangelium so energisch, daß die allgemeine Volksschule noch einmal unausgeführt blieb und es nur zur Einrichtung prot.
Gelehrtenschulen kam. So entstand die Verbindung der Reformation mit dem Humanismus, als deren Vertreter vor allem Melanchthon, der Praeceptor Germaniae, zu nennen ist. Die älteste dieser Neugründungen ist die Stadtschule zu Magdeburg (1524), die bekannteste das prot. Gymnasium zu Straßburg (1538), dessen gefeierter Schulrektor Johannes Sturm eine typische und vorbildliche Persönlichkeit geworden ist. Sein Ziel war die sapiens atque eloquens pietas, doch lag der Ton fast ausschließlich auf der eloquentia, und daher verengte sich der humanistische Gedanke einer neuen Bildung unter seinen Händen mehr und mehr zu einem Virtuosentum mit einseitiger Betonung des Formalen.
Andere Rektoren gaben an ihren Anstalten den Realien (der sapientia oder eruditio) mehr Raum als Sturm, so Neander in Ilfeld und Wolf in Augsburg. Besonders bedeutsam aber war, daß neben einzelnen Städten nun auch die Regierungen prot. Länder die Organisation des Schulwesens auf humanistischer Grundlage für ihr ganzes Gebiet in Angriff nahmen und so ein an die Landeskirchen sich anlehnendes Landesschulwesen entstand. Den Anfang hatte schon Melanchthon durch das Visitationsbüchlein für Kursachsen gemacht, das trefflichste Schulgesetz jener Zeit aber war die württemb. Schulordnung von 1559, an die sich Braunschweig 1569, Kursachsen 1580 eng anschloß. Hier wird die Verstaatlichung des Schulwesens zum erstenmal mit klarem Bewußtsein und ausdrücklicher Begründung durchgeführt und die deutschen Schulen in den Dörfern und die lat. Partikularschulen in den Städten in einem Rahmen zusammengefaßt.
Auf kath. Seite, wo der Spanier Ludwig Vives der bedeutendste Theoretiker ist, bemächtigte sich der Jesuitenorden des höhern Unterrichtswesens; in der sorgfältig vorbereiteten Ratio studiorum von 1599 sind die Bestimmungen über Unterricht und Erziehung an den Jesuitenkollegien kodifiziert; diese Ratio hat sich bis 1832 im wesentlichen unverändert erhalten und gilt auch jetzt noch in allen Hauptzügen als maßgebend für den Jesuitenunterricht. Ziel und Methode ist im großen Ganzen humanistisch; aber weil den Jesuiten der Humanismus doch nur Mittel ist für ihre kirchlichen Zwecke, so stehen sie innerlich dem Geiste des klassischen Altertums fremd gegenüber, und so hat sich unter ihren Händen der Unterrichtsbetrieb der alten Sprachen rasch wieder dem unfrei scholastischen angenähert, namentlich ihr Latein nahm statt der klassischen die kirchlich scholastische Farbe an, und ebenso haben sie dem Geiste ihrer Ethik gemäß die humanistische Betonung der Aemulatio stark übertrieben und unethisch verzerrt.
III. Übergangszeit. Seit dem Ende des 16. Jahrh. beginnt der Niedergang des humanistischen Schulwesens; es werden Stimmen Unzufriedener laut, an der Langeweile und Unfruchtbarkeit des immer formalistischer und leerer werdenden Unterrichts wird scharfe Kritik geübt, vor allem vermißt man die Pflege der Muttersprache, teilweise auch schon den Unterricht in Realien; andere weisen auf das Ungenügende der religiösen Erziehung und Unterweisung hin. Der Dreißigjährige Krieg wirkt dann vollends verheerend, geradezu vernichtend. Doch treten gerade während des Krieges auch Reformversuche und Anstöße zu einem Neuen hervor. Seit 1612 verspricht Wolfgang Ratke (Ratichius) eine Methode, wie die Sprachen in kurzer Zeit leicht zu lernen seien, und erregt dadurch allgemeines Aufsehen und große Erwartungen. Der Versuch, den er mit seiner Methode in Cöthen in großem Stil machen
darf, scheitert aber an äußern und innern Unzulänglichkeiten. Wichtig ist, daß die unter seinem Einflusse entstandene weimarische Schulordnung von 1619 zum erstenmal den Schulzwang durchführt, womit nun erst die Möglichkeit einer allgemeinen Volksbildung gegeben war; 1642 folgt diesem Vorgang Gotha, 1647 Braunschweig, 1649 Württemberg, Preußen erst im 18. Jahrh. nach. Kurz nach Ratkes Auftreten und vielfach von ihm abhängig hat Johann Amos Comenius in seiner «Didactica magna» ein großgedachtes System der Pädagogik entworfen, das in der Forderung, Alle alles zu lehren, erstmals eine socialpädagogische Wendung nimmt, auf die Analogie der äußern Natur hinweist und die Gedanken einer lückenlosen Stufenfolge, eines angenehmen und raschen Unterrichtsverfahrens, des Parallelismus von Wort und Sache und der Anschaulichkeit durch Bild und Beispiel energisch betont; dem letztern hat Comenius durch seinen «Orbis pictus» zur Verwirklichung geholfen. Das Schulwesen denkt er sich vierfach gegliedert, zu unterst die Mutterschule in jedem Haus, dann die Muttersprachschule in jedem Dorf, die lat. Schule in jeder Stadt und die Akademie in jeder Provinz. Dem lat. Unterricht galten seine berühmten Lehrbücher, der Utopie einer Pansophia gehörte das Herz dieses Mannes voll Sehnsucht und Zukunft.
Ein neues Bildungsideal aber kam nach dem Dreißigjährigen Kriege unter dem übermächtigen Einfluß Ludwigs XIV. in Deutschland auf: dem Adel konnte die unpraktische Gelehrtenbildung nicht mehr genügen, er brauchte Conduite und Französisch, und so wird der galant homme das Ziel, das namentlich an den Ritterakademien gepflegt wird. Im Zusammenhang damit steht auch der praktisch-utilitaristische Zug, wie er z. B. durch Leibniz nicht ohne Übertreibung für die Erziehung betont wurde. Zu einem Neuen kam es aber erst an der Universität Halle (seit 1694), wo Thomasius gleichzeitig für die deutsche Sprache und die Nachahmung der Franzosen eintrat und die Gedanken der Aufklärung vorbereitete, und wo andererseits Aug. Herm. Francke durch Gründung des Waisenhauses und der damit verbundenen Erziehungsanstalten der pietistischen Pädagogik die Stätte bereitete.
Das Praktische ihres Christentums ließ sie den Latinismus zurückdrängen und den Forderungen des Realismus gerecht werden, wie denn ein Zeitgenosse und Kollege Franckes, Semler, die erste Realschule in Halle (1708), ein Schüler Franckes, Hecker, die erste große und dauernde Realschule in Berlin (1747) gegründet hat; über den Unterricht aber stellten die Pietisten die Erziehung zur wahren Gottseligkeit, die freilich ihrer Religiosität entsprechend etwas Unkindliches und an das mönchische Ideal des Mittelalters Erinnerndes an sich hat. Ihr Einfluß aber war namentlich in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. ein sehr großer.
IV. Realismus und Neuhumanismus. Die Realschulen entstammen dem Geiste des Pietismus und der Aufklärung, die beide näher miteinander verwandt sind, als die Fechterstellung, die sie bald genug gegeneinander einnahmen, vermuten läßt. Es kam aber noch ein Drittes hinzu, um dem Realismus zum Siege zu verhelfen - der Einfluß Rousseaus. Seine Gedanken sind nicht originell; schon im 16. Jahrh. hatte Michel de Montaigne in Frankreich dem Pedantismus gegenüber eine natürliche Erziehung gefordert, und 1693 waren in England «Some thoughts concerning Education» von John Locke erschienen, in denen auf körperliche Abhärtung und Gewöhnung und auf sittliche Erziehung mehr Gewicht gelegt wird als auf gelehrtes Wissen; und auch bei diesem ist nicht das Lateinische die Hauptsache, reale Kenntnisse aller Art sind für die Bildung eines jungen Gentleman vor allem vonnöten.
Aber diesen Gedanken gab doch erst Rousseau in seinem «Émile» (1762) durch den Feuerstrom seiner Beredsamkeit den rechten Nachdruck. Sein Verlangen, zur Natur zurückzukehren, und sein Ruf nach Freiheit galt auch für die Erziehung, die vor allem darin bestehen soll, nichts zu thun, sondern die guten Anlagen des Kindes sich selber entwickeln zu lassen. Sein Buch bedeutet daher den Protest gegen knechtische Vorurteile und sklavische Lebensweise, den Respekt vor der Kindesnatur des Kindes und einen bis zum Fanatismus gesteigerten Realismus und Naturalismus.
Diese Gedanken eines pädagogischen Sturmes und Dranges finden in Deutschland begeisterte Aufnahme bei den sog. Philanthropinisten, die freilich zugleich noch unter dem Einfluß der Aufklärung stehen, so daß sich hier eine eigenartige Synthese bildet. Was Rousseau für den einzelnen Emil gefordert hatte, übertrug Basedow im Dessauer Philanthropin auf eine ganze Anstalt. Salzmann gründete das heute noch bestehende Philanthropin in Schnepfenthal und gehört mit Trapp und Campe zu den bedeutendsten Theoretikern dieser Richtung.
Daß der Philanthropinistische Realismus aber rasch zurückgedrängt wurde, das hängt mit der gleichzeitigen Erneuerung des Humanismus und seines Schulwesens zusammen. Durch Gesner und Heyne in Göttingen und Ernesti in Leipzig wurde der Geist des klassischen Altertums wieder lebendig, neben der Form nun endlich auch der unvergleichlich wertvolle Inhalt der alten Schriftsteller gewürdigt und begriffen; Winckelmann und Lessing, Wieland und Herder haben jeder in seiner Weise dieses bessere Verständnis gefördert und vertieft und das Interesse am Altertum in weitere Kreise hinausgetragen. So kam der Klassicismus in unsere Litteratur, wie ihn Goethe und Schiller in den neunziger Jahren vertraten und Hölderlin mit seinem Griechenheimweh bis ins Krankhafte verzerrte.
Der philol. Vertreter derselben aber war Fr. A. Wolf, der sich 1777 als erster stud. philologiae in Göttingen hatte immatrikulieren lassen und seit 1783 in Halle diese moderne klassische Philologie so glänzend vertrat. Aber auch in der Schule drang der Neuhumanismus langsam vor, noch unter dem aufgeklärten Unterrichtsminister Friedrichs d. Gr., dem Frhrn. von Zedlitz, durch den 1787 das pädagogische Seminar Gedikes in Berlin, die selbständige Behörde des Oberschulkollegiums und 1788 das Abiturientenexamen ins Leben gerufen wurde.
Durchdringen aber konnte die neue Richtung erst, als 1809 Wilh. von Humboldt an die Spitze des preuß. Unterrichtswesens berufen wurde. Zugleich führte dieser der Volksschule, für welche durch den immer neu eingeschärften Schulzwang der Boden bereitet, durch Hecker an seiner Realschule oder in besondern Seminarien Lehrer ausgebildet und durch Hecker, Eberhard von Rochow und Felbiger eine Unterrichtsmethode geschaffen worden war, nun auch den ihr noch fehlenden Inhalt und Geist durch die auf Psychologie gegründete Pädagogik Pestalozzis zu. Rasch gewann sich dieser große schweiz. Pädagoge durch die Kraft
seiner genialen und liebedurchglühten Persönlichkeit die Herzen, und sein Gedanke, dem armen Volk zu helfen durch Entwicklung seiner eigenen physischen und geistigen Kräfte, wurde in die große Arbeit an der Wiederaufrichtung des preuß. Staates eingefügt. Seit jener Zeit steht die deutsche Volksschule unter dem Einfluß Pestalozzis.
Gleichzeitig mit diesem Eifer für die praktische Neugestaltung des preuß.-deutschen Schulwesens erwachte auch das Interesse für theoretische Neubildungen. Seit 1779 beschäftigte man sich mit der Geschichte der Pädagogik, Niemeyer faßte in seinen «Grundzügen der Erziehung» (1796) eklektisch das praktisch Geübte zum System zusammen, Kant und Fichte, Goethe und Jean Paul gaben allerlei Anregungen, und Schleiermacher und Herbart wurden die Systematiker der Pädagogik, wobei jener mehr im großen Stil die allgemeinen Fragen der Erziehung, dieser mehr methodisch die Technik des Unterrichts ins Auge faßte.
Auch hierbei wirkte Pestalozzi vielfach anregend mit. In Preußen scheiterte zwar der Versuch Süverns, den Pestalozzischen Gedanken von einer innern Zusammengehörigkeit aller Schulgattungen in einem umfassenden Schulgesetz zu verwirklichen;
aber im einzelnen wurde durch ihn und Joh. Schulze, in Bayern durch Niethammer und Thiersch der Neuhumanismus in den Schulen ein- und durchgeführt;
doch behielt trotz aller Griechenbegeisterung das Lateinische seinen historisch ersten Platz;
und noch konservativer zeigten sich darin Württemberg und Sachsen.
Wurde das Gymnasialwesen streng bureaukratisch geordnet und alles staatlich bestimmt, so ließ man dagegen das Realschulwesen vorläufig noch sich frei und individuell entwickeln. Im 18. Jahrh. war die Realschule als ein Bündel von allerlei Fachschulen gedacht und eingerichtet, durch Schmieder, Spilleke, Nagel u. a. wurde auch sie zur allgemeinen Bildungsanstalt, in der an Stelle der alten die neuern Sprachen und ein Plus von Mathematik und Naturwissenschaften gelehrt wurden. Da aber in Preußen den höhern Schulen vor allem die Vorbereitung auf die Beamtenlaufbahn oblag und ihnen überdies seit 1814 unter gewissen Bedingungen das Danaergeschenk der Berechtigung zum einjährigen Heeresdienst verliehen war, so mußten die norddeutschen Realschulen vielfach auch das Lateinische unorganisch ihrem Lehrplan einfügen, und das ließ sie längere Zeit zu keiner rechten Klarheit und nicht zu vollem Gedeihen kommen.
V. Der Kampf um die Schulreform. Gegen das scheinbar so wohlgeordnete preuß. Gymnasialwesen erhob nun aber Thiersch schon 1829 von pädagogischer Seite her Bedenken: die gleichzeitige Steigerung des klassischen und des realistischen Unterrichts (der Utraquismus) führe notwendig zur Erschöpfung und Ermattung der Schüler;
und von hygieinischer Seite trat der Medizinalrat Lorinser 1836 «zum Schutz der Gesundheit in den Schulen» in gleichem Sinne gegen das herrschende Schulsystem auf.
Beide Angriffe wurden zwar zunächst noch abgeschlagen, dem letztern namentlich durch Einführung des früher politisch verdächtigen Turnunterrichts begegnet; aber die Klagen und Anklagen sind seither nur immer heftiger wiederholt worden. Dazu kam in der Reaktionszeit noch der Vorwurf der Unchristlichkeit gegen die Gymnasien und die Gymnasiallehrer; und nach 1870, wie ähnlich schon im Sturmjahr 1848, nahm das specifisch nationale Empfinden an dem Umweg unserer Bildung über das Lateinische und Griechische Anstoß und forderte zum mindesten eine stärkere Betonung des deutschen Unterrichts und der vaterländischen Geschichte.
Endlich schien der fortlaufend wachsende Einfluß der Naturwissenschaften in neuerer Zeit eine zunehmende Vermehrung des ihnen und der Mathematik gewidmeten Unterrichts nötig zu machen. Aus solchen Erwägungen heraus fanden dann Umgestaltungen des Lehrplans 1856 durch Wiese, ganz besonders aber 1882 durch Bonitz statt. Doch konnten alle Konzessionen den Gymnasien die verlorene Gunst nicht wieder zurückgewinnen, und so tauchten immer neue und teilweise ganz radikale Vorschläge zu einer Reform unsers Unterrichtswesens auf; besonders populär war dabei der Gedanke der Einheitsschule.
Diesem Überschwang und dieser Unruhe sollte die Berliner Schulkonferenz von 1890 ein Ende machen; aber die auf Grund ihrer Ergebnisse entworfenen Lehrpläne von 1892 befriedigten im Grunde niemand und mußten auch in wesentlichen Bestimmungen inzwischen bereits wieder modifiziert werden. So stehen wir im Kampf um die Schulreform noch immer mitteninne. Die Reformgymnasien nach dem Frankfurter Lehrplan (Direktor Reinhardt), an denen man mit dem Französischen statt mit dem Lateinischen beginnt und dieses erst in Untertertia, das Griechische erst in Untersekunda folgen läßt, bedeutet nur eine weitere Etappe in einer vielfach unsicher nach einem Neuen suchenden und empirisch experimentierenden Entwicklung. Um dem Utraquismus Rechnung zu tragen, hatte Wiese 1859 zwischen Gymnasium und lateinloser Realschule die Realschule I. Ordnung (Realgymnasium) als besondere Schulgattung eingeschoben; da ihr aber die notwendigen Berechtigungen, namentlich zum mediz.
Studium, versagt blieben, so kam sie zu keinem vollen Gedeihen; und auch über das Maß des Lateinischen schwankten die Bestimmungen mehrfach hin und her; im Norden war dieses Maß fraglos unzureichend, in Württemberg, wo die Realgymnasien vielmehr Gymnasien ohne Griechisch waren, geschah darin des Guten zu viel. Auch die Zahl der lateinlosen Realschulen nahm zu, seit 1859 traten die Oberrealschulen als Schulen allgemeiner Bildung principiell gleichwertig neben Gymnasien und Realgymnasien, doch beeinträchtigen auch hier die Berechtigungsfrage und allerlei Standesvorurteile eine pädagogisch normale Entwicklung.
Parallel mit der Unzufriedenheit des Publikums über die Schulen ging die der akademisch gebildeten Lehrer über ihre den Juristen gegenüber verkürzte Stellung in Gehalt und Rang, und daher bildeten sich Vereine zur äußern Hebung des Standes. Endlich nahm man sich, nachdem seit 1810 Prüfungsordnungen mehrmals die wissenschaftliche Vorbildung der höhern Lehrer geregelt hatten, neuerdings auch ihrer pädagogischen Ausbildung an und verlegte dieselbe in Preußen durch Einschiebung des Seminarjahrs nach Schluß der Universitätszeit an die Gymnasien, während in andern Staaten auch sie der Universität zugewiesen bleibt (Rein in Jena). Meist wird dabei die Herbartsche Methode angewendet, wofür besonders Frick und Schiller eingetreten sind, während Jäger, Ziegler u. a. vor den Übertreibungen dieser und der Methode überhaupt warnen. Den durch die Verstaatlichung des höhern Schulwesens auf dieses drückenden und die freie Bewegung vielfach hemmenden Bureaukratismus bekämpfen neuerdings vor allem Paulsen, Ziegler u. a. Übrigens sind alle diese Bewegungen nicht auf Deutschland
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beschränkt, vielmehr beruft man sich hier zum Teil auf ähnliche Bestrebungen im Auslande; in manchen Beziehungen gehen neuerdings Frankreich, Skandinavien und Nordamerika eigene und neue Wege.
Die Volksschule war in Deutschland inzwischen immer mehr zur Pestalozzischule geworden. In den dreißiger und vierziger Jahren hatte Diesterweg ein hervorragendes Verdienst, aber durch die Reaktion wurde er beseitigt, und die Stiehlschen Regulative von 1854 waren bemüht, dem Verlangen der Lehrer nach eigener besserer und erweiterter Bildung entgegenzuarbeiten und einen frömmelnden Geist in die Schule einzuführen. Unter dem Ministerium Falk (1872-79), in den Zeiten des Kulturkampfes, wo die Schule überhaupt zum Streitobjekt zwischen den Parteien zu werden drohte, wurden die Regulative wieder beseitigt, und der in ähnlich konfessionellem Geiste gehaltene Volksschulgesetzentwurf des Ministers von Zedlitz-Trützschler (1892) stieß auf so heftigen Widerstand, daß auf seine Durchführung verzichtet werden mußte.
Die Feier von Pestalozzis Geburtstag bewies ebenso wie die großen Lehrerversammlungen der letzten Jahre, daß die deutschen Volksschullehrer an dem freiern Pestalozzischen Geiste festhalten wollen, wenn sie inzwischen auch in der Methode vielfach von Herbart nur allzu abhängig geworden sind. In ihren Kreisen findet auch der ebenfalls auf Pestalozzi zurückgehende Gedanke einer socialen Pädagogik lebhaftesten Anklang und williges Verständnis, wozu in Theorie und Praxis allerlei gute Ansätze vorhanden sind.
Ungelöst aber ist immer noch die Frage nach dem Verhältnis der Schule zur Kirche: während man in den meisten deutschen Staaten an der alten Konfessionsschule festhält und auf der andern Seite Frankreich es mit einem konfessions-, wenngleich nicht ganz religionslosen Moralunterricht versucht, hat Baden mit dem System der Simultanschulen gute Erfahrungen gemacht und hält sie und im Zusammenhang damit die ausschließlich fachmännische Schulaufsicht trotz aller Anfechtungen von konfessioneller Seite tapfer aufrecht.
Unbefriedigt ist dann weiter auch noch das Verlangen der Lehrer nach einer wesentlich erweiterten und erhöhten Bildung und die echt sociale Forderung einer wirklich allgemeinen Volksschule. Endlich ist auch die Frage der höhern Mädchenbildung noch im Fluß: die preuß. Verfügung vom ist ein vielfach angefochtener Versuch, der dadurch, daß er den zehnjährigen Kursus der höhern Mädchenschule principiell auf einen neunjährigen reduziert hat, eher hemmend als fördernd wirken dürfte. Und ebenso ist für die Mädchengymnasien die rechte Form noch nicht gefunden. So bleiben auch auf dem Gebiet der Pädagogik dem 20. Jahrh. Aufgaben zu lösen, welche das 19. zwar gestellt, aber nicht zu Ende gedacht und geführt hat.
Die Litteratur zur Geschichte der Pädagogik ist überreich; vgl. die Hauptwerke von K. von Raumer, K. Schmidt, K. A. Schmid, die Handbücher von Stöckl, Schiller und Th. Ziegler, O. Willmanns Didaktik, Fr. Paulsens Geschichte des gelehrten Unterrichts; K. A. Schmids Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, die bis jetzt erschienenen Bände der Monumenta Germaniae Paedagogica, und die seit 1890 erscheinenden Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, beides von K. Kehrbach herausgegeben.