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des Çivaismus ist. Die Tantra sind ihrem Hauptinhalt nach Handbücher der Zauberei und Geheimkunst. Sie lehren, wie man Zauberkräfte erlangen kann durch bestimmte Sprüche, mystische Silben und Buchstaben, Diagramme, [* 2] magische Kreise; [* 3] sie geben Anleitung, um die Stimmen der Tiere kennen zu lernen, wie man Krankheiten hervorrufen und heilen, bestimmte Dämonen für sich gewinnen oder vertreiben kann; Astrologie [* 4] und Alchimie spielen darin eine Rolle. Sie werden alle zurückgeführt auf eine Upanishad (s. d.), die Kaula-Upanishad, und die Bräuche, denen die Çāktā «der linken Hand» [* 5] folgen, heißen die Kaulabräuche.
Die Çāktā zerfallen in zwei Klassen, die «Çāktā der rechten Hand» und die «Çāktā der linken Hand». Die erstern verehren die Çakti nach den Vorschriften des Veda und der Purāṇa, zuweilen mit blutigen Opfern, aber ohne anstößige Gebräuche und öffentlich. Der Çaktidienst der «Çāktā der linken Hand» dagegen ist ein geheimer und höchst obscöner. Männer und Frauen feiern ihn gemeinsam; sie bilden bei ihren Zusammenkünften einen Kreis, [* 6] «den Kreis des Bhairava» (d. h. Çiva), innerhalb dessen alle Kastenunterschiede aufhören. In seiner Mitte sitzt eine nackte Frau als Symbol der Çakti, und Trunkenheit und Unzucht stehen im Mittelpunkt der Feier. Çivaitisch sind vorwiegend auch die Thags (s. d., Bd. 15), im Dekan sehr zahlreich die Dschangamā oder Lingavat, gewöhnlich Lingaiat oder Lingajat genannt, die das Lingam an einem Teile ihres Körpers oder ihrer Kleidung tragen. Zu den Çivaiten gehören ferner die Dschōgi (s. d., Bd. 5), die als Gaukler, Zauberer, Musiker herumziehen.
Der Çivaismus hat seine Anhänger vorwiegend in den niedern Klassen der Bevölkerung; [* 7] der bessere Teil neigt zum Vishṇuismus, der ebenfalls in viele Sekten zerfällt. Die Religion des Vishṇu (s. d., Bd. 16) trägt im Gegensatz zu der des Çiva einen milden, versöhnlichen Charakter. Ihr eigen ist das System der Verkörperungen (Sanskrit Avatāra) des Vishṇu, deren zehn angenommen werden, unter denen die als Rāma (s. d., Bd. 13) und Krischna (s. d., Bd. 10) religionsgeschichtlich die wichtigsten sind. Der Vishṇuismus hat ein doppeltes Gesicht. [* 8] Einmal hat er die Neigung zur Beschaulichkeit und Spekulation, dann zu einem ausgelassenen Lebensgenuß. Man hat diese Seiten als Rāmaismus und Krischnaismus unterschieden, und danach trennen sich auch die Sekten. Unter den alten rāmaitischen Sekten ragt hervor die der Pāntscharātrā (s. d., Bd. 12) oder Bhāgavatā, die im 12. Jahrh. durch Rāmānudscha, einen Südinder, zu neuem Leben erweckt wurde.
Die Rāmānudschā sind heute eine wichtige und zahlreiche Sekte im südl. Indien. Sie glauben, daß Vishṇu das höchste Wesen ist, das von Anfang an da war und der Schöpfer aller Dinge ist, sind also monotheïstisch (Sanskrit advaita = nicht-dualistisch). Sie zerfallen in zwei Abteilungen, die sich feindlich gegenüber stehen; die eine, die südl. Schule, lehrt, daß Rāma-Vishṇu den Menschen errettet ohne sein Zuthun, ohne seinen freien Willen, wie eine Katze [* 9] ihre Jungen faßt (woher diese Lehre [* 10] die «Katzenlehre» heißt),
die andere, die nördl. Schule, daß der Mensch Rāma suchen und ihn umarmen muß, wie ein Affe [* 11] seine Mutter (woher der Name «Affenlehre»). Noch zahlreicher als die Rāmānudschā sind die Rāmānandā, gegründet von Rāmānandā im 14. Jahrh. Sie sind besonders zahlreich um Agra, verehren außer Rāma und seiner Frau Sītā auch den Affen [* 12] Hanuman (s. d., Bd. 8) und haben freiere Speise- und Kastengesetze als die Rāmānudschā, von denen sie sich sonst wenig unterscheiden. Rāmānanda hatte zwölf Schüler, unter denen berühmt ist Kabīr, der Gründer der Sekte der Kabīr Panthī, der sehr energisch gegen die Vielgötterei auftrat, nur die Verehrung von Rāma oder Vishṇu als des einen Gottes zuließ und sehr strenge Moralgesetze aufstellte. Auf Kabīrs Lehren [* 13] fußt Nānak, der Gründer der Sikh (s. d., Bd. 14), der eine Vereinigung des Hinduismus mit dem Islam anstrebte.
Die krischnaitischen Sekten verehren Vishṇu in seiner Verkörperung als Krischna, und zwar den jugendlichen Krischna, dessen ausgelassenes Leben mit den Hirtinnen ein beliebter Gegenstand für die Dichter gewesen, am glühendsten von Dschajadeva (s. d., Bd. 5) geschildert worden ist. Das Jugendleben Krischnas bietet einige Züge, die auffallend an christl. Erzählungen aus dem Leben Jesu erinnern. Sein Pflegevater zieht mit seiner schwangern Frau nach Mathurā, um seine Steuern zu zahlen, zur Zeit als Krischna geboren wird, was in einem Kuhstall oder einer Hürde (vgl. die Krippe) geschieht.
Wie Christus wird Krischna von einem grausamen König verfolgt, der alle männlichen Kinder zu töten befiehlt, die zu der gleichen Zeit wie Krischna geboren sind; wie Christus wird Krischna durch die Flucht gerettet, indem ihn Vasudeva, der ind. Christophorus, durch das Wasser trägt, das, obwohl angeschwollen, ihm nur bis an die Knie reicht; das Geburtsfest beider wird gefeiert und Dēvakī, die Mutter Krischnas, als Madonna lactans dargestellt (vgl. Weber, Über die Kṛishṇajanmāshṭamī, Krishṇas Geburtsfest, Berl. 1868). Eine direkte Entlehnung seitens einer der beiden Religionen ist schwerlich anzunehmen; wahrscheinlich liegt der Fall hier ebenso wie beim Buddhismus (s. Buddha, Bd. 3), daß beide Darstellungen auf eine dritte, gemeinsame Quelle [* 14] zurückgehen.
Unter den Krischnaiten ragen zwei Sekten hervor, die Anhänger des Tschaitanja (Sanskrit Caitanya) und des Vallabhātschārja (Sanskrit Vallabhācārya). Tschaitanja wurde 1485 in Bengalen geboren, und dort und in Orissa sind seine Anhänger sehr zahlreich. Er predigte die Gleichheit der Kasten und die Verdienstlichkeit der Ehe. Zu Krischna soll der Gläubige eine Liebe fühlen, wie der Jüngling zur Jungfrau, und diese Liebe soll durch Singen und Tanzen oder Beschaulichkeit entfacht werden.
Eine Ohnmacht des Gläubigen gilt für das Zeichen, daß Krischna seine Liebe angenommen hat. Tschaitanja selbst war Anfällen solcher religiösen Ekstase ausgesetzt und soll während eines solchen ertrunken sein. Nach seinem Tode wurde er für eine Inkarnation des Krischna erklärt. Gerade dem entgegengesetzten Teile von Indien, dem Nordwesten, gehören die Anhänger des Vallabhātschārja an. Derselbe wurde 1479 geboren und ließ sich nach längern Wanderungen durch ganz Indien in Benares nieder.
Die Vallabhātschārja hat man die Epikureer des Vishṇuismus genannt. Ihr System führt den Namen Pushṭimārga, «der Weg zum Wohlbefinden», und lehrt, daß man Krischna verehren soll, indem man sich den Freuden dieser Welt hingiebt. Die geistlichen Oberhäupter, Mahārādschā (Großkönige) genannt, gelten als Inkarnationen Krischnas, denen man dieselbe Ehre erweisen muß wie dem Gotte selbst. Und da Krischnas Verkehr mit den Hirtinnen als Vorbild genommen ¶
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wird, ist systematische Unzucht mit dem weiblichen Teile der Sekte Vorschrift. Gegen die Vallabhātschārjas trat auf Svāmi Nārājaṇa (geb. 1780), der Keuschheit und Reinheit des Lebenswandels predigte und dessen Anhänger in Gudschrat gegen 200000 Personen zählen.
Çivaiten und Vishṇuiten unterscheiden sich äußerlich durch bestimmte Zeichen. Die Çivaiten haben einen horizontalen, die Vishṇuiten einen vertikalen Strich auf der Stirn. Die einzelnen Sekten innerhalb der beiden Religionen unterscheiden sich wieder voneinander durch bestimmte Sektenzeichen, die auf der Stirn oder sonst sichtbar angebracht werden, mit Asche, Farbe eingestochen oder eingebrannt. Die Çivaiten verehren, wie erwähnt, das Lingam, das manche Sekten in Gestalt eines weißen Kiesels bei sich tragen.
Den Vishṇuiten ist heilig der Çālagrāma, ein schwarzer Ammonit, und die Tulasīpflanze (Ocimum sanctum L.). Beide Religionen haben den Rosenkranz; die Çivaiten machen ihn aus 32 oder 64 Beeren des Elaeocarpus ganitrus Roxb. (im Sanskrit rudrāksha = Auge [* 16] des Rudra, d. h. Çiva), die Vishṇuiten aus 108 Samenkörnern des Lotus oder Holzstücken der Tulasīpflanze, eine Zahl, die der der Kugeln des Rosenkranzes im nördl. Buddhismus gleich ist. Sehr groß ist die Zahl der religiösen Feste, unter denen besonders das Neujahrs- und das Frühlingsfest als allgemeine Feste mit eigentümlichen Gebräuchen zu nennen sind. Von lokalen çivaitischen Festen ist besonders bekannt geworden die Durgāpūdschā in Bengalen (s. Durgā, Bd. 5), von vishṇuitischen die Rathajātrā des Dschagannāth in Orissa. - Den Weg einer deïstischen Reform, den Kabīr, Nānak u. a. eingeschlagen hatten, hat in neuerer Zeit besonders Rām Mohan Roy verfolgt, der Gründer des Brahmosomādsch, (s. d., Bd. 3).
Die große Masse des ind. Volks, vor allem die Landbevölkerung, hat, wie oben bemerkt, ihre eigenen lokalen Gottheiten, denen gegenüber die Götter der offiziellen Religion, Brahma, Çiva, Vishṇu, ganz in den Schatten [* 17] treten. Diese Volksgottheiten pflegt man in reine und unreine einzuteilen, je nach den Opfergaben, die man ihnen darbringt. Rein sind alle Opfergaben, die für den Hindu reine Speise sind, besonders mit gereinigter Butter durchtränkte Weizenkuchen.
An der Spitze dieser reinen Gottheiten steht der Sonnengott Sūradsch (im Sanskrit Sūrya), der schon in vedischer Zeit verehrt wurde und auch im Brahmanismus und Hinduismus stets seine eigenen Sekten gehabt hat, die Saurās, die heute im südl. Indien besonders zahlreich sind, im nördlichen um Oudh ihren Hauptsitz haben. Sonnentempel finden sich in vielen Teilen Indiens und gehören zu den schönsten einheimischen Bauwerken. Von Naturgottheiten werden ferner verehrt der Mond, [* 18] die Erde (als Dhartī Mātā oder Dhartī Māī = «Mutter Erhalterin») und eine Masse Geister, denen man Einfluß auf das Wetter [* 19] zuschreibt.
Flüsse, [* 20] Seen, vor allem Pokhar (im Sanskrit Pushkara) in Radschputana, Berge werden heilig gehalten. Außer dem schon erwähnten Affen Hanuman genießen bei Ariern wie Nichtariern weite Verehrung zwei Helden des Mahābhārata, Bhīmasēna und Bhīshma, der erstere meist unter der Gestalt eines unförmigen, mit Zinnober [* 21] bestrichenen Steins oder von Steinsäulen oder zweier Holzpflöcke, die 3-4 Fuß hoch aus der Erde hervorragen. Weit verbreitet ist auch die Verehrung der «Mütter», die, wie erwähnt, auch der Brahmanismus schon in alter Zeit kennt.
Sie sind teils wohlwollend, teils bösartig. Der Hauptsitz dieses Kultus ist heute Gudschrat. Zahllos sind die Gottheiten der einzelnen Dörfer. In den Westdistrikten der Nordwestprovinzen verehrt man sie gewöhnlich in kleinen, viereckigen Ziegelbauten mit runder Erhöhung und einem langen, eisernen Nagel als Knauf. [* 22] Eine rote Fahne an einem benachbarten Baume zeigt die Kapelle an. Götterbilder enthalten solche Kapellen nie, aber viele haben innen einen Vorsprung, auf dem die Gottheit sich aufhalten soll, wenn sie den Platz besucht. Gelegentlich werden Lampen [* 23] darin angezündet, Feueropfer veranstaltet und kleine Spenden dargebracht; das Äußere ist oft mit rohen Darstellungen des mystischen Svastika (s. Hakenkreuz, Bd. 8) bedeckt. In andern Gegenden besteht die Kultusstätte lediglich aus einem Haufen Steine, der unter einem alten, heiligen Baume aufgeschichtet ist.
Man weiht kleine Thonfiguren von Pferden und Elefanten als Dank für erfüllte Bitten, ferner eigentümliche Schalen mit kurzen Füßen; an den benachbarten Bäumen werden oft kleine Hängematten angebracht als Dank für die Heilung von ansteckenden Krankheiten. Kein richtiger Hindutempel wird je im Süden einer Stadt oder eines Dorfes errichtet. Der Süden gilt als Sitz des Jama, des Todesgottes, und dorthin verlegt man die Kirchhöfe und Richtplätze. Die Thür muß ferner stets nach Osten gerichtet sein.
Bei diesen Kultusstätten der Volksgötter wird keine bestimmte Richtung beobachtet. Man errichtet sie unter einem passenden Baume, oder auch an Stellen, wo einmal jemand erschlagen oder ermordet worden ist, wo er vom Baume stürzte oder ertrank. Es sind also zum Teil «Marterln», durch die man die Seele des Verstorbenen besänftigen will. Glaubt man den Gott abwesend oder schlafend, so wird eine Trommel geschlagen, um ihn herbeizurufen oder zu erwecken, und auf diese Weise verscheucht man zugleich die bösen Geister, die das Opfer stören oder sich aneignen wollen.
Der Einfluß eines solchen Lokalgottes reicht nicht über sein Dorf oder zuweilen eine Gruppe von Dörfern hinaus; man kann sich ihm also durch Wohnungswechsel entziehen, wenn er ungnädig ist. Eine besondere Klasse bilden die Krankheitsgötter. Unter ihnen nimmt die erste Stelle ein Sītalā, die Göttin der Blattern, die zu einer Form der Kālī oder Dēvī, der Frau des Çiva, erhoben worden ist und vorzugsweise von Frauen oder Kindern verehrt wird mit eigentümlichen Gebräuchen, die nach der Provinz wechseln.
Ebenso giebt es Gottheiten der Malaria, der Cholera, der Tierkrankheiten. Diese Gottheiten zu bannen, ist Aufgabe bestimmter Priester, bei den Hindu vor allem des Ōdschhā, der für seinen Beruf, der sich oft in der Familie vererbt, sorgfältig vorbereitet wird. Die Austreibung geschieht entweder durch magische Sprüche oder durch Übertragung der Krankheit auf einen andern, wozu Schweine, [* 24] Böcke, junge Büffel, Hühner, [* 25] alle von schwarzer Farbe, gewählt werden.
Die Zahl anderer böser Geister ist ungeheuer, der Glaube an den bösen Blick, an Amulette allgemein, Tierverehrung, bei der der Totemismus mitspielt, weit verbreitet. Mit andern ist auch Crooke, der zuerst diese Volksreligion im Zusammenhange behandelt hat, geneigt, Einfluß der Nichtarier, besonders der Draviden, anzunehmen. Es lassen sich aber fast alle Züge des heutigen Volksglaubens bereits im Rigveda und Atharvaveda nachweisen, werden also als urarisch anzusehen sein. ¶