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Budget für 1896. Einnahmen Frs. Ausgaben Frs. Grundsteuer Gebäudesteuer Personalsteuer Thür- und Fenstersteucr Gewerbesteuer Tteuerrolleutaxe Pferde-, Wagen- und Bedientensteuer . Einregistrierung Stempelsteuer Zölle Andere Taxen Mobiliensteuer Zuckcrsteucr Tabaksmonopol Zündholz- und Pulvermonopol Post, Telegraphen, [* 2] Telephone Verschiedenes Domänen und Wälder Verschiedene Einnahmen Laufende Einnahmen 118 607 919 80 042 227 90 470 476 58 425 474 125 580 402 1 054 100 47 920 585 555 689 500 188 402 500 469 270 230 588 343000 66 220000 196 473000 376 301 800 39 959 300 215 014 350 10 318 862 45 019 420 57 372 575 «4 816 354 Verzinsung der öffentlichen Schuld . . . Präsident, Kammer und Senat Finanzministerium Justizministerium Ministerium des Äußern Ministerium des Innern Kriegsministerium, ordentliche Ausgaben Kriegsministerium, außerordentliche Alisgaben Marineministerium Unterricht Schöne Künste Kultus Handel und Industrie, Post und Telegraphen Kolonien Ackerbau Öffentliche Arbeiten Regie- und Erhebungskostcn Rückzahlungen u. s. w 1219 792 036 13 171 720 19 471260 35 320 233 15 934 800 75 786 209 609 145 480 42 029 340 272 614 893 195 018 342 8 148 985 44 125 953 198 213 197 79 018 500 30 115 090 270 639 764 204 469 771 40 842000 Zusammen Frankreich! Algerien [* 3] j 3 395 302 074 53 015 019 Zusammen Frankreich ! Algerien > 3 373 907 578 74 010 620 Gcsamtbudget > 3 448 317 093 > der polit. Bühne. Das vorwiegend opportunistische Ministerium Dupuy, das seit die Ge- schäfte führte, bekämpfte Monarchisten und Socia- listen und unterdrückte mit Energie Straßenunruhen, die 4. bis 6. Juli in Paris [* 4] stattfanden; im Novem- ber traten die weiter nach links neigenden Mitglieder des Kabinetts infolge einer straff antisocialistischen Erklärung des Ministerpräsidenten aus, das Mini- sterium Dupuy kam zu Falle (25. Nov.) und ward durch ein einheitlicheres Ministerium Casimir-Perier erseht, dessen Tendenz ganz auf Her- stellung einer festern Ordnung und auf scharfe Be- kämpfung des Anarchismus gerichtet war. Ein Bombenattentat des Anarchisten Vaillant gegen die Kammer (9. Dez.) hatte eine Reihe von Kampfgesetzen zur Folge. Bereits 11. Dez. wurde in der Kammer eine Preßgesetznovelle angenommen, die die Ver- herrlichung von Verbrechen und auch die indirekte Aufreizung dazu unter Strafe stellte, und 15. Dez. erhielten drei weitere Gesetzentwürfe über den Ver- kehr mit Sprengstoffen, über Vereinigungen zu ver- brecherischen Zwecken und über Verstärkung [* 5] der Po- lizei die Genehmigung der Kammer. Daneben hatte ein langer Kohlenstreik im Departement Pas de Calais [* 6] (Sept. bis Nov. 1893) die Parteien erregt; eben unter dessen Nachwirkungen stand der Eintritt des Ministeriums Casimir-Perier. Die Hinrichtung Vaillants bewies, daß die Negierung in energischen Händen ruhte. Bereits im Aug. und Sept. 1893 waren die Kammerwahlen gemäßigt- republikanisch ausgefallen und hatten 310 Gemäßigte, 122 Radikale, 49 Socialisten, 29 Ralliierte ls. Kon- stitutionelle Rechte, Bd. 10), 64 Monarchisten er- geben; im Jan. 1894 lieferten die Senatswahlen ebenfalls eine erhebliche opportunistische Mehrheit. Vom Febr. bis April 1894 vermehrten sich die Bom- benattentate. Trotzdem lieh die Kammer das ener- gische Kabinett Casimir-Periers 22. Mai, gelegentlich einer Debatte über das Verhältnis der Eisenbahn- gesellschaften zu ihren Arbeitern, fallen, worauf sein Vorgänger Dupuy (30. Mai) wieder Ministerpräsi- dent wurde. Das Äußere übernahm der vortrefflich geschulte Diplomat Hanotaux (s. d.). Da wurde auf einer polit. Reise der Präsident Carnot zu Lyon [* 7] von dem ital. Anarchisten Caserio durch einen Messerstoh auf den Tod verwundet; er Gesamtbudget > 3 447 918 198 starb in der nachfolgenden Nacht. Die Reaktion gegen dies Verbrechen erhob 27. Juni mit einer frei- lich geringen Mehrheit (451 von 851 Stimmen) den eben gestürzten Casimir-Perier als den Vertreter einer konservativ-republikanischen Politik zum Prä- sidenten der Republik. Ein neues Gesetz gegen die anarchistische Propaganda gelangte darauf schon 26. Juli in der Kammer, 27. Juli im Senat zur Annahme, aber diese konservative Strömung war uicht stark genug, um fortwährende radikal-sociali- stische Angriffe gegen den »Monarchisten» Perier hintanzuhalten; überdies ging auch unter diesem vornehm und stolz denkenden Manne das stete In- triguenspiel der polit.
Persönlichkeiten weiter, wie denn auch der Panamaskandal seit seiner ersten Ent- faltung und vorläufigen Lösung 1893 immer wieder hier und dort hervorbrach oder verwandte Fortsetzun- gen auftauchten und stets die Unreinlichkeit und Wahllosigkeit der parlamentarischen Parteien und Führer auf das häßlichste an das Licht [* 8] kam. Im Jan. 1895 trat unter dem Einflüsse von Kammer- verhandlungen über die vom Staat geleistete Zins- garantie für die Orleans- und Südbahn erst der Arbeitsminister Barthou, dann am 14. das ganze Kabinett Dupuy zurück, am 15. legte Casimir-Pericr selbst sein Amt nieder. Er erklärte in einer stolzen, tiefverstimmten Botschaft, er wolle nicht längermacht- los, gegen Angriffe schutzlos und ohne wirklichen Ein- fluß für die Regierungshandlungen moralisch verant- wortlich sein; es bedürfe einer thatkräftigen Regie- rung, die Achtung vor dem Gesetze erzwinge.
Das Aufsehen war ungeheuer; doch hatte diese «Fahnenflucht» Casimir-Periers, wie ^eme Partei- genossen schalten, keine tiefern polit. Folgen; weder der Anarchismus und die gelegentlichen Triumphe des Socialismus noch diese Demonstration ver- mochten die Politik aus ihrer mittlern Richtung wesentlich nach rechts oder links abzuziehen. An Stelle Periers trat nach einem Wahlkampfe mit dem Radikalen Vrisson und nach dem Rücktritt des opportunistischen Mitbewerbers Waldeck-Rousscau der opportunistische Parlamenta- rier Felix Faure, der mit 435 gegen 363 Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, in jeder Hinsicht ein Angehöriger der regierenden großbürgerlichen Kreise, [* 9] der sich besser in die persönliche ¶
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losigkeit seiner Rolle fand als Perier, und dessen Be- streben auf leidlichen Ausgleich zwischen den mittlern und radikalern Elementen ausgeht. Denn unter ihm liefen die Parteischwankungen in alter Weise weiter. Sein erstes Kabinett bildete, nach vergeblichen Ver- suchen des Radikalen Bourgeois, Ribot, Hanotaur behielt das L'luhere. Das Ministe- rium betrieb eine Fortsetzung der Dezentralisation in der Verwaltung und trug im Juli in den General- ratswahlen gegen die Rechte wie gegen die äußerste ^inke einen neuen republikanischen Erfolg davon; es hielt gegen die Kirche den staatlichen Gedanken aufrecht und wies in einem großen Ausstande, den die Glasbläser im Oktober und November zu Car- maux veranstalteteu, die Ausschreitungen der Arbei- ter zurück.
Zwei Tage nach der Interpellation über diesen Ausstand, 28. Okt., wurde es gestürzt, indem es wieder in einer Südbahndebatte in der Minder- heit blieb. Dem unerwarteten Falle folgte, seit Jah- ren zum erstenmal, ein grundsätzlicher Wechsel in der Regierung. An die Stelle des nach innen doch ziemlich farblosen Kabinetts Ribot kam I.Nov. ein entschieden radikales unter Bourgeois, in dem Ca- vaignac die Kriegs- und Verthelot die auswärtige Verwaltuug übernahm. Das Programm Bourgeois' kehrte sich gegen die persönlichen Verbindungen der großen Gesellschaften mit dem Parlament, gegen die Monarchisten, aber auch gegen die Socialisten; den Panamaskandal brachte die endlich furchtlos und rücksichtslos durchgeführte Verhaftung des viel- beteiligten und mit Absicht lange vergebens verfolg- ten Agenten Arton wieder in Fluß, der von Eng- land ausgeliefert und zu achtjährigen: Gefängnis verurteilt wurde. In Earmaur suchte die Regie- ruug vergeblich zu vermitteln, die Ausständischen unterlagen.
Dann aber betonte Bourgeois den radikalen Charakter seiner Politik schärfer; eine Wendung nach links, zu allerlei Reformen, wie die einen, Umwälzungen, wie die andern meinten, zeigte sich an; ein progressives Einkommensteuer- Wem, das der franz. Überlieferuug widersprach und von rechts her der socialistischen Tendenz bezichtigt wurde, trat in die Mitte der öffentlichen Verhand- lungen. Die Opposition wurde lebhaft, und der ^enat besckritt schließlich den offenen Kriegspfad gegen das radikale Kabinett.
Nachdem er bereits am 11. und 17. Febr. dem Ministerium in der Südbabnange- legenheit ein Tadelsvotum ausgesprochen hatte, das Bourgeois ignorierte, erhob er sich zur Vertagung der für Madagaskar [* 11] geforderten Kre- dite bis zur Bildung eines neuen Ministeriums und erklärte die Verfassung für verletzt, da das Ministe- rium trotz der wiederholten Mihtranenstundgebun- geu der Ersten Kammer im Amt geblieben sei. Die Radikalen hatten längst eine Revision der Verfassung, die Beseitigung oder Einschränkung des Senats ge- fordert.
Dennoch wich Bourgeois 2.^. April vor ihm zurück, und nach dem vergeblichen Bestreben, ein Kon- zentrationskabinett zu bilden, übernahm am 28. Me- line die Leitung einer neuen, rein opportunistischen Regierung, der auch Hanotaur wieder angehört. Die Gegenwehr gegen Radikalismus und Socialismus ist der Entstehungsgrnnd und der Hwect dieses Mi- nisteriums. Bourgeois' Fall bedeutete den erneuerten Sieg der begüterten Mittelklassen, die ihre Sondcr- interessen uuabhängig und einseitig festbalten.
Die radikal-socialistische Opposition zögerte daher auck nicht mitchvenAngrisjen und guckte, allerdings obno Ersolg, durch mehrere Interpellationen über angeb- Brockhaus' Konversations-Lexikon. 14. Aufl.. XVII liche Begünstigung des Klerikalismus und über Personalverändernngen in der innern Verwaltung das Ministerium zu Fall zu bringen. Ernstere Schwierigkeiten erhoben sich für das Kabinett auf finanzpolit. Gebiet. Zwar ließ es das Projekt einer allgemeinen progressiven Einkommensteuer fallen, erkannte aber die Notwendigkeit einer durchgreifen- den Steuerreform, namentlich eine gerechtere Ver- teilung der Steuerlasten, an. Als jedoch der Finanz- minister Cochery mit einem Plan hervortrat, wo- nack zur Erleichterung des überbürdeten Immobi- liarbesitzes das Einkommen aus sranz.
Rente mit einer 4^ Prozentigen Steuer belegt werden sollte, stieß er von rechts und links auf Widerstand, so daß sich das Kabinett genötigt sah, 9. Juli die ganze Steuerreformvorlage zum Zweck einer Umarbeitung zurückzuziehen. Bot so die innere Politik ein oftmals wechselndes Bild, so ist die äußere im großen und ganzen von allen Regierungen ungefähr gleichartig geführt wor- den. Mit ihr im engen Zusammenhaug stehen Schutz- zoll und Kirchenpolitik. Der erstere wurde all diese Jahre hindurch mit Konsequenz aufrecht erhalten und fübrte lange Zeit mit der Schweiz [* 12] zu heftigem Zoll- kriege, der auch die allgemeinen polit.
Sympathien der beiden Nachbarn berührte, aber im Juli 1895 durch einen Handelsvertrag beigelegt wurde. Das Haupt der gegenwärtigen Regierung, MiÜine, ist der entschiedenste unter den franz. Schutzzöllnern und überzeugter Bimetallist. Die Kirchenpolitik war von der auswärtigen Politik stark beeinflußt: der Vatikan [* 13] hat, im Gegensatze zum Dreibund, die Franzosen und Russen unterstützt, bei deren gemeinsamen Festen seine Glückwünsche gespendet, der republikanischen Regierungsfonn andauernd beigestanden;
kleine Reibungen zwischen Staat und Kirche sind, als be- deutsame Symptome innerer Verschiedenheiten, zwar immer dazwischengetreten, baben aber das Verhält- nis nicht ernstlich gestört.
Beherrscht wurde alles durch das Verbältms zu Ruhland. Der Juni 1893 brackte einen franz.-russ. Handelsvertrag, der Oktober den Besuch eines russ. Geschwaders iu Toulon [* 14] und die Reise des Admirals Avellane und einer Anzahl von Offizieren nach Paris; warme Telegramme wur- den Mischen Zar und Präsident ausgetauscht. Der Tod Aleranders 111. (Nov. 1894) wurde von den Fran- zosen lebbaft betrauert. Unter Nikolaus II. scheint sich indessen kaum etwas verändert zu haben; vielmehr konnte das franz. Volk den langersehnten Triumph feiern, den Zaren auf franz. Boden zu begrüßen, und ihn, während er auf seiner Besuchsreise an den europ. Höfen mit seiner Gemahlin 5. bis in Frankreich weilte, mit glänzenden Festen und mit begeistertem Jubel zu empfangen.
Soweit man erkennen kann, bat die russ. Politik die der Frauzosen in der Hand, [* 15] zügclt auch etwaige chauviuistische Gelüste eher als daß sie sie beförderte; sie nutzt die Freundschaft aus, indem sie ibre Anleihen auf dem franz. Geldmarkte unterbringt. Dafür gewährt sie Frankreich eine feste Anleh- nung und eine selbstbewußtere Stellung in der Welt. Das ist unter allen Kabinetten dasselbe geblieben; nnr scheint es, als habe man in Petersburg [* 16] an radi- kalen Ministern weniger Gefallen als an gemäßigten, und als ziehe man den klugen und zuverlässigen Ha- notaur jedem andern vor. Unter dessen Verwaltung ist denn auch lnicht direkt durch ihn selber, der sich vor^ sichtiger ausdrückte, wohl aber durch deu Minister- präsidenten Ribot) im Sommer 1895 zum erstenmal offiziell von einer «Allianz» der beiden Mächte geredet 28 ¶