mehr
offenbaren; als Volkskunde mit den entsprechenden Überlebseln der Vorzeit bei den Kulturvölkern aus einer Periode, in welcher diese der primitiven Kulturstufe noch näher standen. R. Wagner hat einen weitern Hauptteil der Ethnologie als historische Anthropologie. bezeichnet: Ergründung des ethnolog. Zusammenhangs, der zwischen den Völkern des Altertums unter sich und den jetzt lebenden Völkern besteht. Die historische Anthropologie. unterliegt großen Schwierigkeiten. Infolge der wiederholten, zum Teil in die graue Vorzeit fallenden, geschichtlich nur unsicher oder gar nicht verbürgten Wanderungen der Völker, durch ihr abwechselndes Verschwinden und späteres Wiederauftauchen an entfernten Orten und unter veränderter Gestalt, findet sich hier ein so kompliziertes Durcheinanderwirken der Erscheinungen, es gilt so verdeckte und oft verwischte Beziehungen aufzudecken, daß die Ergebnisse der Untersuchung oft unsicher sind.
Die Hilfsmittel sind hier neben der naturhistor. Kenntnis der lebenden Völker die Geschichtsforschung, namentlich die Urgeschichte. Ein wichtiges, doch oftmals trügerisches Zeichen für die Abstammung und den Zusammenhang der verschiedenen Völker ist die Sprache [* 2] (s. Sprachwissenschaft, Bd. 15). Gleichheit oder Verwandtschaft derselben berechtigt keineswegs ohne weiteres zum Schlusse auf gleiche Abstammung. Oft haben besiegte Völker die Sprache der Sieger oder auch die Sieger die Sprache der Besiegten angenommen.
Die Anthropologie. hat in neuerer Zeit große Fortschritte gemacht. Nachdem sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh., angeregt durch die Erneuerung der Zoologie durch Linné, Cuvier u. a., durch Peter Camper, Sömmerring und ganz vorzüglich durch Blumenbach begründet worden war, hatte sie in der Folge durch Morton, Retzius, Meigs, C. G. Carus, van der Hoeven, Huschke, Owen, Virchow u. a. viele Bereicherung gewonnen. Am Ende des vorigen Jahrhunderts waren es einerseits die großartigen geogr.-ethnogr.
Entdeckungen, namentlich in der Südsee, und der schon damals lebhaft geführte Streit um die volle Menschenwürde der farbigen Sklaven, namentlich der «Neger», andererseits die nähere Bekanntschaft mit den zwar schon längst entdeckten, aber bis dahin von zahllosen Mythen umwobenen menschenähnlichen Affen: [* 3] Orang-Utan und Schimpanse, wodurch die Anregung zur Entwicklung der Anthropologie. zu einer eigenen wissenschaftlichen Disciplin gegeben wurde. Ganz ähnlich war es um die Mitte unsers Jahrhunderts wieder das blutige Ringen um die Emancipation der Schwarzen zwischen Norden [* 4] und Süden der Vereinigten Staaten [* 5] von Amerika [* 6] und fast gleichzeitig die Entdeckung eines neuen und zwar bis dahin menschenähnlichsten Anthropoiden, des Gorilla, die der Anthropologie. neue Anregung gaben.
Dazu kam bald die Konstatierung des so lange vergeblich gesuchten Diluvialmenschen in Europa [* 7] und die Entdeckung der Pfahlbauten, [* 8] zuerst in den Schweizer Seen, auf denen sich, im Anschluß an die ältern vorgeschichtlichen Untersuchungen und Funde namentlich im Norden Europas, unter der Einwirkung des durch Lyell hervorgerufenen Umschwungs der geolog. Anschauungen und nicht ohne Hinblick auf die Theorie Darwins, als neue anthropol. Abteilung die Urgeschichte der Menschheit, die Prähistorie, ausbildete.
An der Wende unsers Jahrhunderts hat die dritte Abteilung der Anthropologie., die Völkerkunde, durch Erschließung der letzten Geheimnisse der Kontinente und Inseln und durch Ausbildung der Ethnographie [* 9] zur Ethnologie, zur Wissenschaft von den Völkern der Erde und zur Völkerpsychologie, durch Anthropologie. Bastian die größten Fortschritte gemacht. Und schon ist wieder der Wissenschaft ein neuer, leider ausgestorbener, menschengroßer, nach Virchow zu den Langarmaffen (Hylobates) gehöriger Anthropoide signalisiert, von dem E. Dubois 1894 in Java, freilich noch recht spärliche Skelettreste (einen Teil eines Schädeldachs, einen krankhaft veränderten Oberschenkel, zwei Backzähne) in diluvialen Schichten aufgefunden und mit dem Namen Anthropithecus (Pithecanthropus) erectus Haeckel bezeichnet hat. Der Einfluß auf die Weiterausbildung der Anthropologie. kann nicht ausbleiben. Nach der Erneuerung der Anthropologie. wurden die Studien namentlich durch die neugegründeten anthropol. und ethnolog. Gesellschaften, von denen die in Paris [* 10] und London [* 11] die ersten waren, zusammengefaßt.
Um das J. 1860 begann in Deutschland [* 12] eine erhöhte Thätigkeit in diesem Fache. 1869 wurde die Berliner, [* 13] wenig später die Münchener und Wiener Gesellschaft für Anthropologie., Ethnologie und Urgeschichte begründet, und schon 1870 folgte die Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Anthropologie., Ethnologie und Urgeschichte, welche durch ihre alljährlich abgehaltenen Wanderversammlungen das Interesse für die Anthropologie. über das ganze Deutschland ausgebreitet und eine große Anzahl von höchst rührigen Lokalvereinen ins Leben gerufen hat.
Der internationale Verkehr der Anthropologen wird durch die in mehrjährigen Zwischenräumen stattfindende Abhaltung eines Congrès international d’Anthropologie et d’Archéologie préhistoriques unterhalten. Die Anthropologie. hat seit 1886 in München [* 14] einen ordentlichen Lehrstuhl an der Universität (Inhaber Joh. Ranke); mit der Errichtung von Lehrstühlen waren die Universitäten Paris, Florenz, [* 15] Budapest [* 16] vorausgegangen, neuerdings folgte Rom. [* 17] Als Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie. erscheint seit 1869 die von Anthropologie. Bastian und R. Hartmann begründete, jetzt von ersterm mit Virchow und Voß redigierte «Zeitschrift für Ethnologie», als Organ der Deutschen Gesellschaft wurde das bereits 1861 von Ecker und Lindenschmit begründete «Archiv für Anthropologie.» (jetzt hg. von Ranke) übernommen; seit 1877 veröffentlicht die Münchener Anthropologische Gesellschaft (unter der Redaktion von Ranke und Rüdinger) «Beiträge zur und Urgeschichte Bayerns», die Wiener Anthropologische Gesellschaft seit 1878 «Mitteilungen»; seit 1896 erscheint in Breslau [* 18] ein «Centralblatt für Anthropologie., Ethnologie und Urgeschichte», hg. von G. Buschan.
Außer den genannten deutschen Zeitschriften sind als Centralorgane der Anthropologie. zu erwähnen: «The Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland» (Lond. 1872);
«L’Anthropologie» (Par. 1890);
«Bulletins de la Société d’Anthropologie de Paris» (seit 1859);
«Archivio per l’Antropologia e la Etnologia» (Florenz, seit 1871);
«Bulletino di Paletnologia ^[korrekt: Palentologia] italiana» (Parma, [* 19] seit 1875);
«The American Anthropologist» (Washington, [* 20] seit 1888);
«A Journal of American Ethnology and Archæology» (Boston [* 21] und Neuyork [* 22] 1892);
«The American Antiquarian and Oriental Journal» (Chicago, seit 1878) u. a. -
Von Rankes Werk «Der Mensch» erschien 1893-94 die 2. Auflage.
Die anatom.-anthropol. Fragen, die sog. somatische Anthropologie., behandelt umfassend P. Topinard in den «Éléments d’anthropologie générale» (Par. 1885).