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dem westl. Rußland sind sie erst 1501 urkundlich nachweisbar, in England seit Mitte des 15. Jahrh., in Schottland 1506, im Baskenlande 1538; nach Schweden kamen sie 1512. Mit diesen histor. Thatsachen stimmen die linguistischen Ergebnisse vollkommen überein. Sämtliche Zigeunerdialekte Europas enthalten in reichem Maße griech. Worte, ja, die griech. Sprache hat auf sie in einer Weise eingewirkt, wie es sich nur aus einem sehr langen Aufenthalt in Griechenland erklären läßt. Außer griech. Elementen enthalten alle europ. Dialekte auch andere fremde, d. h. nichtindische. Man kann daraus entnehmen, welches der Weg gewesen ist, den sie bei ihrer Wanderung eingeschlagen haben.
Aus den Ländern des Hindukusch zogen sie nach Persien, von dort durch Kurdistan nördlich nach Armenien, wo sie lange gesessen haben. Von Armenien zogen sie westlich durch Kleinasien hindurch nach den griech. Inseln, vor allem nach Kreta, von dort nach dem Peloponnes, wo sie jahrhundertelang gesessen haben müssen. Nach der europ. Türkei sind sie erst von Griechenland aus eingewandert. Von Griechenland zogen sie sodann durch Albanien, Serbien östlich nach der Walachei und Moldau, dem heutigen Rumänien, von der Walachei aus kamen sie nach Ungarn, von dort nach Deutschland.
Auf Grund der Sprache hat Miklosich die Zigeuner Europas in 13 Gruppen geteilt: 1) griechische, 2) rumänische, 3) ungarische, 4) mährisch-böhmische, 5) deutsche, 6) polnisch-litauische, 7) russische, 8) finnische, 9) skandinavische, 10) italienische, 11) baskische, 12) englisch-schottische, 13) spanische. Griechische Zigeuner nennt Miklosich die in der europ. Türkei lebenden. Ihre Zahl wird auf etwa 67000 (mit Bulgarien und Ostrumelien 117000), von andern aber auf 214000 angegeben; noch unsicherer ist die Schätzung der Zigeuner der asiat. Türkei, die zwischen etwa 40000 und 200000 schwankt. Die türkischen Zigeuner teilen sich in Nomaden, unter denen die wildesten und ursprünglichsten die Zapari sind, und seßhafte Zigeuner. Diese beiden Klassen sind in Sprache und Sitten weit voneinander verschieden. Die seßhaften sind, außer den in Konstantinopel selbst sitzenden, meist Christen, die Nomaden Mohammedaner. In Konstantinopel selbst sind nur etwa 140 Familien ansässig, die meist Mohammedaner sind und ihre Muttersprache fast ganz vergessen haben. Anderswo sitzen sie zahlreicher, wie z. B. das Dorf Hebibdsche bei Adrianopel fast ausschließlich von Zigeuner bevölkert ist. Zu den rumänischen Zigeuner gehören sprachlich auch ein Teil der serbischen, ferner die in Belgorod im Depart. Kursk in Großrußland angesiedelten und die bei Taganrog am Asowschen Meer. In der Moldau und Walachei waren sie bis 1856 leibeigene, teils der Krone, teils der Klöster und von Privaten. Die Zahl der Zigeuner in Rumänien ist etwa 250000, in Serbien 34000, in Bosnien und der Herzegowina 14000. Am besten bekannt sind die ungarischen Zigeuner. Während in Eisleithamen nur etwa 16000 leben sollen, wurden 1893 in Ungarn 274940 Zigeuner gezählt, darunter 243432 ansässige, 20406 zeitweilig ansässige und 8938 Wanderzigeuner. Nach der Volkszählung von 1890 sprachen 91603 Personen die Zigeunersprache. Für Böhmen uud Mähren wird die Zahl der Zigeuner auf 13500 angegeben, für Deutschland auf etwa 2000, ebenso für Frankreich, für Spanien auf 40000, für Italien auf 32000, für Rußland auf 58000 (sowie 15000 in Polen). Ganz unsicber sind die Zählungen in andern Ländern. Insgesamt wird die Zahl der europäischen Zigeuner von Cora auf 779000 berechnet. Sehr zahlreich sind sie noch in Persien, ebenso in Nordafrika und Kleinasien. Auch in Amerika begegnet man ihren wandernden Zügen.
Ethnographisches. Der Zigeuner ist in der Regel von mittlerer Gestalt, fast stets wohlgebaut, schlank, mit kräftigen, muskulösen Gliedern. Die Farbe der Haut ist braungelb, das Haar dicht und schwarz. Die Frauen sind in ihrer Jugend oft von angenehmem Äußern, stehen aber in der Regel hinter den Männern zurück und altern ungemein schnell. Männer und Frauen haben blendendweiße Zähne; vor allem aber zeichnet sie das große schöne Auge mit den langen, schwarzen Wimpern aus, das auch bei Stämmen der Darden sich findet. Die Wohnung ist in der Regel ein elendes Zelt, das der Zigeuner überall mit sich führt. Andere, wie ein Teil der ansässigen Zigeuner in Siebenbürgen, bauen sich eine Art Wohnung unter der Erde, oft bis 12 Fuß tief, deren Ausstattung eine höchst primitive ist. Der wahre Zigeuner bleibt überhaupt nur im Winter in einer solchen Wohnung, namentlich bei Wind, den er als seinen schlimmsten Feind ansieht. Im Frühling geht das Wanderleben wieder an und das Zelt tritt wieder in sein Recht. Unentbehrlich ist dem echten Zigeuner ein Pferd, an dessen Stelle in der Türkei und Italien oft der Esel tritt. Größere Banden führen fast immer einen Wagen bei sich, der nicht selten zur Wohnung und Küche eingerichtet ist. Als Luxusgegenstand sucht jeder Zigeuner einen silbernen Trinkbecher zu erwerben, der als Erbstück in der Familie bleibt und in besonderer Ehre gehalten wird. Diejenigen, die Schmiede sind, besitzen außerdem noch einen Blasebalg, einen Amboß, der meist aus Stein ist, eine Zange und ein paar Hämmer. Als Farbe der Kleidung liebt der ungarische Zigeuner Rot, daneben Grün, und Grün ist auch die Lieblingsfarbc der deutschen und war in ältern Zeiten die der englischen. Für den deutscben Zigeuner ist Grün das Zeichen der Makellosigkeit und Unbescholtenheit. Die spanischen Zigeuner haben wesentlich dieselbe Tracht wie die Pferde- und Maultierhändler von Andalusien, mit denen sie auch das Geschäft gemeinsam haben.
In der Wahl der Nahrung ist der Zigeuner nicht heikel. Am liebsten ißt er recht fettes Fleisch, besonders Schweinefleisch, und vor allem den Igel, das Nationalgericht. Pferdefleisch verschmäht er im allgemeinen, nimmt aber keinen Anstand sogar Aas zu essen. Von Getränken liebt er am meisten den Branntwein. Er ist auch ein leidenschaftlicher Verehrer des Tabaks in allen Gestalten. Man hat die Zigeuner auch, jedoch mit Unrecht, beschuldigt Menschenfleisch zu essen. Ebenso ist der professionsmäßige Kinderraub der Zigeuner ein Märchen. In Wahrheit sind nur äußerst wenige Fälle von Kinderraub einigermaßen bezeugt.
Die Zigeuner haben eine eigene polit. Verfassung. Sie selbst nennen ihr Haupt raj (d.i. das alte Sanskritwort raja [spr. radscha], das «König» bedeutet). Die deutschen Zigeuner zerfallen nach Liebich in drei Landsmannschaften, von denen jede ihren eigenen Hauptmann hat: die altpreußische, die sich besonders in Schlesien und Posen herumtreibt, die neupreußische uud die hannoveranische. Jede hat ihre eigenen Farben und ihren eigenen heiligen Baum. Die Altpreußen tragen Schwarz-Weiß und ihr heiliger Baum ist die Tanne oder der Hagebuttenstrauch, die Neupreußen tragen Grün-Weiß und verehren die Birke, die Hannoveraner tragen Schwarz-Blau-Gold und
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halten den Maulbeerbaum heilig. Ihr Wappen, ein Igel, trägt je nach der Landsmannschaft ein Reis oder Blatt des heiligen Baumes im Maule. Der Hauptmann wird auf Lebenszeit von allen erwachsenen männlichen Zigeuner gewählt, die unbescholten sind, und dieser Wahlakt ist überall ein Fest und namentlich in Deutschland sehr feierlich. In Ungarn steht an der Spitze des Stammes der Woiwode, unter dem in Transsilvanien eine Reihe von Vorstehern kleinerer Genossenschaften (mahliya), die Schaibidschos, stehen. Der Woiwode ist wie der Hauptmann in Deutschland und bei den nordischen Zigeuner der Bevollmächtigte des Stammes und war früher auch Richter mit ausgedehnten Befugnissen, die jetzt sehr beschränkt sind. Nicht damit zu verwechseln sind die Woiwoden, die von der Regierung den ansässigen Zigeuner gegeben und aus der Zahl der ungar. Edelleute genommen wurden. Sie bestanden bis 1648. Auch in Polen war das Amt eines Zigeunerkönigs (krolewskwo cyganskie) in den Händen der Edelleute, die die Zigeuner auf das härteste bedrückten. Der letzte «unechte» Zigeunerkönig der poln.-litauischen Zigeuner starb 1790. Ebenso gab es auf Korfu erbliche Barone des Zigeunerlehns, und in Syrien ist das Oberhaupt der Zigeuner, der Aghet en-Nowwer, der in Damaskus residiert, nach Wetzstein nicht selten ein heruntergekommener Damascener aus guter Familie. Daneben aber hatten die Zigeuner auch hier wie in allen andern Ländern Führer aus ihrem eigenen Stamme. Sehr lange haben sich diese in England und Schottland gehalten. Innerhalb der einzelnen Familie ist der Familienvater unumschränkter Herrscher. Über ihm steht aber noch die Zigeunermutter (puri daj - alte Mutter, Großmutter), das älteste Weib der Bande. Ihr wird mit der größten Ehrfurcht begegnet; auf der Reise wird ihr alle mögliche Bequemlichkeit verschafft, und ihr Rat ist stets ausschlaggebend. Das ist um so merkwürdiger, als die Frau sonst bei den Zigeuner durchaus nicht angesehen ist, ja sogar für unrein gilt. Die Zigeuner heiraten sehr früh; die Mädchen sind bei der Hochzeit gewöhnlich 14-16 J. alt, die Männer wenig älter. Fast überall wird die Hochzeit mit großem Lärm, unmäßigem Essen und Trinken gefeiert. Die Ehe ist leicht löslich; es genügt eine Anzeige bei dem Hauptmann, daß man sich trennen wolle. Die Ehe ist meist mit vielen Kindern gesegnet. Der Zigeuner läßt sie gern taufen, möglichst oft an verschiedenen Orten, um Patengeschenke berauszuschlagen. Aus praktischen Gründen läßt er jetzt auch seine Ebe meist kirchlich einsegnen. In früherer Zeit war es allgemeine Sitte, daß alte lebensmüde Zigeuner lebendig begraben wurden oder freiwillig einen andern Tod wählten. Der Tod eines Mitglieds erfüllt die ganze Bande mit tiefer Trauer, die sich in lauten Wehklagen äußert. Die Verehrung der Toten ist ein Zug, der sich bei den Zigeuner aller Länder findet. Echte Religion besitzt der Zigeuner nicht. Er führt zwar beständig den Namen Gottes im Munde; wenn ihm aber ein Unglück geschieht, überhäuft er Gott mit Schimpfworten. Für seinen Spürsinn spricht die Erfindung eines Systems bestimmter Zeichen (patrin), die den einzelnen Banden als Wegweiser dienen. Fremde Sprachen lernen die Zigeuner leicht sprechen.
Aus ihrem Wanderleben erklärt es sich auch, daß sie trotz ihrer Anlagen in Kunst und Wissenschaft nichts geleistet haben. Der ital. Maler Antonio Solaro, mit dem Beinamen Il Zingaro, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrh. lebte, soll ein Zigeuner gewesen sein, ebenso der berühmte engl. Theosoph John Bunyan (gest. 1688); aber beides ist ganz unsicher. Unter den Originaldichtungen der Zigeuner sind sehr wenige von einigem dichterischem Wert. Weitaus die meisten sind roh und formlos. Nur in einer Kunst leisten die Zigeuner wirklich etwas Hervorragendes: in der Musik. Diese Kunst hat der Zigeuner mit aus seiner Heimat gebracht. Die ihm am nächsten verwandten ind. Völker, die Darden und Kafirs, lieben Tanz und Musik leidenschaftlich, und die Melodien, die noch heute an ind. Fürstenhöfen von einheimischen Künstlern vorgetragen werden, gleichen genau den ungar. Csardas, wie Bühler nach eigener Erfahrung berichtet. Franz Liszt hat in seiner Schrift «Des Bohemiens et de leur musique en Hongrie» (Par. 1859; deutsch von Cornelius, Pest 1861, und von Ramann, Lpz. 1883) zu zeigen versucht, daß die ungar. Musik und die Nationaltänze der Ungarn in Wirklichkeit zigeunerisch sind und Zigeuner ihren Ursprung verdanken, eine Ansicht, die in Ungarn große Entrüstung erregte und eine Flut von Gegenschriften hervorrief. Bühlers bestimmtes Zeugnis entscheidet die Frage zu Gunsten von Liszt, trotz der in neuerer Zeit von Thewrewk de Ponor (im «Journal of the Gypsy Lore Society», Bd. 1, S. 313 fg.) vorgebrachten Gründe. Besonders musikalisch sind die ungar. und rumänischen Zigeuner. Das Lieblingsinstrument des Zigeuner ist die Geige, mit der schon Kinder von 6 bis 7 Jahren geschickt umzugehen wissen. Die Zigeunermusik ist wild und hinreißend, unter Umständen aber auch zart und wehmütig. Der Zigeuner spielt durchweg nach dem Gehör, am besten Nationallieder. Außer der Geige spielt er auch die Harfe und die Ziehharmonika; er rührt die Trommel und das Tamburin und bläst Trompete, Waldhorn, Flöte und Klarinette. Außerdem sind die Zigeuner vorzügliche Tänzer und Tänzerinnen; die spanischen Zigeuner sind deswegen ebenso berühmt wie die ungarischen wegen der Musik. Ferner führen sie oft Marionettentheater mit sich. Von Handwerken treiben die Zigeuner mit Vorliebe das Schmiede- und Schlosserhandwerk. Trotz ihrer unvollkommenen Werkzeuge verfertigen sie kleinere Arbeiten, wie Nägel, Ringe, Messer, Nadeln u. dgl., nicht ohne Geschick, vermeiden aber jede schwere Sckmiedearbeit. Sie besitzen ferner große Geschicklichkeit in der Anfertigung von Drahtgeflechten aller Art, von Sieben und Mausefallen, Ketten und Vogelkäfigen. Ebenso sind sie gewandt in Holzschnitzereien. Sie verfertigen hölzerne Löffel, Teller, Schüsseln, Becher, schneiden Stöcke, Tabakpfeifen, Zigarrenspitzen u. dgl. Nicht selten sind sie auch Scherenschleifer, Besenbinder und Kammerjäger. Am liebsten treibt der Zigeuner Geschäfte, bei denen er seine Kunst zu betrügen zeigen kann. Eine gute Gelegenbeit dazu bietet ibm der Pferdehandel, den daher die Zigeuner aller Länder mit Vorliebe pflegen, in Ungarn sogar im Großen. Der Zigeuner ist ein äußerst geschickter Roßtäuscher. Auch als Tierarzt tritt er auf, besonders im Norden, wobei auch Beschwörungsformeln eine Rolle spielen. Die Zigeunerinnen treiben die Kunst der Wahrsagung, meist aus den Linien der Hand, seltener mit Karten.
Die Geschichte der Zigeuner ist eine Geschichte menschlichen Elends und menschlicher Roheit. Zahllos sind die Edikte, die in aller Herren Länder gegen sie erlassen worden sind, und grausam die Verfolgungen, denen sie ansgesetzt waren. Versuche, größere Massen mit Güte oder Gewalt anzusiedeln, sind stets gescheitert. Die bekanntesten sind die Versuche, die in den J.1761-83 Maria Theresia und Joseph II. in Ungarn und 1830 der evang. Missions-Hilfsverein