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gaben immer nur provisorisch oder gar nicht. So entstand, da der Prinz nicht nachgab und die Re- organisation zur vollendeten Thatsache machte, ein mehrjähriger Konflikt zwischen Regierung nnd Kammer. Inzwischen war Friedrich Wilhelm IV. gestorben; Wilhelm I. bestieg den Thron [* 2] und hob bei seiner Krönung in Königsberg [* 3] gemäß seiner stets festgehaltenen Überzeugung, das «König- tum von Gottes Gnaden» scharf hervor. Das Attentat des Studenten Oskar Becker, der den König in Baden-Baden [* 4] durch einen Pisto- lenschuß leicht verwundete, zeigte den starken Haß der revolutionären Elemente gegen Wilhelm I.. Der Ver- fassungskonflikt spitzte sich 1862 dermaßen zu, daß die Minister ohne ein Nachgeben des Königs die Geschäfte nicht weiter führen zu können glaubten.
Davon aber, daß der König sein eigenes Werk gegen seine bessere Überzeugung wieder rückgängig machte, war bei seiner Charakterfestigkeit keine Rede. Er war schon bereit, lieber abzudanken, als ihn die ent- schiedene Erklärung Bismarcks, der zur Übernahme der Geschäfte nach Berlin [* 5] berufen worden war, daß er den Kampf mit der Mehrheit des Abgeordneten- hauses durchführen werde, wieder aufrichtete. Nach der Ernennung Bismarcks zum Vorsitzenden des Staatsministeriums und zum Minister des Auswär- tigen verschärfte sich zwar der innere Konflikt, aber die deutfche Politik W.s nahm immer deutlichere Um- risse an. Es folgte die Ablehnung der Teilnahme an dem Frankfurter Fürstenkongreß 1863 seitens W.s, die Verwerfung des österr.
Reformprojekts und die Eröffnung des Deutsch-Dänischen Krieges von 1864. Der Beschluß der Bundesversammlung vom 14. Juni 1866 auf Mobilmachung des Bundesheeres mit Aus- nahme der preuß. Kontingente machte den schon mehr- mals hinausgeschobenen Bruch mit Osterreich un- widerruflich. Der Krieg begann. König Wilhelm I. übernahm 2. Juli in Iiein den Oberbefehl uuo siegte 3. Juli bei Königgrätz. [* 6] Nach Abschluß der Friedensprälimi- narien von Nikolsburg traf er 4. Aug. wieder in Berlin ein.
Der Konflikt mit der neu gewählten Kammer wurde durch die Indemnitätsvorlage ge- löst, der Friede zwischen König und Volk wieder- hergestellt. Die Verfassung des Norddeutschen Bun- des vom 24. Juni 1867'gab Wilhelm I. das Präsidium desselben und damit die militär. und polit. Führung der norddeutschen Staaten; durch Allianzverträge mit den süddeutschen Fürsten erhielt er auch deu Oberbefehl über die süddeutschen Kontingente. Im Juli 1870 tauchte die hohenzollernsche Thron- kandidatur auf.
Die Kriegslust der bonapartistisch- klerikalen Partei in Frankreich, die Zumutungen des franz. Kabinetts und des franz. Gesandten Benedetti im Bad [* 7] Ems [* 8] (i). bis 14. Juli) an König Wilhelm I. machten diesem die Erhaltung des Friedens un- möglich. Am 19. Juli, dem Tage der Überreichung der franz. Kriegserklärung, erneuerte er die Stiftung des Eisernen Kreuzes. Am 31. Juli reiste er, indem er gleichzeitig eine Amnestie für polit. Verbrechen erlieh, von Berlin ab und übernahm in Mainz [* 9] 2. Aug. den Oberbefehl über die gesamte deutsche Armee. Am 11. Aug. überschritt er die franz. Grenze, befehligte persönlich in den Schlachten [* 10] bei Grave- lotte (18. Aug.) und bei Scdan (1. Sept.) und hatte mit Napoleon III. eine kurze Unterredung in dem Schlößchen Vellevue (2. Sept.). Vom bis hatte er sein Hauptquartier in Ver- sailles. Die feierliche Proklamierung des Deutschen Reichs fand in dem Spiegelfaale des Versailler Scklosses statt. In der bei dieser Feier verlesenen Proklamation «An das deutsche Volk» nahm König Wilhelm I. auf den einmütigen Ruf der deutschen Fürsten und Freien Städte für sich und seine Nachfolger an der Krone Preußen [* 11] die deutsche Kaiserwürde an, im Gedanken, «allzeit Mehrcr des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Er- oberungen, sondern an Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung». Am 2. März unterzeichnete er den Präliminar- frieden und traf 17. März wieder in Berlin ein. Er eröffnete 21. März den ersten Deutschen Reichs- tag und hielt 16. Juni an der Spitze seiner sieg- reichen Truppen den glänzendsten Einzug in Berlin. Mit nicht leichtem Herzen ging er in den ersten Friedensjahren nun in einen neuen schweren im uern Kampf gegen die klerikale Partei. Entschie- den würdevoll wies er Zumutungen des Papstes Pius IX., die einen Eingriff in seine religiösen Über- zeugungen bedeuteten, zurück, in dem Schreiben vom Dem neuen Papst Leo XIII., welcher Friedeusverhandlungen einleitete, antwortete er und (in seinem Namen) der Kron- prinz daß ein wahrer Friede nur auf Grundlage der Anerkennung der Staatsgesetze seitens der kath. Geistlichkeit möglich sei, daß aber auch er bereit sei, friedliebend und versöhnlich nach einem Ausgleich zu streben.
Der Sicherung des äußern Friedens diente nicht in letzter Linie das Ansehen, welckes Kaiser Wilhelm I. selbst im Auslande genoß, und die intimen Beziehungen, die er mit den mächtigsten auswärtigen Monarchen unterhielt. Bei seiner Zusammenkunft mit dem Kaiser Franz Joseph von Osterreich in Ischl [* 12] und Salzburg [* 13] 1871 wurde die Feindschaft von 1866 bei- gelegt und die alte Freundschaft erneuert. Durch die Dreikaiserzusammeukunft in Berlin 5. bis (s. Dreikaiserbund) wurde die Übereinstimmung der drei Monarchen von Preußen, Österreich [* 14] und Rußlaud in allen großen Fragen der Politik kon- statiert und die leitenden Grundsätze für die Zukunft festgestellt. An diese Zusammenkunft knüpften sich 1873 Besuche des Kaisers Wilhelm I. in Petersburg [* 15] und in Wien [* 16] und des Königs von Italien [* 17] in Berlin.
Den Besuch des letztern erwiderte Kaiser Wilhelm I. in Mailand. [* 18] Daß der Russisch-Türkische Krieg von 1877 und 1878 nicht zu eiuem russ.-engl. Kon- flikt, sondern zum Berliner [* 19] Friedensvertrag vom führte, war wesentlich den Vermitte- lungsbemühungen W.s zu verdanken. Den innern Angelegenheiten des Reichs, den Verhandlungen des Reichstags und preuß. Land- tags schenkte er die lebhafteste Aufmerksamkeit. Auch beteiligte er sich regelmäßig an den jährlichen Truppenmanöveru in Nord- und Süddeutschland.
Bei W.s persönlicher Liebenswürdigkeit, Bescheiden- heit und Pflichttreue rief es um so größere Ent- rüstung hervor, als der Klempnerge- sellc Max Hödcl, genannt Lchmann, in Berlin zwei Revolverschüsse auf den Kaiser abfeuerte. Der Kaifer blieb unverletzt, der Thäter wurde ergriffen und 16. Aug. enthauptet. Kurz darauf, 2. Juni, wurden aus einem Fenster des zweiten Stockwerkes des Hau- ses Nr. 18 Unter den Linden abermals zwei Schüsse auf den Kaiser abgefeuert und dieser durch mehrere Schrotkörner und Rehposten im Gesicht, [* 20] an den Armen und an andern Körperteilen verwundet. Der ¶