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Das älteste erhaltene deutsche Volkslied
ist das Hildebrandslied (s. d.),
das schon seine springende
Darstellung als rechtes Volkslied
erweist.
Daß es auch volks
tümliche Liebeslieder gab, wäre nicht zu
bezweifeln, auch wenn uns nicht der erhaltene
Name «winileod» ihre Existenz seit dem 8. Jahrh.
verbürgte. Später drangen aus den Versen der
Vaganten (s. d.), die oft auch deutsche Lieder in ihrem
Repertoire gehabt haben, Lieblingsgattungen dieser Studentenpoesie, namentlich das Kneiplied und der poet. Wettgesang in
die deutsche Volks
dichtung ein.
Als mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. in hölfisch-ritterlichen
Kreisen zum erstenmal eine weltliche Kunstpoesie in deutscher
Sprache
[* 2] aufkam, schloß sich diese trotz aller roman. Einflüsse in
ihren schönsten Erzeugnissen an das lebendige deutsche an. Dem
Nibelungenlied, der Gudrun und andern Epen aus der deutschen
Heldensage liegen alte epische Volkslied
zu
Grunde. Die ältesten einstrophigen Lieder des bayr.-österr.
Minnesangs, die teils anonym,
teils unter dem
Namen des Kürenbergers, Dietmars von Aist u. a. erhalten sind, zeigen
in ihrer köstlichen Einfachheit und Natürlichkeit überraschende Anklänge an die noch heute in jenen Gegenden blühenden
improvisierten Schnadahüpfl.
Die einstrophigen, meist lehrhaften
Sprüche unter Spervogels
Namen geben ein
Bild der volks
tümlichen Gnomik. Mehrstrophige
Volkslied
wurden wohl meist zum Tanz gesungen; unter den Gedichten
Gottfrieds von Neifen sind einige einfache
Balladen dieser Art erhalten; aber auch die Lieder Neidharts, die Tanzleiche
Tannhäusers,
Ulrichs von Winterstetten u. a. lassen
den Charakter der volks
mäßigen Tanzpoesie durchschimmern. Seine
Beziehungen zur Natur schöpfte der
Minnesang aus dem Volkslied
Walthers
schönste Lieder sind in Anlehnung an das Volkslied
, freilich mit der technischen Meisterschaft reifster
Kunst gedichtet.
Als um 1300 das Kunstinteresse des Adels verschwand und der philiströse Meistergesang (s. d.) das Erbe der höfischen Kunstdichtung antrat, da konzentriert sich das eigentliche poet. Leben der gesamten Nation im V., das im 14. und 15. Jahrh. seine höchste Blüte [* 3] erreicht. Es wirkt zwar unbeholfen und roh, aber dafür entschädigt seine naive Ursprünglichkeit und sein stofflicher Reichtum. Im 14. Jahrh. berichtet uns die wertvolle Limburger Chronik, welch eine Fülle kurzer neuer Lieder aufkam und sich schnell verbreitete.
Sehr wesentlich waren dabei die Melodien, die man meist nach dem
Inhalt des Gedichts, für das sie zuerst verwendet waren,
benannte; besonders beliebt waren der Hildebrandston, auf den man das umgearbeitete Hildebrandslied sang,
der
Herzog-Ernst-Ton, die
Berner
Weise, die ursprünglich in Liedern von Dietrich von Bern
[* 4] üblich war; dann der Benzenauer, der
Bruder-Veits-Ton, ein altes Landsknechtslied, der
Bruder
Claus, der Papierton, der
Ton vom Schuttensamen, vom Lindenschmied,
der Wisbeckenton, der von Wilhelm von Nassau u. s. w. Die Beliebtheit
dieser
Weisen war so allmächtig, daß die geistlichen Lieder der Zeit, um populär zu werden, sich gern an die Melodie und
oft parodisch auch an die Anfangsworte sehr weltlicher Volkslied
anschlossen; so sang man weltlich
«Innsbruck,
[* 5] ich muß dich lassen»,
geistlich «O Welt, ich muß dich lassen»; weltlich
«Den liebsten
Buhlen, den ich han, der liegt beim Wirt im
Keller», geistlich «Den liebsten
Buhlen, den ich han, der ist in Himmels
Throne». Noch das prot.
Kirchenlied konnte sich von diesem Brauch nicht
losmachen; es erschienen im 16. Jahrh.
ganze Sammlungen solcher geistlicher «Gassenbauer, Reiter-
und Bergliedlein».
Übergroß war die Mannigfaltigkeit des Inhalts. Die Heldensage lebte in Bänkelsängerliedern fort. Novellenstoffe des Mittelalters behandelten die Lieder vom Bremberger, vom Möringer, vom Tannhäuser, vom Grafen von Rom; [* 6] der Ulinger erzählt das Blaubartmärchen. Lieblingshelden des Volkslied sind kecke Strauchdiebe und Stegreifritter, wie Eppelein von Geilingen, der Lindenschmied, der Schuttensamen, der Raumensattel, Albrecht von Rosenburg und der arme Schwartenhals.
Historische Volkslied begleiten die polit. Ereignisse, die Freiheitskämpfe der Schweizer und Ditmarschen, Maximilians Werbung um das Fräulein von Bretagne, die Thaten Sickingens und Frundsbergs und dauern bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges fort, gern illustriert auf fliegenden Blättern verbreitet. Oft nennt sich in der letzten Strophe der Landsknecht- und Reiterlieder ein «frummer Landsknecht» als Verfasser. Den einzelnen Festen gelten Volkslied, zumal dem Martinstage: die Martinslieder berühren sich mit der Zechpoesie, von deren Reichtum Fischarts berühmte «Trunkne Litanei» im Gargantua einen Begriff giebt;
es gab geradezu Orden, [* 7] Zunftgesetze der Trinker, die Anfänge unseres Comments, wie denn unsere heutigen Studentenlieder vielfach im 15. und 16. Jahrh. wurzeln.
Rätsel- und Wunschlieder, wie das Traugemundslied, weisen in viel ältere Zeit zurück. Das Leben der Natur wird meist besungen in Verbindung mit der Liebe. Sie bildet natürlich das Hauptthema des Volkslied: von der derben Zote bis zur zartesten Sehnsucht, von ausgelassener Lust bis zu tiefster Trauer, schlägt es alle Töne des Liebesliedes episch und lyrisch an.
Im Laufe des 16. Jahrh. sinkt das Volkslied schnell: es wird roh und unproduktiv; nur die histor. Lieder reichen ins 17. Jahrh. herein; aber sie zeigen da alle Mängel des verkommenen Geschmacks, schmücken sich kokett mit modischen Fremdwörtern und gespreizten Redensarten, und die dauernde Popularität eines Volkslied des 18. Jahrh., des «Prinz Eugenius» (1717), ist eine Ausnahme. Die bessern Stände wenden sich vom Volkslied ab und pflegen, wenn nicht die durch Opitz und die Schlesischen Schulen vertretene gelehrte Kunstpoesie, dann das sog. Gesellschaftslied.
Während der Minnesang stets nur einstimmige Weisen hatte, war im V. schon um 1500 Dreistimmigkeit des Gesangs beliebt. Durch H. Isaac, Ludw. Senffl, Geo. Forster und andere Meister des Kontrapunkts trat dafür im Laufe des 16. Jahrh. Vier- und Fünfstimmigkeit ein; aus den Niederlanden, Frankreich und namentlich Italien [* 8] drangen dazu künstliche Melodien ein, die technische Anforderungen stellten, denen nur durch größte Übung und tüchtige Schlung zu genügen war.
So bildeten sich bereits gegen die Mitte des 16. Jahrh. «Kränzchen», Gesellschaften, die sich abwechselnd bei den einzelnen Mitgliedern versammelten und bei deren Zusammenkünften der jedesmalige Bewirter einen Kranz trug. Die metrisch genauen Texte, die man zu den neuen Melodien erfand und die sich vom alten Volkslied je länger je mehr durch zierliche Tändelei und Künstelei unterschieden, nennt man Gesellschaftslieder. Die meisten der zahlreichen mit Musiknoten versehenen Liedersammlungen des 16. und 17. Jahrh. (so von Oeglin 1512, Ott 1533, Forster 1539 fg., das Lochheimer Liederbuch u. s. w.) enthalten neben echten Volkslied eine wachsende Anzahl ¶
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solcher Gesellschaftslieder, ebenso das wertvolle «Ambraser Liederbuch» (nach einem Druck von 1582 hg. von Bergmann, Stuttg. 1845),
das keine Noten enthält. Eine Auswahl bietet Hoffmann von Fallersleben in seinen «Deutschen Gesellschaftsliedern des 16. und 17. Jahrh.» (2. Aufl., Lpz. 1860).
Auf unsere Klassiker wirkte das verachtete und vergessene Volkslied wie ein erfrischender Jungbrunnen. Durch Percys «Reliques of ancient English poetry» (1765) wurden Herder und Bürger mächtig angeregt. Herders Schüler, Goethe, sammelte in Straßburg [* 10] elsässische Volkslied und dichtete sein «Heidenröslein» im Stile des Volkslied Die erste größere Sammlung deutscher Volkslied, Nicolais «Feyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liblicherr Volkslied» (2 Bde., Berl. 1777‒78; neu hg. von Ellinger in den «Berliner [* 11] Neudrucken», 1888),
sollte zwar die erwachende Liebe zum Volksgesange lächerlich machen,war aber immerhin eine nützliche Vorarbeit. Sie wurde schnell überholt durch Herders «Volkslieder» (2 Bde., Lpz. 1778‒79),
die seine für das Volkslied begeisterten Aufsätze in den «Fragmenten» und den «Blättern von deutscher Art und Kunst» ergänzten. Weit reichhaltiger war die von den Heidelberger Romantikern (Cl. Brentano und Ach. von Arnim herausgegebene Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» (3 Bde., Heidelb. 1806‒8; neu bearbeitet von Birlinger und Crecelius, 2 Bde., Wiesb. 1874); doch sind hier die alten Texte allzu willkürlich, selbst stillos gemodelt. Indes durch diese Arbeit drang Interesse für unser Volkslied in die weitesten Kreise. [* 12]
Heute noch unübertroffen ist Uhlands meisterhafte Sammlung «Alte hoch- und niederdeutsche Volkslied» (2 Bde., Stuttg. und Tüb. 1844‒45; 3. Aufl., 4 Bde., 1892). Eine kleinere Auswahl enthält das «Liederbuch aus dem 16. Jahrh.» von Goedeke und Tittmann (Lpz. 1867; 2. Aufl. 1881); andere Sammlungen veranstalteten Simrock (1851; 2.Aufl.,Bas. 1887),
Mittler (Marb. 1855),
Geo. Scherer u. s. w. Die alten Melodien teilt mit Franz M. Böhme in dem schönen «Altdeutschen Liederbuch» (Lpz. 1877) und R. von Liliencron in seiner vortrefflichen Auslese «Deutsches Leben im V. um 1530» (in Kürschners «Deutscher Nationallitteratur», Bd. 13); auch Kretzschmer und Zuccalmaglio («Deutsche [* 13] Volkslied mit ihren Originalweisen», 2 Bde., Berl. 1840),
Erk und Irmer («Die deutschen Volkslied mit ihren Singweisen», 2. Ausg., Lpz. 1843),
Erk («Deutscher Liederhort», neue Ausg. von Böhme, ebd. 1893‒94) u. a. berücksichtigen die Melodien. Auf die histor. Lieder beschränkt sich Liliencrons großes Werk «Die historischen Volkslied der Deutschen» (4 Bde., Lpz. 1865‒69), zu dem Freiherr von Ditfurth in mehrern Sammlungen, die auch Kriegslieder des 18. und 19. Jahrh. enthalten, Nachträge brachte. Die besten Sammlungen für einzelne Landesteile lieferten: für die Schweiz [* 14] Tobler (2 Bde., Frauenfeld 1884), für Schwaben E. Meier (Berl. 1855) und Birlinger (Freiburg [* 15] 1864), für die Alpenländer Hartmann ( Volkslied, in Bayern, [* 16] Tirol [* 17] und Salzburg [* 18] gesammelt», Bd. 1, Lpz. 1884),
L. von Hörmann («Schnaderhüpfln aus den Alpen», [* 19] 2. Aufl., Innsbr. 1882), Greinz und Kapferer (Lpz. 1889 u. 1890), für Kärnten Pogatschnigg und Herrmann (2 Bde., Graz [* 20] 1879; neue Ausg. 1884),
für Österreich [* 21] Tschischka (Pest 1844),
für Steiermark [* 22] Schlossar (Innsbr. 1881), für Siebenbürgen Schuster (Hermannst. 1865), für das Elsaß Weckerlin («Chansons populaires de l’Alsace», deutscher Text mit franz. Übersetzung, Par. 1883),
Mündel (Straßb. 1884),
für Hessen [* 23] Böckel («Deutsche Volkslied aus Oberhessen», Marb. 1885) und Lewalter (Hamb. 1890‒91),
für Franken Ditfurth (Lpz. 1855),
für das Vogtland Dunger («Rundâs und Reimsprüche aus dem Vogtlande», Plauen [* 24] 1876), für das Erzgebirge Alfr. Müller (Annaberg [* 25] 1883), für das Kuhländchen Meinert (Wien [* 26] 1817), für Böhmen [* 27] Hruschka und Toischer (Prag [* 28] 1888 fg.), für Schlesien [* 29] Hoffmann von Fallersleben und E. Richter (Lpz. 1842), für den Harz Pröhle (Stuttg. 1863), für Westfalen [* 30] Al. Reifferscheid (Heilbr. 1878), für Westpreußen [* 31] Treichel (Danz. 1895), für Ostpreußen Frischbier (Königsb. 1877), für Niederdeutschland Uhland und de Bouck (Hamb. 1883). Die wertvollsten Untersuchungen über das Volkslied stellte Uhland an (im 3. und 4. Bande seiner «Schriften zur Dichtung und Sage»). Kurz orientieren Vilmar, «Handbüchlein für Freunde des deutschen Volkslied» (3. Aufl., Marb. 1886),
und Kinzel, «Das deutsche Volkslied des 16. Jahrh.» (Berl. 1885).
Auch andere europ. wie nichteurop.Nationen haben einen großen Reichtum an Volkslied. Die Erkenntnis der Volkspoesie förderten besonders die Lieder der Serben (s. Serbische Litteratur) und Finnen (s. Finnische Sprache und Litteratur und Kalewala).–
Vgl. Talvj (Therese von Jakob), Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslied german. Nationen, mit einer Übersicht der Lieder außereurop.
Völkerschaften (Lpz. 1840).