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Gefängnisstrafen von weniger als 6 Monaten (nur bis zu diesem Strafmaß ist bedingte Verurteilung zulässig) von der bedingten Verurteilung (sursis) Gebrauch. Allein die Rückfallsstatistik zeigt seit Einführung des Gesetzes vom keine Rückgänge. 1883‒87 kamen 1 Rückfälliger auf 73,17 (35,1 auf 100000 E.), 1888‒92 auf 71,24 (41,7 auf 100000 E.) Verurteilte. 1884 wurden 19000, 1890: 36000, 1894: 42000 zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, also hat die Einführung der bedingten Verurteilung die Zahl der Verbrechen nicht seltener gemacht.
In England (Probation of first Offenders Act, 1887) und seinen Kolonien Canada, Neuseeland, Queensland, Victoria [* 2] (Australien), [* 3] Westaustralien, Neusüdwales und seit Gesetz vom im ganzen Staate Massachusetts besteht das zuerst (1878) in Boston [* 4] eingeführte Probationssystem, nach dem gewisse Personen, die sich einer strafbaren Handlung (besonders Trunkenheit, Prostitution, Störung der öffentlichen Ordnung, auch Diebstahl und Betrug geringern Grades) zum erstenmal schuldig gemacht haben, unter die Aufsicht besonderer Beamten gestellt werden, welche die Aufgabe haben, zu prüfen, ob ihre Schützlinge sich bewähren, und im Fall das nicht der Fall ist, die nachträgliche Verurteilung zu einer dann meist erheblich höher bemessenen Freiheitsstrafe herbeiführen. Im Gegensatz zum belg.-franz. System wird hier also der Urteilsspruch ausgesetzt und sich der unter Probezeit (probation) Gestellte nicht selbst überlassen, sondern unter Staatsaufsicht gestellt. Auch wird der Begünstigte der Gunst nicht erst verlustig, wenn er während der Probezeit kein neues Verbrechen oder Vergehen begeht, sondern schon, wenn er sich während der Bewährungsfrist überhaupt schlecht führt.
In Deutschland [* 5] haben sich die preuß. Oberlandesgerichte und Oberstaatsanwälte, amtlich aufgefordert, 1890 fast einstimmig gegen die Einführung der bedingten Verurteilung ausgesprochen. Ihnen zur Seite stehen in der wissenschaftlichen Litteratur die Professoren Wach in Leipzig, [* 6] Birkmeyer in München, [* 7] Strafanstaltsdirektor Krohne in Moabit. Andererseits ist die bedingte Verurteilung von namhaften Praktikern (Wirth, Direktor der Strafanstalt Plötzensee bei Berlin, [* 8] Amtsrichter Aschrott ebd.) und Theoretikern, voran Professor von Liszt in Halle [* 9] und Professor Seuffert in Bonn, [* 10] lebhaft befürwortet worden.
Auch in der Tagespresse, auf Kongressen und Versammlungen von Gefängnis- und ähnlichen Vereinen (in Brüssel, [* 11] Petersburg, [* 12] Halle, Hamburg, [* 13] Köln) [* 14] ist die Frage vielfach erörtert. Die Reichsjustizverwaltung hält nach Erklärung im Reichstag 1896 noch weitere Erfahrung für nötig. Dagegen ist von Landes wegen derselbe Zweck durch bedingte Begnadigung, d. h. dadurch zu erreichen versucht worden, daß unter Gewährung von Strafaufschub durch die Strafvollstreckungsbehörde bei Wohlverhalten während längerer Zeit Begnadigung in Aussicht gestellt wird.
Die Gunstgewährung geschieht hier also nicht durch den Richter, und es besteht kein Recht auf Straferlaß im Falle des Wohlverhaltens. Die bedingte Begnadigung wurde eingeräumt erstmalig verurteilten, jugendlichen (12‒18 J. alten) Personen, gegen welche nicht auf eine längere als 6- (manchmal 3-) monatige Strafe erkannt ist, zuerst in Sachsen [* 15] dann in Preußen [* 16] Bayern [* 17] Württemberg [* 18] Baden, [* 19] Hessen, [* 20] Mecklenburg-Schwerin, Elsaß-Lothringen, [* 21] Coburg-Gotha, Meiningen, [* 22] Hamburg, Bremen. [* 23] Die bedingte Verurteilung selbst kann nur vom Reiche eingeführt werden, weil sie eine Abänderung von Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung darstellen würde.
Vgl. von Liszt in der «Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft», Bd. 9 u. 10 (1889 u. 1890);
Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, Jahrg. 1‒5 (Berl. 1890‒96);
Wach, Die Reform der Freiheitsstrafe (Lpz. 1890);
Krohne im «Nordwestdeutschen Verein für Gefängniswesen», Heft 20 (1890) und die dort angegebene Litteratur; Rosenfeld, Welche Strafmittel können an die Stelle der kurzzeitigen Freiheitsstrafe gesetzt werden? (Berl. 1890);
von Kirchenheim, Der internationale Kongreß für Gefängniswesen in Petersburg 1890 (im «Gerichtssaal», Bd. 44, 1891);
Verhandlungen des ⅩⅩⅠ. deutschen Juristentages (10. und zu Köln);
L. George, Du sursis conditionnel à l’exécution de la peine et de la liberté conditionnelle (Par. 1895);
Zusammenstellung ausländischer Gesetze durch das Reichsjustizamt (Drucksachen des Deutschen Reichstags 1895/97, Nr. 90 im 2. Anlagenband).
An weitere Volkskreise wendet sich die Schrift von Bachem, Die bedingte Verurteilung (2. Aufl. Köln 1895).