Bezeichnung für die
Abteilungen der Landgerichte, denen die
Entscheidung in Strafsachen zusteht. (S. Landgericht.)
Die S. sind als Voruntersuchungsgerichte zuständig für diejenigen die
Voruntersuchung und deren Ergebnisse betreffenden
Entscheidungen, welche vom Gericht zu erlassen sind; sie entscheiden über
Beschwerden gegen
Verfügungen des
Untersuchungsrichters
und des
Amtsrichters. Ferner sind sie als erkennende Gerichte zuständig 1) für die
Vergehen, welche nicht
zur Zuständigkeit der Schöffengerichte (s. d.) gehören, für die in §. 73 des
Gerichtsverfassungsgesetzes aufgeführten
Verbrechen, für Zuwiderhandlungen gegen die in §. 74 des Gerichtsverfassungsgesetzes
bezeichneten Gesetze;
3) für
Entscheidung über
Beschwerden gegen
Entscheidungen der Schöffengerichte. Die im Dez. 1896 gescheiterte Novelle zum
Gerichtsverfassungsgesetz wollte gegen erstinstanzielle
Urteile der S., die jetzt nur mit Revision anfechtbar sind,
Berufung
einführen und zugleich die Zuständigkeit der S. dahin abändern, daß sie mehr leichte
Vergehen an die Schöffengerichte
abzugeben hätten, um von den Schwurgerichten eine Reihe von
Vergehen mit verwickeltem thatsächlichen
Material und schwierigen Rechtsfragen (Meineid,
Bankerott) oder ganz unpolit.
Inhalt (gewaltsame Unsicht) zu übernehmen. Ferner
wollte diese Novelle die S. in erster Instanz nur mit 3
Richtern besetzen.
Über die nicht zur Zuständigkeit der S. oder des
Reichsgerichts (s. d.) gehörigen
Verbrechen entscheiden periodisch beiden Landgerichten zusammentretende
Schwurgerichte (s. d.).
Auswärtige oder detachierte S. nennt man die nach §. 78 des Gerichtsverfassungsgesetzes durch die Landesjustizverwaltung
wegen großer Entfernung des Landgerichtssitzes bei einzelnen (zur Zeit 40)
Amtsgerichten für den
Bezirk eines oder mehrerer
Amtsgerichte gebildeten S. Denselben ist in der Regel nur ein
Teil der Thätigkeit der S., insbesondere
die
Entscheidung in erster Instanz, zugewiesen. Sie werden durch Mitglieder des Landgerichts oder
Amtsrichter des
Bezirks, für
den sie gebildet sind, besetzt; der Vorsitzende wird ständig, die
Amtsrichter auf die
Dauer des Geschäftsjahrs vom Ministerium,
die übrigen Mitglieder vom Präsidium des Landgerichts bezeichnet.
oder
Verbrecherkolonien, Distrikte und Anstalten in auswärtigen Kolonialbesitzungen oder (wie
Sibirien)
sehr fern vom Mutterland liegenden
Staatsgebieten, in welchen Verbrecher zur
Strafe angesiedelt werden. In
Sibirien, wohin die
ersten Verweisungen von Verbrechern zuerst 1754 vorgenommen wurden, sind die S., wohl zu unterscheiden von den
Ansiedelungen
der freien Kolonisten, auf alle Gouvernements verteilt, größtenteils aber in Ostsibirien, da Westsibirien
in den bessern Gegenden schon ziemlich angebaut ist.
Die aus
Rußland Verwiesenen, die, sobald sie
Sibiriens Grenze betreten, ihr früheres Leben hinter sich gelassen haben und
daher vom
Volke wie selbst in der amtlichen
Sprache
[* 2] der
Behörden nur Nesčastnye ljudi, d.h. die unglücklichen
Leute, genannt werden, zerfallen in drei
Kategorien:
1) Katoržniki, die schweren Verbrecher, welche, als moralisch tot betrachtet, lebenslänglich oder vielmehr auf unbestimmte
Zeit zu schweren
Arbeiten, zum
Teil in den
Bergwerken, namentlich in denen von
Nertschinsk, verwandet werden;
2) Soslannyje na rabotu, Verwiesene, die
eine Zeit lang zu öffentlichen
Arbeiten, besonders bei Salzsiedereien,
Kalkbrennereien, Straßenbauten u. s. w., verwendet, dann aber, wenn sie 4-8 Jahre gearbeitet
und sich gut gehalten haben, angesiedelt werden;
3) Soslannyje na poselenije, solche, die sogleich angesiedelt werden, indem man sie teils in den vorhandenen Dörfern
unterbringt, teils für sie eigene Dörfer anlegt. - In
Australien
[* 3] wurden die ersten S. 1788 zu
Botanybai
(s. d.) in Neusüdwales, dann 1803 auf
Tasmanien
(Vandiemensland) angelegt. Für die allerschlimmsten Verbrecher wurden die
sog. Pönalstationen gegründet, in denen sie, von allen übrigen Einwohnern getrennt und der
strengsten Zucht unterworfen, ganz für sich lebten. Die unablässigen Forderungen der Kolonisten, die Einführung
von Verbrechern einzustellen, haben zur Folge gehabt, daß die Regierung schon 1839 die Übersiedelung von Verbrechern nach
Neusüdwales aufhob. Schließlich blieb nur
Westaustralien noch Strafkolonie. Die Entdeckung der austral. Goldfelder und der
wachsende
Widerstand der Kolonisten führte schließlich zur gänzlichen
Aufgabe der engl. Transportation. - Die S.
Frankreichs
sind Cayenne (s. d.), seit 1852
Algerien
[* 4] (Lambèse) und seit 1864 Neucaledonien. Die für
Britisch-Ostindien
sind auf den Andamaneninseln. -
Vgl. Holtzendorff, Die Deportation als Strafmittel u. s. w. (Lpz.
1858);
Teissere, La transportation pénale et la rélegation (Par. 1893);
Foinitzki, La transportation russe et anglaise
(ebd. 1895) und das Werk
GeorgeKennans (s. d.) über
Sibirien. (S. auch Deportation und
Verbannung.)
soviel wie
Strafbefehl und
Strafverfügung. ^[= zur Unterscheidung vom amtsrichterlichen Strafbefehl (s. d.) eine Verfügung, durch welche Polizeibe ...]
früher peinlicher oder Kriminalprozeß genannt, derInbegriff der gerichtlichen
Handlungen und Vorgänge, durch welche das
Strafrecht (s. d.) im einzelnen Fall zur Anwendung und Durchführung gelangt.
Der S. hat mit dem Civilprozeß (s. d.) gemein, daß es sich einerseits um die
thatsächliche Klarstellung des zu entscheidenden Falls, andererseits um die Anwendung der geltenden Rechtsnormen auf den
festgestellten
Thatbestand handelt, ferner auch, daß beides durch Richterspruch geschieht, d. h.
durch den Ausspruch eines unparteiischen Organs der
Staatsgewalt.
Während indes letztere dem Civilprozeß gegenüber der Regel nach gleichgültig dasteht, gehört es zu ihrer
Aufgabe, alle
Strafthaten zu obrigkeitlicher
Sühne zu bringen. Deshalb ist, um dem Angeklagten einen unparteiischen Richterspruch zu sichern,
eine Sonderung der richterlichen Thätigkeit von der Strafverfolgung im engern
Sinne geboten. Ob die Durchführung
des Richterspruchs, die Strafvollstreckung, vom
Richter oder von andern
Behörden geschieht, ist von minderer Bedeutung. Durch
den einzelnen S. soll das Vorhandensein eines
Vergehens sowie der
Urheber desselben und seine strafbare Schuld zwecks Bestimmung
undVollstreckung der entsprechenden
Strafe ermittelt werden. Obgleich diese
Aufgaben allenthalben festgehalten
werden müssen, so hat sich doch das strafrechtliche
Verfahren, der S. im abstrakten
Sinn, je nach dem polit. und
Kulturzustande
der verschiedenen
Zeiten und
Völker auf das
¶
mehr
abweichendste gestaltet. Die wissenschaftliche Darstellung führt die Verschiedenheiten auf bestimmende Grundzüge, «Principien»
oder «Maximen», zurück und gelangt damit vorzüglich zu dem Gegensatze
des Anklage- und des Untersuchungsverfahrens. (S. Anklage und Inquisitionsprozeß.) Im Anklageprozesse erfolgt mindestens die
abschließende Erörterung der dem Richterspruche zu Grunde zu legenden Thatsachen (das Hauptverfahren) in der Form
einer kontradiktorischen Verhandlung zwischen dem Ankläger und dem Angeklagten mit seinem Verteidiger unter der Leitung
des urteilenden Gerichts, wogegen der Untersuchungsprozeß die Ausmittelung sämtlicher Belastungs- und Entlastungsmomente,
möglicherweise selbst die Abfassung des Urteils dem Untersuchungsgerichte überträgt, also die gegensätzlichen Funktionen
des Anklägers, Verteidigers und Urteilers in einer Person vereinigt.
Aus dem Anklageprincip ist übrigens nicht zu folgern, daß der Staat an und für sich dem Verbrechen gleichgültig gegenüberstehen
und die Bestrafung von dem Zufall abhängig machen müsse, ob jemand Anklage erheben und Beweise liefern werde. Vielmehr kann,
wenn nur der Ankläger von dem urteilenden Richter verschieden ist, die Vorerörterung, ob Gründe zur
Versetzung eines Beschuldigten in den Anklagestand vorhanden seien (Voruntersuchung), einem Beamten, dem Untersuchungsrichter,
übertragen werden.
Unter dem Einflusse des franz. Rechts ist in den europ. Kontinentalstaaten die Offizialanklageform, beruhend auf dem
Institute der Staatsanwaltschaft (s. d.), herrschend geworden. Von den ausnahmsweise zugelassenen
Fällen der Privatklage (s. d.) abgesehen, ist die Staatsanwaltschaft die Trägerin der Anklage. Soweit
ihr nicht durch die Antragsberechtigung des Verletzten Schranken gezogen sind, schreitet sie überall, als eine dem Gerichte
koordinierte Behörde, nach selbständigem Ermessen ein. Völlig verschieden ist das Princip des engl.
Rechts, wonach der Grundsatz der Privatanklage wie im ältern german. Recht noch der herrschende geblieben
ist.
Ein fernerer Hauptgegensatz besteht zwischen schriftlichem und mündlichem Verfahren. Die «Maxime der Mittelbarkeit, der Schriftlichkeit»
führt zu der Bestimmung, daß das erkennende Gericht die einschlagenden Thatsachen lediglich aus den vom Untersuchungsrichter
geführten Akten zu entnehmen habe. Hier bürgt freilich für die Gerechtigkeit des Erkenntnisses nur die Annahme,
daß die Niederschrift eines Protokollführers alle Untersuchungsvorgänge treu und erschöpfend wiedergebe, so daß ein
Richterkollegium dadurch in den Stand gesetzt werde, über die Schuld zu erkennen und die Strafe festzusetzen.
Bei der Trüglichkeit dieser Voraussetzung giebt man jetzt der «Maxime der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit» überall den
Vorzug. Der Gerichtshof hat hier über die Beweisaufnahme selbst und nicht über deren aktenmäßige
Reproduktion zu erkennen und sein Urteil aus der unmittelbaren Anschauung des Angeschuldigten und der Zeugen, unter Kenntnisnahme
von ihrer Haltung, ihren Gebärden, kurz ihrer ganzen Persönlichkeit, ingleichen nach Anhörung der sofort dazwischengreifenden
mündlichen Anklage und Verteidigung zu bilden.
Das Erfordernis der Mündlichkeit besteht aber bloß für die Hauptverhandlung (s. d.),
nicht für das Vorverfahren, dessen Zweck nur ist, den Stoff zu sammeln für die Entscheidung, ob Anklage erhoben und das Hauptverfahren
eröffnet werden soll, und dem Ankläger, Verteidiger und Vorsitzenden des Gerichts zur Vorbereitung für die Hauptverhandlung
zu dienen. Ein dritter Hauptunterschied ist der zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit des Verfahrens
(wenigstens in der Hauptverhandlung). Alle neuern Gesetzgebungen gestatten unter Festhaltung des Grundsatzes der Öffentlichkeit
(s. Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege) doch gewisse Ausnahmen davon im Interesse
der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Staatssicherheit und der Sittlichkeit. Wiederum abweichend von den kontinentalen
Formen des Strafverfahrens läßt der englische S. Öffentlichkeit und Mündlichkeit auch für die Voruntersuchung
zu.
Der in Deutschland
[* 6] ehemals übliche S., wie er sich seit dem 16. Jahrh. ausgebildet hatte, beruhte
auf den Grundsätzen der Mittelbarkeit, Schriftlichkeit und Heimlichkeit, auf der Inquisitionsmaxime und festen Beweisregeln.
Durch den franz. Code d'instruction criminelle und seinen Übergang nach Rheinpreußen, Rheinhessen und
Rheinbayern gewann die Einsicht in die Vorteile eines auf die entgegengesetzten Principien gegründeten S. immer größere
Verbreitung, und seit 1848 erhielt derselbe auch in der Gesetzgebung der meisten deutschen Staaten, wiewohl unter mannigfachen
Abweichungen, den Vorzug.
Die Schwierigkeiten der Vereinbarung einer Strafprozeßordnung unter den legislativen Faktoren sind um
so größer, weil polit. Machtfragen überall in das Strafprozeßrecht besonders tief eingreifen. Die Einrichtung des S.
ist der bedeutsamste Maßstab
[* 7] für die Entwicklung der staatsbürgerlichen Freiheiten und der öffentlichen Ordnung. Despotisch
regierten Staaten ist es eigentümlich, die Rechte des Angeklagten überall auf eine niedrige Stufe herabzudrücken,
andererseits zeichnen sich die Epochen der Anarchie, so z. B. in der Französischen Revolution von 1789, dadurch aus, daß
die Strafgerichte den Volkslaunen unterthänig gemacht werden. Die Rechte des angeklagten Staatsbürgers mit den strafrechtlichen
Interessen der Gesellschaft auszugleichen, ist die letzte Aufgabe des S.
Ein Strafverfahren zerfällt regelmäßig in drei, nach Zweck und Form voneinander unterschiedene Stadien.
In demVorverfahren handelt es sich um Vorbereitung der öffentlichen Anklage durch die Staatsanwaltschaft und in schweren Fällen
um Führung einer gerichtlichen Voruntersuchung (s. d.). Sodann handelt es sich um die Entscheidung des Gerichts über Eröffnung
des Hauptverfahrens, soweit nicht in einzelnen Fällen sofort zur Hauptverhandlung geschritten werden
darf, endlich um Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung.
Diese führt den Angeklagten und sämtliche Beweise dem Gerichtshofe unmittelbar vor und endet mit der Aburteilung. Das Anklageprincip
ist dadurch gewahrt, daß die Staatsanwaltschaft in jedem Stadium die Thätigkeit des Gerichts begleitet und anregt, vornehmlich
aber in der Hauptverhandlung die Anklage mündlich vertritt. Mindestens in der Hauptverhandlung ist der
Angeklagte befugt, in schweren Fällen auch verpflichtet, sich des Beistandes eines rechtsverständigen Verteidigers zu bedienen.
Übrigens sind die Formen des Verfahrens je nach der Schwere der abzuurteilenden Strafthat und der dadurch begründeten sachlichen
Zuständigkeit der Gerichte verschieden, am feierlichsten vor dem Schwurgericht,
¶