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an der Abwanderung der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung [* 2] in die größern Orte (s. Binnenwanderungen, Bd. 17) namentlich Leute im kräftigen, arbeitsfähigen Alter beteiligt sind. Über die Einteilung der S. s. Bevölkerung.
Jener Wanderungszug nach den S. ist für die Gegenwart von außerordentlicher Bedeutung geworden, denn er bildet die allein durchschlagende Ursache für die gewaltige Vermehrung der städtischen Bevölkerung während der letzten Jahrzehnte. In dem Zeitraum 1885‒90 nahmen im Deutschen Reiche die Mittelstädte um 17,29, die Großstädte um 17,79 Proz. zu; hiervon entfallen nur 5,34 und 5,86 Proz. auf den natürlichen Zuwachs durch Überschuß der Geburten über die Sterbefälle, dagegen 11,95 und 11,93 Proz. auf den Gewinn durch die Zuwanderung. Die S. von über 20000 E. hatten 1871‒75 einen Zuwachs von 3,06, in den folgenden Jahrfünften von 2,39, 2,24, 2,87 und (1890‒95) von 2,20 Proz. zu verzeichnen. Ähnliche Verhältnisse zeigen die übrigen Kulturländer.
Dieser "Zug
nach der S.», wie er in dem starken Anwachsen
unserer Großstädte zum
Ausdruck kommt, ist eine durchaus moderne Erscheinung. Abgesehen von der auf ganz eigenartige sociale
und wirtschaftliche
Ursachen zurückzuführenden Bevölkerungsentwicklung der Stadt
republiken im klassischen
Griechenland
[* 3] und
der S.
Rom
[* 4] zur Zeit des Kaiserreichs, hatte nur das spätere Mittelalter, insbesondere das 14. und 15. Jahrh.,
den heutigen ähnliche Verhältnisse aufzuweisen, insofern auch damals ein stetes Abströmen des ländlichen
Bevölkerungsüberschusses in die S. erfolgte.
Indessen reicht die Bedeutung dieses Vorgangs an die neuzeitliche Entwicklung nicht heran. Selbst die hervorragendsten deutschen S. des spätern Mittelalters sind an Einwohnerzahl weit kleiner gewesen, als man bis vor kurzem anzunehmen geneigt war. Berühmte Handelsplätze, wie Nürnberg, [* 5] Straßburg [* 6] und Basel, [* 7] waren gegen Ende des 15. Jahrh. bescheidene Mittelstädte von 15000 bis 20000 E. Unter überaus günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen haben die deutschen S. allerdings während des 16. Jahrh. bedeutend zugenommen; aber es ist als feststehend anzusehen, daß kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges keine der damaligen S. über 60000 E. gehabt hat. Großstädte im modernen Sinne gab es damals nicht. Bekanntlich wurde durch jenen Krieg die kulturelle Entwicklung Deutschlands [* 8] jäh unterbrochen und die Bevölkerung in E. und Land stark verringert. Wie hierin während des 18. Jahrh. eine allmähliche Besserung Platz griff, läßt sich bei dem Mangel an jeder sichern statist. Grundlage mehr vermuten als im einzelnen nachweisen.
Erst seit dem Beginn des 19. Jahrh. gestattet die damals begründete amtliche
Statistik genauere Feststellungen über die
Volkszahl in
S. und Land. Vergleichbare Angaben reichen aber nicht hinter die Mitte des 19. Jahrh.
zurück.
Über die Verschiebung der städtischen und ländlichen
Bevölkerung des
Deutschen
Reichs s.
Bevölkerung.
In
Preußen
[* 9] betrug der Anteil der in den Stadt
gemeinden lebenden Einwohner 1849: 20,52, 1858: 29,61, 1804: 31,10, 1871: 32,33,
1875: 34,18, 1880: 35,59, 1885: 37,27, 1890: 39,35 und 1895: 40,73 Proz.;
in Frankreich betrug die Volkszahl aller Gemeinden mit mehr als 2000 E. 1846: 24,42, 1851: 25,52, 1856: 27,31, 1861: 28,86, 1866: 30,46, 1872: 31,06, 1876: 32,44, 1881: 34,76, 1886: 35,95 und 1891: 37,4 Proz. der Gesamtbevölkerung;
bei gleichbleibender Zunahme dürfte die städtische Bevölkerung 1920 die Stärke [* 10] der ländlichen erreichen. In Österreich [* 11] beherbergten die städtischen Wohnplätze (von 2000 und mehr E.) 1843 kaum den fünften Teil, 1890 aber bereits ein Drittel der ganzen Bevölkerung des Staates. In England machte die städtische Bevölkerung schon 1850 die Hälfte, gegenwärtig dagegen drei Viertel der Gesamtheit aus.
Eine besonders eigenartige Entwicklung nahmen die Vereinigten Staaten [* 12] von Amerika. [* 13] Daselbst gestalteten sich die Verhältnisse folgendermaßen:
Jahre | Stadtbevölkerung Personen ↗ Prozent |
Landbevölkerung Personen ↗ Prozent | Gesamtbevölkerung Personen ↗ Prozent |
---|---|---|---|
1840 | 1453994 ↗ 8,52 | 15615459 ↗ 91,48 | 17069453 ↗ 100 |
1890 | 18235670 ↗ 29,12 | 44386580 ↗ 70,88 | 62622250 ↗ 100 |
Hier ist also, dank der außerordentlich starken überseeischen Einwanderung, nicht nur eine beispiellose Zunahme der städtischen, sondern auch eine sehr starke Zunahme der ländlichen Bevölkerung erfolgt.
Allgemein zeigt sich, daß die größern S. verhältnismäßig weit stärker zunehmen als die kleinern, und daß namentlich die sog. Landstädte unter dem Einfluß der modernen wirtschaftlichen Entwicklung vielfach stark zurückgeblieben sind.
Für die europ. Kulturstaaten sind die Ursachen der hier angedeuteten Verschiebung, sofern dieselbe auf dem Zuzug vom Lande in die S. beruhen, in erster Linie auf die günstigere wirtschaftliche und sociale Lage der groß- und kleingewerblichen Arbeiterklassen in den S. gegenüber derjenigen der landwirtschaftlichen Bevölkerung auf dem platten Lande zurückzuführen, ein Gegensatz, welcher durch die kritische Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes neuerdings erheblich verschärft worden ist.
Während sich in den S. die Nachteile der Bevölkerungsanhäufung in Gestalt der Arbeitslosigkeit und der Wohnungsnot mehr und mehr als sociale Probleme geltend machen, mangelt es in der Landwirtschaft immer fühlbarer an tüchtigen Arbeitern, welche letztere durch den Zug nach den großstädtischen und industriellen Bezirken dem Lande gegenwärtig in einem Maße entzogen werden, das den thatsächlichen Bedürfnissen der Industrie längst nicht mehr entspricht.
Abgesehen hiervon wird man es aber als erfreulich betrachten dürfen, daß unter unsern modernen Rechts- und Kulturverhältnissen das Aufsuchen der günstigern Lebensbedingungen so außerordentlich erleichtert worden ist und durch eine engere Mischung des städtischen und ländlichen Elements und der verschiedenen Stammesangehörigen die Vereinheitlichung des Volkscharakters gefördert und das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit gestärkt wird. - Über Einnahmen und Ausgaben einiger Großstädte s. Gemeindehaushalt. Das starke Anwachsen der großstädtischen Bevölkerung hat der Frage einer planmäßigen Erweiterung der städtischen Bebauungsgebiete eine besondere Bedeutung verlieben (s. Stadterweiterungen).
Geschichtliches. Abgesehen von den Chinesen und andern Völkern des östl. und südl. Asiens waren es die Babylonier, Ägypter, Phönizier und Griechen, die zuerst daheim und in der Fremde S. anlegten. Bei den Babyloniern und Ägyptern dienten sie vorzugsweise als feste Plätze, bei den Phöniziern und Griechen dem Handel, und bezeichnenderweise gingen nur aus diesen die ¶
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berühmten Städterepubliken hervor. In Italien [* 15] erwuchs Rom unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen zur Herrin der Mittelmeerwelt und prägte seinem Reiche vorwiegend den Charakter städtischer Kultur auf. In dem ganzen Bereich röm. Herrschaft wurden S., wo solche nicht bereits bestanden, neu angelegt, so namentlich auch seit Kaiser Augustus in den unterworfenen Teilen von Deutschland, [* 16] da den Germanen im Gegensatz zu den Kelten die Sitte des städtischen Zusammenwohnens verhaßt war.
Eine große Zahl der S. im westl. und südl. Deutschland, von Köln [* 17] bis Basel und von Augsburg [* 18] bis Wien, [* 19] verdankt so röm. Lagern und Kastellen ihre Entstehung. Die Stürme der Völkerwanderung bereiteten den meisten den Untergang; aber nach der Errichtung des Frankenreichs erstanden sie mit dem Vordringen des Christentums und den Anfängen von Handel und Gewerbe zu neuem Leben, während der Andrang der slaw., normann. und magyar. Feinde im 9. und 10. Jahrh. auch im übrigen Deutschland die Errichtung von festen Plätzen veranlaßte, unter deren Schutz allmählich städtisches Leben erwuchs. Zu ihnen gesellte sich schließlich im 12. und 13. Jahrh. die nicht minder zahlreiche Gruppe der fürstl.
Neugründungen, sowohl im Innern von Deutschland (Freiburg
[* 20] i. Br., Bern
[* 21] u. a.) als auch in den den
Slawen abgewonnenen Gebieten, an den Ostseegestaden von Lübeck
[* 22] bis Reval,
[* 23] in den Landen zwischen Elbe und
Weichsel und in Schlesien.
[* 24] Jede ältere S. wurde anfangs durch herrschaftliche Beamte (Grafen oder Vögte) verwaltet, hatte
aber nicht eher volle rechtliche Selbständigkeit, als bis sich in ihr eine eigene Verfassung und Verwaltung ausgebildet hatte,
an deren Spitze Bürgermeister und Räte standen. Doch konnte diese Selbstverwaltung meist nur durch Kampf
mit den Stadt
herren, insbesondere den Bischöfen, errungen werden. Die neuen Verhältnisse in den S., die sich hiernach ausbildeten,
wurden dann durch besondere Statuten oder Stadtrechte (s. d.) geregelt.
Am frühesten trat diese Entwicklung in Italien ein. Als das reformierte Papsttum im 11. Jahrh. daran ging, die Selbständigkeit des Episkopats zu brechen, verbündete es sich mit der Pataria (s. d.) zum Sturz der bischöfl. Herrschaft in den S. und erreichte diesen Zweck unter heftigen Kämpfen. Die Bischöfe verloren ihre Rechte, und Verwaltung wie Gerichtsbarkeit gingen seit Ausgang des 11. Jahrh. an selbstgewählte Vorsteher (Consules) der S. über. Gleichzeitig vereinigten sich die S. zu Städtebünden, die diese Errungenschaften gegen Bischöfe und Kaiser verteidigen sollten, und nach hundertjährigem Kampfe erzwang der Lombardische Bund 1183 den Frieden von Konstanz, [* 25] der zwar die Zugehörigkeit der S. zum Reich anerkannte, ihnen jedoch die Selbständigkeit im Innern sicherte.
Von Italien griff die städtische Bewegung alsbald nach Süd- und Nordfrankreich, Flandern und Deutschland hinüber. Doch gelangten die S. im allgemeinen nur in Deutschland zu derselben selbstherrlichen Stellung wie in Italien, teils durch Abschüttelung der bischöfl. Herrschaft, teils durch den Wegfall der herzogl. Gewalt, wie in Schwaben nach dem Aussterben der Staufer, teils durch die Zerrüttung der königl. Macht. Während aber die ital. Republiken ihre Freiheit seit dem 13. Jahrh. durch innere Parteiungen zu Gunsten einzelner Herren einbüßten, gelang es den deutschen S., zum Teil mit Hilfe umfassender Bünde (Hansa, Rheinischer Städtebund, Schwäbischer Bund), sich die Selbständigkeit über das Mittelalter hinaus zu erhalten (s. Reichsstädte und Freie Städte).
Auch ihre Blüte [* 26] erlosch sowohl infolge der Entdeckung Amerikas und der Auffindung neuer Handelswege, als infolge der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges und der Erstarkung der fürstl. Gewalt. Die im Mittelalter weniger bedeutsamen holländischen und dann die englischen S. traten im 17. und 18. Jahrh. an die Spitze der gesamtstädtischen Entwicklung, und erst im 19. brach die Städteordnung (s. d.) des Freiherrn vom Stein vom dem Städtewesen zunächst in Preußen neue Bahn, das seitdem durch die veränderten Produktions- und Verkehrsverhältnisse wiederum einen gewaltigen Aufschwung nahm.
Litteratur. Hüllmann, Städtewesen im Mittelalter (4 Bde., Bonn [* 27] 1825-29);
Warnkönig, Flandr. Staats- und Rechtsgeschichte (3 Bde., Tüb. 1834-39);
Hegel, Geschichte der Städteverfassung in Italien (2 Bde., Lpz. 1847);
Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte (2 Bde., Gotha [* 28] 1854);
Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum (Lpz. 1859);
Chroniken der deutschen S. (hg. von der Münchener Historischen Kommission, Bd. 1-25, 1862-96);
von Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (4 Bde., Erlangen [* 29] 1869-71);
G. Rümelin, S. und Land (in seinen «Reden und Aufsätzen», Bd. 1, Tüb. 1875);
Wauters, Les libertés communales (2 Bde., Brüss. 1878);
Gengler, Deutsche
[* 30] Stadt
rechtsaltertümer (Erlangen 1882);
Giry, Documents sur les relations de la royanté avec les villes en France, 1180-1314 (Par. 1885);
Beloch, Die Bevölkerung der griech.-röm. Welt (Lpz. 1886);
J. Jastrow, Die Volkszahl deutscher S. zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Berl. 1886);
Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (2. Aufl., Wien 1889);
von Below, Die Entstehung der deutschen
Stadt
gemeinde (Düsseld. 1889);
ders., Der Ursprung der Stadt
verfassung (ebd. 1892);
Sohm, Die Entstehung des deutschen Städtewesens (Lpz. 1890);
Kallsen, Die deutschen S. im Mittelalter. I. Gründung und Entwicklung der S. (Halle [* 31] 1891);
Hegel, S. und Gilden der german. Völker im Mittelalter (2 Bde., Lpz. 1891);
Heinr. Rauchberg, Der Zug nach der S. (in der «Statist. Monatsschrift», Wien 1893);
A. Wirminghaus, S. und Land unter dem Einfluß der Binnenwanderungen (in den «Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik», 3. Folge, Bd. 9, Jena [* 32] 1895);
Oberrhein. Stadtrechte (hg. von der badischen Historischen Kommission, Heidelb. 1895fg.);
Rietschel, Markt und S. in ihrem rechtlichen Verhältnis (Lpz. 1897);
Boos, Geschichte der rhein. Städtekultur (Tl. 1., Berl. 1897).