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werden, oder das Verhältnis von Beziehungs- und Bedeutungslaut giebt die Form des Wortes. So kommen für jedes Wort drei Momente in Betrachtung: Laut, Bedeutung (in diesem weitern Sinne auch Funktion genannt), Form.
Die Form bildet das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zur Klassifikation der Sprachen, und die Morphologie der Sprache [* 2] stellt danach drei Klassen von Sprachen auf: I. Isolierende oder einsilbige (monosyllabische) Sprachen. Die Beziehung ist gar nicht lautlich ausgedrückt, die Sprache hat also nur Bedeutungslaute oder Wurzeln; dazu gehören z. B. das Chinesische, Tibetische und die hinterind. Sprachen. Die Beziehung ist in der Seele des Redenden freilich vorhanden, muß aber von dem Hörenden, da sie nicht laut wird, für sich ergänzt werden.
II. Zusammenfügende (agglutinierende) Sprachen. Die Sprache hat lautlichen Ausdruck für die Beziehung und fügt mit den Wurzeln die Beziehungslaute in irgend einer Weise zusammen, entweder durch Nachsetzung (Suffigierung), oder Vorsetzung (Präfigierung), oder Hineinsetzung in die Wurzel [* 3] (Infigierung), wobei die Laute der Wurzel überhaupt keine Veränderungen erleiden oder wenigstens nur durch mechan. Lautbewegung, also keine, mit denen an sich die Bezeichnung einer Beziehung verbunden wäre. Zu dieser Klasse gehören die meisten bis jetzt bekannten Sprachen: die malaio-polynesischen, die dravidischen, eine Anzahl im Kaukasus einheimischer Sprachen;
der finn.-tatar. oder uralaltaische Sprachstamm, [* 4] eine große Anzahl afrik.
Sprachen, namentlich südafrikanische (Bantusprachen); in Europa [* 5] das Baskische; die Sprachen der Indianer Amerikas. III. Flektierende Sprachen. In diesen wird die Wurzel selbst zum Zwecke des Beziehungsausdrucks regelmäßig verändert, außerdem aber besondere Beziehungslaute auch mit der Wurzel zusammengefügt. Zu dieser Klasse gehören nur zwei Sprachstämme, [* 6] der indogermanische und der semitische. - Über Klassifikation der Sprachen vgl. Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues (Berl. 1860; neu bearbeitet von F. Misteli als Bd. 2 des Steinthalschen «Abrisses der S.», ebd. 1893); Schleicher, Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht (Bonn [* 7] 1850); Pott, Wurzelwörterbuch der indogerman. Sprachen (Bd. 2, Abteil. 2, Detmold [* 8] 1870, Vorrede); F. Müller, Grundriß der S., Bd. 1 (Wien [* 9] 1876); G. von der Gabelentz, Die S. (Lpz. 1891), S. 327 fg.
Nach einer bis vor kurzem allgemein verbreiteten Anschauung sollte zwischen diesen Klassen auch ein Wertunterschied bestehen; so stehe die erste Klasse am niedrigsten, da sie von den beiden notwendigen Momenten jeder menschlichen Rede nur das eine (die Bedeutung) lautlich ausdrücke. Die zweite Klasse drücke zwar die Beziehung aus, aber so, daß Beziehungs- und Bedeutungslaute lose nebeneinander stehen und die Beziehung sich immer noch als etwas Selbständiges neben der Bedeutung geltend mache.
Die dritte Klasse endlich stehe deswegen am höchsten, weil sie das im Denken Ungetrennte auch in einem einheitlichen Lautbilde durch die Veränderung des Wurzellautes selbst wiedergebe. Gegen diese Auffassung hat man mit Recht geltend gemacht, daß eine Wertbestimmung der Sprachen lediglich nach dem Gesichtspunkt vorgenommen werden dürfe, in welchem Maße eine Sprache ihren Zweck, Verständigungsmittel zu sein, erfülle; unleugbar wird dieser Zweck häufig von Sprachen niederer Stufe ebenso vollkommen, unter Umständen vielleicht vollkommener erfüllt als von Sprachen höherer Stufe.
Ferner ist es eine sehr verbreitete Anschauung, jene drei Klassen bildeten ein Entwicklungssystem und zwar in dem Sinne, daß jede höhere Klasse die niedere als Vorstufe voraussetze. Es habe also eine Zeit gegeben, wo auch das Indogermanische noch eine isolierende Sprache war, die dann in eine zusammenfügende übergegangen und schließlich zu einer flektierenden geworden sei. Der Begriff des Gehens z. B. wird in allen indogerman. Sprachen durch die Wurzel i ausgedrückt, der Begriff «ich» durch mi. «Ich gehe» würde also auf der isolierenden Stufe ausgedrückt sein i mi (gehen ich), wo beide Wurzeln getrennt sind und beide selbständigen Accent haben.
Die zusammenfügende Stufe würde beide Elemente verbinden und unter einen Accent bringen, imi. Im wirklich vorliegenden flektierenden Stande der indogerman. Sprachen aber lautet diese Form eimi (grch. εἶμι), d. h. während die Beziehung auf die erste Person durch das angefügte mi geblieben ist, hätte zugleich die Wurzel eine Veränderung erfahren, welche die Beziehung der dauernden Handlung (in der Grammatik das Präsens genannt) ausdrücke. Jetzt leugnet man jedoch mit Recht, daß wirklich eine innere Veränderung der Wurzel, in unserm Fall der Übergang von i zu ei, zum Zwecke der Beziehungsbezeichnung stattgefunden habe, man hält vielmehr solche Veränderungen der Wurzelsilbe für entstanden durch rein mechan. Lautbewegung (s. Vokalsteigerung). Damit ist überhaupt der principielle Unterschied zwischen agglutinierenden und flektierenden Sprachen geleugnet. Ferner weiß man auch nicht, ob Sprachen, die uns jetzt als isolierende erscheinen, von jeher so gewesen waren.
Eine andere Klassifikation in unorganische und organische Sprachen geht auf die Gebrüder Schlegel zurück. Die unorganischen Sprachen zerfallen in zwei Klassen, Sprachen ohne grammatische Struktur (die einsilbigen Sprachen Ostasiens) und Sprachen mit Affixen (die agglutinierenden). Die organischen Sprachen sind solche, die eine Flexion besitzen, und teilen sich in die synthetischen (alten) und die analytischen (modernen) Sprachen. Danach hat man unter analytischen Sprachen Idiome zu verstehen, die infolge lautlichen Verfalls und Verlustes der Flexionselemente am Ende der Worte die grammatische Form durch neue, der Syntax entlehnte Mittel wiedergeben müssen. So drückt man z. B. im Französischen das lat. caball-i «des Pferdes» durch de cheval «vom Pferde» [* 10] (lat. de caballo),
das lat. caball-o «dem Pferde» durch à cheval «zum Pferde» (lat. ad caballum),
das lat. cantabo «ich werde singen» durch chanterai «ich habe zu singen» (lat. cantare habeo) aus.
Wieder eine andere Einteilungsweise ist die sog. psychologische. Diese betrachtet die Sprache als Organ des Geistes und fragt wesentlich danach, ob die Sprache den Unterschied von Stoff und Form erfaßt und zum Ausdruck bringt. Sie stellt daher zwei Klassen auf, erstens Formsprachen, zweitens formlose Sprachen. Jede dieser Klassen zerfällt wieder in zwei Abteilungen, je nachdem die den Satz konstituierenden Elemente (die Worte) auf dem Princip der lockern Anreihung oder der Abwandlung beruhen. Zu den Formsprachen, welche die Form erfassen, dieselbe aber durch bloße Stellung ¶
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innerhalb des Satzes ausdrücken, gehört das Chinesische; Formsprachen, die auf dem Princip der Abwandlung beruhen, sind der indogerman. und der hamito-semit. Sprachstamm. Formlose Sprachen mit lockerer Anreihung (Nebensetzung) der Elemente sind die einsilbigen hinterind. Sprachen; zu den formlosen Sprachen mit Abwandlung gehören der uralaltaische, der malaio-polynesische, der dravidische, der Bantusprachstamm, die zahlreichen Sprachen Amerikas u. s. w.
Eine von andern Voraussetzungen als alle bisherigen ausgehende Einteilungsart ist die genealogische, bei der es nicht auf die formale, sondern auf die materielle Verwandtschaft, d. h. auf den geschichtlichen Zusammenhang der Sprachen ankommt. Zwei Sprachen können ihrem Bau nach verwandt sein und doch ist ein histor. Zusammenhang nicht vorhanden oder wenigstens nicht nachweisbar, und umgekehrt können die Abkömmlinge einer und derselben Sprache sich im Lauf der Jahrhunderte so verschieden entwickelt haben, daß man sie ihrem Bau nach verschiedenen Klassen zuzuschreiben hätte. Für die genealogische Einteilung ist schon in frühern Jahrhunderten manches geleistet worden, wie z. B. schon Leibniz richtig das Ungarische mit dem Finnischen, Lappischen, Samojedischen, Livischen und Esthnischen, und Lambert ten Kate (gest. 1731) die german. Sprachen, Gotisch, Hochdeutsch, Holländisch u. s. w., zu einer genealogischen Einheit zusammenfaßte.
Seit der Aufstellung des indogerman. Sprachstammes (s. Indogermanen) im Anfang unsers Jahrhunderts wurden solche Klassifikationsversuche eifrig fortgesetzt, und wenn diese Forschung auch jetzt noch nicht sehr weit gediehen ist, so liegt dies weniger daran, daß die Sprache vieler Völkerschaften und Stämme uns bis jetzt nur in dürftigen Proben zugänglich ist, als daran, daß wir bei den meisten Sprachen der Erde nur ihre heutige Form kennen, daß uns die Gestalt, die sie in frühern Jahrhunderten hatten, durchaus unbekannt ist.
Denn in der Regel liegt der gemeinsame Ausgangspunkt für eine Gruppe von verwandten Sprachen um viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende vor unserer Zeit, und bei der Veränderung, die die Sprachen ununterbrochen im Lauf der Zeit erfahren, stehen die von derselben Grundsprache ausgegangenen Sprachen heute oft so weit voneinander ab, daß ihre Zusammengehörigkeit nur festzustellen ist, wenn wir sie auch aus ältern Zeiten, auf einer weniger fortgeschrittenen Entwicklungsstufe kennen.
Noch muß darauf hingewiesen werden, daß die ethnologische Völkerklassifikation, die die Völker nach ihrer Rassenverwandtschaft ordnet, sich mit der genealogischen Sprachenklassifikation durchaus nicht immer deckt. Ein Volk kann die Sprache eines andern, nicht stammverwandten Volks annehmen, wie z. B. die zum finn. Volksstamm gehörigen Bulgaren die Sprache der von ihnen beherrschten Slawen angenommen haben und wie Indianerstämme Südamerikas sprachlich zu Spaniern geworden sind. Beide Klassifikationen durchkreuzen sich also vielfach.
Unter dem Vorbehalt, daß tiefer dringende Forschung mit der Zeit manche Korrekturen und Ergänzungen notwendig machen werden, kann man die Sprachen der Erde nach dem genealogischen Gesichtspunkt mit Friedrich Müller in folgende 18 Gruppen bringen:
1) die Hottentottensprachen (s. Afrikanische Sprachen);
2) die Papuasprachen Neuguinea, Philippinen u. s. w.);
3) die Negersprachen des mittlern Afrikas (s. Afrikanische Sprachen);
4) die Sprachen der Bantuvölker (s. d.);
5) die Australischen Sprachen (s. d.);
6) die hyperboreischen Sprachen, d. h. die Sprachen der Eskimo, Ostjaken, Kamtschadalen u. a.;
7) die Sprachen der Amerikanischen Rasse (s. d.);
8) die Malaio-Polynesischen Sprachen (s. d.);
9) die uralaltaischen Sprachen (s. Uralaltaische Völker und Sprachen);
10) Japanisch (s. Japanische Sprache, Schrift und Litteratur):
11) Koreanisch (s. Korea);
12) die sog. einsilbigen Sprachen; die chinesische (s. Chinesische Sprache, Schrift und Litteratur), tibetanische (s. Tibetische Sprache und Litteratur) und die hinterind. Sprachen:
13) die Dravidasprachen (s. Dravida und Dekanische Sprachen);
14) die Nubasprache;
15) die Baskische Sprache (s. d.);
16) die Kaukasischen Sprachen (s.d.);
17) das Hamito-Semitische (s. Hamitische Völker und Sprachen und Semitische Sprachen und Völker);
18) die Sprachen der Indogermanen (s. d.).
Eine Übersicht über alle diese Sprachstämme mit Proben aus den einzelnen giebt Friedr. Müllers «Grundriß der S.» (Bd. 1-3 in 6 Abteil., und Bd. 4, Abteil. 1, Wien 1876-88). Die Frage, ob einzelne von diesen 18 Sprachstämmen wieder untereinander enger zusammenhängen, ob z. B. die indogerman. Sprachen mit den hamito-semitischen aus einer gemeinsamen Urquelle geflossen sind, ist heute noch nicht spruchreif. Und so hat auch die S. keine Antwort auf die Frage, ob alle Sprachen der Erde von einem Punkte ausgegangen sind oder ob die Menschheit in verschiedenen Gegenden zugleich zum Sprechen kam. Die heutige Anthropologie ist geneigt, das letztere anzunehmen.
Eine gute populäre Darstellung der S. enthält Whitney, Die S. (deutsch von J. Jolly, Münch. 1874), eine kürzere dessen «Leben und Wachstum der Sprache» (deutsch von Leskien, Lpz. 1876). In streng wissenschaftlicher Form sind die Principien und die Methode der heutigen S. erörtert von H. Paul, Principien der Sprachgeschichte (2. Aufl., Halle [* 12] 1886) und von G. von der Gabelentz, Die S., ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (Lpz. 1891), zum Teil auch von B. Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium (3. Aufl., ebd. 1893) und K. Brugmann, Zum heutigen Stand der S. (Straßb. 1885). -
Vgl. auch Behaghel, Die deutsche Sprache (Lpz. 1886);
Gröber im «Grundriß der roman. Philologie», Bd. 1 (Straßb. 1888);
Paul im «Grundriß der german. Philologie», Bd. 1 (2. Aufl., ebd. 1896);
Giles-Hertel, Vergleichende Grammatik der klassischen Sprachen (Lpz. 1896).