weiter entwickelt haben. Die S. werden als
Vorläufer der
Rationalisten angesehen. Allerdings erkennen sie die
Notwendigkeit
einer übernatürlichen Offenbarung, die in der
Heiligen Schrift niedergelegt sei, an, beschränken aber nicht allein die
Inspiration derselben auf das religiös Wesentliche in ihr, sondern räumen auch der
Vernunft eine kritische
Stellung ein, ohne
freilich das Verhältnis von
Schrift und
Vernunft zu klarem
Ausdruck zu bringen. Am schärfsten ist ihr Gegensatz gegen die
herrschenden
Kirchen in den
Lehren
[* 2] von der Dreieinigkeit, der
Person und dem Werke Christi. Erstere verwerfen sie ganz als schrift-
und vernunftwidrig; in
Christus erkennen sie einen wirklichen, aber vomHeiligenGeiste erzeugten und im
Himmel
[* 3] von Gott selbst übernatürlich belehrten
Menschen, an dessen göttlicher Verehrung sie übrigens festhalten, dessen
erlöserische Thätigkeit nicht durch Zurechnung seines Verdienstes, sondern vermittelst moralischer Einwirkung erfolgt.
Sie selbst nennen sich
Unitarier. (S.
Antitrinitarier.)
Gesellschaftswissenschaft, die
Lehre
[* 7] von der Gesellschaft der
Menschen als einer
Vereinigung der
einzelnen Individuen zwecks Durchführung verschiedenartiger Zwecke. Der
Mensch ist seiner ganzen physischen und moralischen
Natur nach zum Zusammenleben und Zusammenwirken mit andern bestimmt. Isoliert würde er vielleicht notdürftig nach Art der
Wilden seine Existenz fristen können, aber geistig und moralisch auf der
Stufe der Wildheit stehen bleiben.
Sind die menschlichen
Vereinigungen auch vielfach auf Macht und Unterwerfung aufgebaut worden, so haben
sie doch auch dann eine gewiss qesellschaftliche Ordnung und damit auch die Möglichkeit von Kulturfortschritten erzeugt,
durch welche allmählich auch die ursprünglich Bedrückten und Ausgebeuteten zu bessern Lebenslagen und schließlich zur
Freiheit und gesellschaftlichen Selbständigkeit geführt wurden. Eine ordnende Zwangsgewalt bleibt
für den
Bestand der Gesellschaft unentbehrlich. Ihr
Träger
[* 8] ist der
Staat, durch den die Gesellschaft nach außen festen
Abschluß
und im Innern festen Halt für ihre einzelnen
Teile erhält. Außerdem ist der
Staat das Organ, durch das die Gesellschaft
als Ganzes gleichsam auf sich selbst zurückwirkt, zur Förderung ihrer allgemeinen Interessen und ihrer
Kulturentwicklung.
Die staatliche Thätigkeit bildet also einen
Teil des Gesellschaftslebens, erschöpft dasselbe aber keineswegs. Die Individuen
wirken innerhalb der Staatsordnung noch auf die mannigfaltigste
Weise aufeinander ein und unterhalten zu einander noch wichtige
engere
Beziehungen. Sie folgen selbsterzeugten
Sitten und Gewohnheiten, bilden besondere Gemeinschaften
unter sich, von denen die Familien und Geschlechter einerseits und die kirchlichen
Vereinigungen andererseits besonders hervorzuheben
sind; vor allem aber vollzieht sich der wirtschaftliche Prozeß und die dadurch bedingte Verteilung der
Güter zwar auf gewissen,
vom
Staate gegebenen und geschützten Grundlagen, aber im einzelnen doch unabhängig von
seiner Mitwirkung.
Durch die wirtschaftlichen Einflüsse und vor allem durch die Verteilung der
Güter entstehen innerhalb der Gesellschaft besondere,
von der staatlichen
Gliederung unabhängige
Schichtungen, Abhängigkeitsverhältnisse und Zusammenhänge. In erstern kann man
sogar von einem Gegensatze zwischen Gesellschaft und
Staat sprechen. Derselbe ist allerdings bis zur Gegenwart dadurch verdeckt
worden, daß die ökonomisch herrschenden
Klassen zugleich auch rechtlich oder thatsächlich die
Staatsgewalt
in
Händen hatten.
In der neuesten Zeit dagegen wird ihnen diese
Stellung ernstlich streitig gemacht, nicht nur von den Parteigängern der
Socialdemokratie
(s. d.), sondern auch von denjenigen Socialpolitikern, welche den
Staat über die gesellschaftlichen, durch die Besitzverschiedenheit
bedingten Parteien stellen wollen und ihm die
Aufgabe zuweisen, die socialen Gegensätze auf Grundlage
der bestehenden Rechtsordnung nach Möglichkeit zu mildern (s.
Socialpolitik). Auch insofern kann von einem Gegensatz zwischen
Staat und Gesellschaft gesprochen werden, als die gesellschaftlichen, namentlich die wirtschaftlichen
Beziehungen über die
Grenzen
[* 9] des einzelnen
Staates hinausgehen und daher die Entstehung kosmopolit.
Anschauungen begünstigen.
Vielfach wird auch der
Begriff der Gesellschaft in ganz allgemeinem
Sinne, ohne
Beziehung auf einen
Staat, als menschliche Gesellschaft
überhaupt genommen; dann ist er gleichbedeutend mit der Menschheit als einem sich geschichtlich entwickelnden, besondern
Gesetzen folgenden Ganzen und S. bedeutet dann die
Lehre von den typischen Erscheinungen und den Entwicklungsgesetzen
der Menschheit im ganzen. Während die polit. Geschichte wesentlich das Individuelle in den menschlichen Dingen darstellt
und namentlich das
Handeln der einzelnen bedeutenden und leitenden Individualitäten verfolgt, sucht die S. die allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, die das Dauernde in dem Wechsel der Einzelerscheinungen bilden, und die Ziele
zu erforschen, auf welche die erkannten oder vermuteten
Entwicklungen gerichtet sind.
Derartige Versuche sind, nachdem die theol. Weltanschauung ihren vorherrschenden Einfluß verloren hat, schon mehrfach und
von verschiedenen
Gesichtspunkten aus unternommen worden, so von Vico, Lessing, Herder,
Condorcet,
Hegel. Auch die
LehreSaint-Simons
war wesentlich S. oder Geschichtsphilosophie, begründet auf der Idee der
Entwicklung oder des Fortschritts.
Besondern Einfluß aber übte A. Comte, ursprünglich ebenfalls
Saint-Simonist, auf die neuere Gestaltung der S. aus.
Für ihn bildete sie die höchste
Stufe in der von ihm aufgestellten
Skala der Wissenschaften, und ihre
Aufgabe soll sein, die
Erscheinungen des Menschenlebens ebenso positiv wissenschaftlich zu beherrschen, wie der Astronom die
Planetenbewegung überschaut. Einen immerhin beachtenswerten, wenn auch unzulänglichen Versuch, Gesetze aus dem empirischen
geschichtlichen Material abzuleiten, hat
Buckle in seiner «Geschichte der
Civilisation in England» unternommen. Unter den neuesten
Arbeiten auf dem Gebiete der S. sind besonders die
Schriften von Herbert
Spencer zu nennen, der allerdings
vielfach in
Widerspruch mit Comte tritt, aber die positiv-exakte Methode streng befolgt, indem er zuerst die sociologischen
Thatsachen mit großem Fleiße sammelt und von ihnen aus durch Induktion
[* 10] zu Verallgemeinerungen und Gesetzen zu gelangen
sucht. Auf andere
Weise, nämlich mittels
¶
mehr
Ausführung der Analogien zwischen gesellschaftlichen und Naturerscheinungen, namentlich dem Sein und Leben der Organismen,
haben Carey, Schäffle, P. von Lilienfeld die S. zu behandeln gesucht.
Eine andere Auffassung der Gesellschaftswissenschaft ist die in Deutschland
[* 12] namentlich vonL. von Stein begründete. Hier handelt
es sich lediglich um die wissenschaftliche Darstellung der besondern Zusammenhänge und Beziehungen, die,
namentlich durch die Besitzverteilung begründet, abgesehen von der staatlichen Organisation, wenn auch nicht völlig unabhängig
von derselben, zwischen den Individuen bestehen. Das gesellschaftliche Leben mit seinen Ordnungen und Klassenunterschieden
wird als eigentümlicher Kreis
[* 13] von Erscheinungen behandelt, dessen Theorie sich zwischen der Lehre von den wirtschaftlichen
Gütern und der Staatslehre einschiebt.
Endlich wird die Gesellschaftswissenschaft von manchen auch als gleichbedeutend mit der Sociallehre oder Socialökonomie betrachtet,
nämlich mit derjenigen Auffassung, die nicht von der individualistischen Wirtschaft, sondern von den Bedürfnissen der Gesamtheit
ausgeht, und demnach die wirtschaftlichen Resultate nicht nur nach der Quantität der Produktion, sondern
auch nach der Art beurteilt, wie die Produkte zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse verteilt werden.
Litteratur. Spencer, Einleitung in das Studium der S. (2. Aufl., Lpz. 1890);
ders., Die Principien der S. (deutsch von Vetter,
Bd. 1-4, Stuttg. 1877-91);
Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers (2. Aufl., 2 Bde.,
Tüb. 1896);
L. von Stein, Der Begriff der Gesellschaft und die sociale Geschichte der Französischen Revolution
(ebd. 1850);