(lat.), im modernen (marxistischen)
Sinne diejenige nationalökonomische
Richtung, welche das Gemeineigentum
an den Produktionsmitteln an
Stelle des Privateigentums und die planmäßige kollektivistische Produktionsweise an
Stelle der
individualistischen anstrebt. Im weitern
Sinne versteht man unter S. alle diejenigen Bestrebungen, die seit
Plato bis zur Gegenwart
auf eine radikale Umänderung der wirtschaftlichen Rechtsordnung abzielen und namentlich gegen das Privateigentum
und die freie Konkurrenz gerichtet sind.
Als wichtige
Abarten des S. in diesem weitern
Sinne sind besonders hervorzuheben: a. Der
Kommunismus
(Babeuf u. s. w.) strebt
die Beseitigung des Privateigentums an den Produktions- und Konsumtionsmitteln an. b. Der Agrarsocialismus (Henry
George u. s. w.)
verlangt die Abschaffung nur des privaten Grundeigentums und des privaten Grundrentenbezugs, c. Der Genossenschaftssocialismus
(Louis
Blanc, Lassalle u. s. w.) fordert die
Bildung von Arbeiterproduktivgenossenschaften mit Staatsunterstützung, d. Der
Mutualismus (Proudhon u. s. w.) wünscht die Beseitigung von
Geld und
Zins, sonst aber die Aufrechterhaltung der individualistischen
Produktionsweise.
Der
Staats- und
Kathedersocialismus
(AdolfWagner u. s. w.) ist keine
Abart des S., ebensowenig der
Anarchismus
(Stirner,
Bakunin u. s. w.). Letzterer zielt auf Beseitigung jedes Rechtszwangs und jeder Rechtsordnung
ab, während der S. eine radikale Umänderung, also eine gänzlich neue Rechtsordnung fordert. Die
Socialdemokratie ist eine
polit. Partei, der S. eine wissenschaftliche nationalökonomische Schule.
In den verschiedenen
Ländern sind im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Menge socialistischer
Systeme der
verschiedensten
Richtungen ausgebildet worden; doch hat kein
Socialist solche Anhängerschaft gefunden wie
KarlMarx. Die Marxsche
Theorie beruht vor allem auf seiner materialistischen Geschichtsauffassung; diese findet sich zuerst klar niedergelegt
in dem von
Marx und
Engels herausgegebenen und 1848 erschienenen Kommunistischen
Manifest (6. Aufl., Berl.
1894).
Marx' materialistische Geschichtsauffassung gipfelt darin, daß alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen
gewesen sei, daß diese einander bekämpfenden
Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse der Produktions- und Verkehrsverhältnisse,
mit einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche seien, daß also die jedesmalige
Struktur der Gesellschaft die
reale Grundlage bilde, aus welcher der gesamte
Überbau der rechtlichen und polit.
Einrichtungen sowie der religiösen, philos. und sonstigen Vorstellungsweise eines Zeitalters in letzter Instanz zu erklären
sei. Den
Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Epoche glaubt
Marx in seiner Werttheorie gefunden zu haben. Danach
ist der
Tauschwert das Verhältnis, worin sich die verschiedenen Gebrauchswerte untereinander austauschen.
Das Austauschverhältnis der Waren bedeutet ihre mathem. Gleichsetzung; gleichgesetzt können sie aber nur werden, weil etwas
Gemeinsames in ihnen ist.
Alle Waren sind aber Arbeitsprodukte, nicht Produkte dieser oder jener
Arbeit, sondern der
Arbeit im allgemeinen, im abstrakten
Sinne, als Verausgabung menschlicher Hirn-,Nerven-, Muskelsubstanz u. s. w. Folglich ist es das
Quantum
gesellschaftlich notwendiger
Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswertes gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit,
welche
seine Wertgröße bestimmt,
d. i. die Arbeitszeit, die notwendig ist, um irgend einen Gebrauchswert mit den vorhandenen
gesellschaftlich normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrade von Geschick und Intensität
derArbeit darzustellen.
Die Arbeitszeit ist also das
Maß des Wertes, und jede Ware ist die normale Arbeitszeit wert, welche zu ihrer Herstellung
erforderlich ist. Dieser Grundsatz findet aber unter der Herrschaft des Kapitalismus auch auf die Ware «menschliche
Arbeitskraft» Anwendung: die
Arbeit des
Arbeiters ist dem Kapitalisten nur so viel wert als zu ihrer
Reproduktion
unbedingt nötig ist, d. h. der Preis, der dafür bezahlt wird, entspricht dem
Quantum an Subsistenzmitteln, welches nötig
ist, um die
Arbeitskraft zu erhalten;
der Kapitalist zahlt dem
Arbeiter so viel an Lohn, daß dieser leben und seine Gattung
erhalten kann.
Dieses
Quantum schafft aber derArbeiter in einem
Teil der täglichen Arbeitsstunden; der
Kapitalist läßt aber den
Arbeiter den vollen Arbeitstag arbeiten, den er so lange als möglich ausdehnt.
Alles, was der
Arbeiter
nun über den notwendigen Lebensunterhalt hinaus schafft, ist der Mehrwert,
den der Kapitalist dem
Arbeiter entzieht. Wie im
Altertum Sklaven und
Freie, im Mittelalter Leibeigene und Feudalherren sowie Zunftmeister und
Gesellen sich
gegenüber standen, so stehen sich in der modernen Gesellschaft die
Arbeiter und die
Besitzer der Produktionsmittel, Ausgebeutete
und Ausbeuter, einander gegenüber. Dieser Zwiespalt kann nicht andauern; auch das Privateigentum muß nach dem Gesetz der
Weltgeschichte in sein Gegenteil umschlagen, in das Gemeineigentum; die kapitalistische Produktionsweise
trügt schon den socialistischen
Staat als
Embryo in ihrem
Schoße, aus dem er sich völlig unabhängig vom
Denken,
Wollen und
Wünschen der
Menschen losringen wird.
Wie nun auf dieser allgemeinen Grundlage des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln sich der socialistische Zukunftsstaat
im einzelnen gestaltet, darüber fehlt es an offiziellen Darlegungen seitens der
Socialisten; es sei unmöglich,
ein solches
Bild zu entwerfen, weil die zukünftige
Entwicklung der
Technik und anderer auf das Wirtschaftsleben einwirkender
Faktoren von niemandem vorausgesagt werden könne. Doch finden sich in manchen von einzelnen socialistischen Schriftstellern
herausgegebenen
Broschüren Andeutungen, nach denen man ungefähr sich ein
Bild davon machen kann, wie
die wirtschaftliche Einrichtung des socialistischen Zukunftsstaates gestaltet sein soll, vor allem in dem
Buch von
Bebel «Die
Frau und der S.» (27. Aufl., Stuttg. 1896). Doch giebt dieses
Werk nicht die offiziellen
Anschauungen der socialdemokratischen Partei, sondern nur die persönlichen
Ansichten des Verfassers
wieder.
Danach wird, sobald die Gesellschaft im alleinigen
Besitz aller Arbeitsmittel sein wird, die gleiche Arbeitspflicht
aller, ohne Unterschied des Geschlechts, der erste Grundsatz der socialisierten Gesellschaft. Die Gesellschaft läßt durch
Beamte genau die Art und Zahl der verfügbaren Kräfte sowie die zu befriedigenden Bedürfnisse feststellen; nach diesen
statist. Feststellungen wird die
Größe und Art der einzelnen Produktionszweige bemessen, und daraus
ergiebt sich auch das
Maß für die tägliche Arbeitszeit, die
Bebel auf etwa 2-4
Stunden veranschlagt. - Es soll zwar freie
Berufswahl herrschen; wenn sich aber in gewissen
¶
mehr
Berufszweigen Überfluß, in andern Mangel an Kandidaten herausstellt, so soll die socialistische Centralbehörde durch Abkommandierungen
einen Ausgleich herbeiführen. Die besonders unangenehmen Arbeiten sollen abwechselnd von allen Menschen verrichtet werden.
- Jeder erhält für die gleiche Arbeitszeit die gleiche Anzahl Arbeitsnoten; diese verdrängen völlig das Geld, da jeder
dafür aus den Staatsmagazinen die gewünschten, nach Arbeitszeit bewerteten Gegenstände entnehmen kann.
Der S. bedeutet indessen nicht allein eine tief in das Wirtschaftsleben eingreifende Neuerung, auch wichtige andere Lebensverhältnisse
werden durch ihn berührt; vor allem muß hier die Stellung des S. zur Religion, zur Ehe und zum Vaterland in Betracht gezogen
werden. Was die Stellung des S. zur Religion betrifft, so läßt sich nicht etwa behaupten, daß der S.
an sich religionsfeindlich, atheistisch sei, es hat sehr religiöse Socialisten gegeben, z. B. den franz. SocialistenSaint-Simon.
Doch hat der moderne marxistische S. allerdings eine ausgeprägte antireligiöse Richtung. Nach Marx' Kommunistischem Manifest
sind auch die religiösen Einrichtungen nur die Konsequenzen der wirtschaftlichen Einrichtungen; die
christl. Religion ist die dem Privateigentum entsprechende religiöse Ideologie; sie soll bezwecken, den Armen mit der Hoffnung
auf ein besseres Jenseits zu trösten, wenn es ihm auf Erden schlecht geht. Mit der Beseitigung des Privateigentums verschwinde
auch die Religion von selbst. Das neueste Programm der deutschen socialdemokratischen Partei drückt sich
etwas gemäßigter aus;
jedenfalls dürfe nie aus öffentlichen Mitteln etwas
für religiöse Zwecke gegeben werden. - In der Frage der Regulierung der Geschlechtsverhältnisse sind ebenfalls die Socialisten
nicht einig;
es hat Socialisten gegeben, die sehr warm für die Ehe und für das Familienleben eingetreten
sind, z. B. Proudhon.
Auch hier ist der moderne marxistische S. anderer Ansicht; er vertritt die radikale und vom socialistischen
Standpunkt aus konsequentere Anschauung, daß das Ehe- und Familienleben nicht in die socialistische Gesellschaft passe. Solange
es Privateigentum gäbe, sei auch die Monogamie und Einzelfamilie die nötige Ergänzung dazu; nach dem
Fallen
[* 3] des Privateigentums müsse auch diese Einrichtung verschwinden. Der S. will nicht gänzliche Beseitigung der Ehe, sondern
nur die Form des geschlechtlichen Zusammenlebens, wonach die Paare wieder auseinander gehen sollen, wenn sich Abneigung herausstellt,
also eine Art Wechselehe.
In der That würde auch die Monogamie und das Familienleben schlecht zu der wirtschaftlichen Grundlage
des socialistischen Staates passen, der allen den gleichen Arbeitsertrag gewährt ohne Rücksicht auf die Anzahl ihrer Kinder;
auch verlangt häufig die socialistische Centralbehörde eine männliche Arbeitskraft an einem bestimmten Platz, wo aber gerade
für seine Frau und seine Kinder kein Raum vorhanden ist;
die ganze Einrichtung des socialistischen Staates
läßt überdies für die Bethätigung des häuslichen Lebens gar keinen Spielraum;
in Centralnahrungsbereitungsanstalten
soll gekocht, in Centralreinigungsanstalten die Wäsche gewaschen und getrocknet werden;
ferner existieren Centralheizungs-
und andere Einrichtungen;
die Kinder sollen in Centralerziehungsanstalten untergebracht werden. - Was
schließlich die Stellung des S. zum Vaterland betrifft, so ist der S. nicht durchweg international gesinnt;
der moderne marxistische S. dagegen ist international.
Im Kommunistischen Manifest heißt es, daß die Arbeiter kein Vaterland hätten, daß mit dem Gegensatz der Klassen im Innern
auch die feindliche Stelluug der Nationen gegeneinander fortfalle, daß die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung
unter das Kapital dieselbe sei in England, in Frankreich, in Amerika,
[* 4] in Deutschland;
[* 5]
so müsse auch die
socialistische Bewegung einen durchaus internationalen Charakter haben.
Geschichte. Der S. ist keine moderne Erscheinung; vielmehr hat es schon seit den ältesten Zeiten immer Bestrebungen und Theorien
gegeben, die gegen das Privateigentum gerichtet waren und an seine Stelle das Gemeineigentum setzen wollten; aber erst Ende
des 18. und Anfang des 19. Jahrh. ist der S. zu einem wissenschaftlichen System ausgebildet worden. Plato entwirft bereits
in seinem «Staat» das Bild eines kommunistischen Gemeinwesens, in dem für die regierenden Klassen das Privateigentum aufgehoben,
Weibergemeinschaft und staatliche Kindererziehung eingeführt ist.
Als einer der wichtigsten Vorläufer des modernen S. und besonders der neuern Utopien ist der engl. KanzlerThomas Morus zu nennen, der Verfasser der 1516 erschienenen Utopie: «De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia»;
diese Schrift ist deshalb wichtig, weil sie nicht nur ein vollständiges Idealbild einer kommunistischen Gesellschaftsordnung
entwirft, sondern besonders auch, weil der Verfasser zu dieser Schilderung durch die «sociale Frage» seiner
Zeit gedrängt wurde, die aus der massenhaften Verdrängung der kleinen Grundbesitzer und der Latifundienbildung entsprang.
Außer dieser Utopie sind bis auf die neueste Zeit zahreiche ^[richtig: zahlreiche] ähnliche Werke erschienen. (S. Staatsromane.)
Namentlich aber zur Zeit vor und während der großen Französischen Revolution entstanden eine ganze
Reihe von Ideen, die von großem Einfluß auf die Ausgestaltung des modernen S. wurden. Zwar trug die große Französische
Revolution einen vorwiegend polit. Charakter an sich, im Gegensatz zu der Februarrevolution von 1848, die eine sociale Revolution
war; aber dennoch weist jene Zeit auch mannigfache sociale Bewegungen und Theorienauf und am Ausgang der
eigentlich revolutionären Periode kam es zu einer ausgebreiteten kommunistischen Verschwörung, deren Zweck war, die kommunistischen
Theorien in die Praxis zu überführen.
Wenn auch die socialistischen Theorien jener Zeit noch nicht dem S. im modern wissenschaftlichen Sinne zugerechnet werden können,
so zeichnen sie sich durch die tiefere rechtsphilos. Begründung aus; die meisten franz. Socialisten bekämpfen
das Eigentum als dem Naturrecht widersprechend. Hier ist an erster StelleJean Jacques Rousseau zu nennen, der, wenn auch nicht
Socialist, doch durch seine Lehren
[* 6] auf die nachfolgenden socialistischen Systeme von größtem Einfluß gewesen ist. 1754 erschien
die AbhandlungRousseaus«Über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen, und ob sie
durch das Naturgesetz geheiligt sei?». Dort findet sich auch die berühmte Stelle: «Der erste, der einen Platz einfriedigte
und sich einfallen ließ, zu sagen: das ist mein, und Leute fand, die einfältig genug waren, ihm dies
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