die Industrie durch die Maschinentechnik immer großartiger, und die Produktion wurde mehr und mehr eine Weltmarktproduktion.
Durch diese ökonomische
Entwicklung ergaben sich für den
Arbeiter eine Reihe von Gefahren, die früher bei dem Zunftwesen
und bei der staatlichen Reglementierung der
Gewerbe ganz unbekannt waren. Je nachdem
die Industrie in einem
Lande zur
Entwicklung kam und
Gewerbefreiheit eingeführt wurde, traten diese Mißstände zu verschiedenen
Zeiten in den verschiedenen
Ländern auf; im allgemeinen ist das Ende des 18. und der Anfang des 19. Jahrh. als der
Beginn des Auftretens der S. F. in diesem
Sinne zu bezeichnen.
Als solche Übelstände traten namentlich hervor die durch die Produktion für den Weltmarkt und für
unbekannte Absatzkreise bedingte Unsicherheit des Einkommens;
eine oft übermäßige Arbeitszeit, besonders wenn die Konjunktur
die Ausnutzung der
Arbeitskraft vorteilhaft machte;
Nachtarbeit und
Sonntagsarbeit im Interesse möglichst gesteigerter Produktion;
gesundheits- und lebensgefährliche Beschäftigung in Fabriken, schlechte und ungesunde
Arbeiterwohnungen, moralische Übelstände
durch Zusammenarbeiten von Männern und Frauen in geschlossenen Räumen, große Ausnutzung der Frauen- und
Kinderarbeit. -
Gegenüber diesen Übelständen treten verschiedene
Richtungen auf, die nach ihrer Art diese S. F. lösen oder doch ihrer
Lösung näher bringen wollen.
Als wichtigste socialpolit. Strömungen seien die folgenden aufgeführt:
1) Die Manchesterrichtung. Diese Partei faßt die
Arbeiterfrage wesentlich als Lohnfrage auf, so daß
es
Aufgabe der
Socialpolitik sei, hauptsächlich höhern Lohn zu ermöglichen, dann verschwänden die übrigen Mißstände
größtenteils von selbst. Einen
Eingriff der
Staatsgewalt zu Gunsten der
Arbeiterklasse durch Arbeiterschutz und
Arbeiterversicherung
halten die wenigen
Anhänger der extremsten
Richtung dieser Partei nicht für notwendig; mit der Selbsthilfe
durch Genossenschaften,
Sparkassen,
Konsumvereine u.s. w. könnten die
Arbeiter auch einen großen
Teil der socialen Schwierigkeiten
beseitigen.
2) Im geraden Gegensatz zu dieser
Richtung, die in der möglichsten
Freiheit das
Heil erblickt, steht die socialistische
Richtung
auf dem Standpunkte, daß die auf dem Privateigentum und der freien Konkurrenz beruhende Wirtschaftsordnung
überhaupt unfähig sei, in der S. F. irgend etwas Erhebliches zu bessern; diese Mißstände seien eng verknüpft mit der
privatkapitalistischen Produktionsweise, nur die Beseitigung des Privateigentums und die Produktion auf dem
Boden des gesellschaftlichen
Eigentums nach gesellschaftlich geregelten Grundsätzen könnte helfen. (S.
Socialismus.)
3)In derMitte zwischen den beiden
Extremen des reinen
Individualismus und des
Socialismus steht die
Richtung
der socialen
Reform.
Ohne daß das Privateigentum negiert wird, wird doch von dieser Partei auch der einseitige Grundsatz des
laisser-faire, laisser-aller verpönt; vielmehr müßten
Staat und Gesellschaft durch Gesetzgebung und freiwillige
Beihilfe
den schweren Mißständen, die unzweifelhaft vorhanden seien, entgegentreten. Diese socialreformatorische
Richtung, die in allen
Ländern vertreten ist, und die je nach Zeit und Ort verschiedene Anforderungen an die Gesetzgebung
stellt, ist doch im allgemeinen darin einig, daß besonders durch Arbeitsschutzgesetzgebung, durch Zwangsversicherung, durch
staatliche
Beaufsichtigung der Fabriken u. s. w.
zu Gunsten der
Arbeiterklasse eingegriffen werden muß.
In
Deutschland
[* 2] ist diese
Richtung besonders seit Anfang der siebziger Jahre stark ausgebildet; sie hatte zuerst den Spottnamen
Kathedersocialismus (s. d.). In der neuern deutschen socialpolit. Gesetzgebung
ist diese socialreformatorische
Richtung klar zum
Ausdruck gekommen. In einzelnen Punkten haben die
Anhänger der Socialreform
noch viele andere Forderungen aufgestellt; doch herrscht hier nicht in allen Punkten Einigkeit, so in der
Empfehlung der Gewerkvereine (s. d.), der Gewinnbeteiligung (s. d.)
der
Arbeiter und der
Arbeitslosigkeitsversicherung (s. d.).
Soweit die
Richtung der staatlichen
Socialpolitik und Socialreform einen religiösen Charakter hat, betrachten sie die Stärkung
der Religiosität als Hauptaufgabe und in zweiter Linie die wirtschaftliche Besserung durch allerlei
sociale Reformmaßregeln. Diese Bestrebungen sind in der evang. und auch in der kath.
Kirche vorhanden. (S.
Socialismus, S. 16.)
Litteratur.
Vgl. den
Artikel: Die gewerbliche
Arbeiterfrage in Schönbergs «Handbuch der polit. Ökonomie» (Tüb.
1891);
Prince-Smith, Gesammelte
Schriften, Bd. 1 (ebd.
1877). - Zur Kennzeichnung der socialistischen Partei: Oldenderg, Die Ziele der deutschen
Socialdemokratie
(Lpz. 1891);
Praxis, in
Leipzig
[* 5] erscheinende socialpolit. Wochenschrift, seit (Redacteur: Ernst Francke) Organ
einer Gesellschaft von Männern, die beabsichtigen für die Fortführung der Socialreform auf der Grundlage der kaiserl.
Erlasse vom öffentlich zu wirken. Die
S. P. erschien bisher in
Berlin
[* 6] und wurde seit 1895 von
J. Jastrow als
Neue Folge der
«Blätter für sociale Praxis» (1893-95 hg. von
Brückner) und des «Socialpolit. Centralblattes»
(1892-95 hg. von
Braun) herausgegeben, mit der Monatsbeilage «Das
Gewerbegericht», Organ des
Verbandes deutscher
Gewerbegerichte.