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Eine ganz neue Wendung in der Geschichte der deutschen S. datiert vom J. 1878, wo nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm Ⅰ., unter Hinweis darauf, daß die radikalen socialdemokratischen Theorien auf die leicht erregbaren Massen von verderblichster Wirkung seien, ein Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S. (Socialistengesetz) erlassen wurde Regierung und Polizei konnten und durften überall, wonach ihrer Ansicht socialdemokratische, socialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage traten, diese Bestrebungen unterdrücken.
Infolgedessen wurden eine Menge socialistischer Zeitungen und Schriften verboten, viele Vereine aufgelöst, viele Personen aus ihren Wohnorten ausgewiesen. Daneben begann Fürst Bismarck eine Gesetzgebung einzuleiten, die auf die positive Förderung der Lage der arbeitenden Klassen gerichtet war. Ihre Grundgedanken waren in der kaiserl. Botschaft vom ausgesprochen; sie brachten allmählich das Kranken-, das Unfall- und das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (s. Arbeiterversicherung). Beide Maßregeln hatten nur teilweise Erfolg: die S. wuchs immer mehr an, bis sie bei den Reichstagswahlen von 1890 mit 1427000 Stimmen die höchste Stimmenzahl von allen Parteien erlangte und 35 Abgeordnete durchbringen konnte. Das Socialistengesetz, das seinen Ablaufstermin erreicht hatte, wurde nicht wieder erneuert, und die Regierung entschloß sich, auf das Ausnahmegesetz zu verzichten.
Parteikongresse hatten in der Zwischenzeit im Auslande stattgefunden, und zwar Aug. 1880 in Schloß Wyden (Schweiz), [* 2] wo das Programm insoweit geändert wurde, als man beschloß, nicht mehr wie bisher «mit allen gesetzlichen Mitteln» für die Ziele des Kommunismus einzutreten, sondern «mit allen Mitteln», ferner in Kopenhagen [* 3] (April 1883) und in St. Gallen (Okt. 1887).
Sofort nach dem Erlöschen des
Socialistengesetzes wurde ein
Kongreß der socialdemokratischen Partei berufen, der 12. bis in
Halle
[* 4] tagte und den Parteivorstand beauftragte, dem nächsten
Kongreß den
Entwurf eines revidierten Programms
vorzulegen.
Schon auf dem Hallenser
Kongreß hatte sich
Liebknecht sehr scharf gegen die Lassalleschen Ideen ausgesprochen;
diese auszumerzen, war die Hauptaufgabe für
das neue Programm. Die Lassallesche Forderung der «Zerbrechung des ehernen
Lohngesetzes» und diejenige der «Errichtung von Produktivgenossenschaften»
wurde daher
auf dem
Erfurter Kongreß (14. bis gestrichen und
das neue
Erfurter Programm ganz
im marxistischen
Sinne redigiert. Der Wortlaut dieses Programms ist folgender:
Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand [* 5] in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, [* 6] geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit.
Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten (Kleinbürger, Bauern) bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung. Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter (Kapitalisten, Großgrundbesitzer) in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, [* 7] Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in socialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle [* 8] des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle andern Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein polit.
Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne polit. Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der polit. Macht gekommen zu sein. Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen, das ist die Aufgabe der socialdemokratischen Partei. Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit ¶
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kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung [* 10] des Weltverkehrs [* 11] und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den andern Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die socialdemokratische Partei Deutschlands [* 12] sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder.
Die socialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse. - Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die socialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:
1) Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 J. alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportionalwahlsystem; und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung polit. Rechte außer im Falle der Entmündigung.
2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volks in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.
3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.
4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.
5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen.
6) Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.
7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höhern Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weitern Ausbildung geeignet erachtet werden.
8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistands. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.
9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.
10) Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolit. Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern. - Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die socialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:
1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a. Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normalarbeitstags; b. Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c. Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit erheischen; d. eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; d. Verbot des Trucksystems.
2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygieine.
3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.
4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.
5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.
Die auf dem Frankfurter Parteitage (1894) gewählte Agrarkommission zur Ergänzung des Programms mit Rücksicht auf die ländlichen Verhältnisse legte ihre Arbeit dem 6. bis in Breslau [* 13] stattfindenden Parteitage vor. Der Entwurf forderte eine Reihe von Maßregeln zu Gunsten des ländlichen Mittelstandes; er wurde aber abgelehnt.
Was die Parteiorganisation betrifft, so konnte sich die socialdemokratische Partei Deutschlands, wie sie sich jetzt nannte,
mit Rücksicht auf das geltende Vereinsgesetz nicht als geschlossenen Verband
[* 14] von Vereinen konstituieren. Es wird daher
jede
Person der socialdemokratischen Partei zugerechnet, die sich zu den Grundsätzen des Programms bekennt.
Als oberste Instanz gilt der alljährlich zu berufende Parteitag. Zur Teilnahme daran sind berechtigt: die Delegierten der
einzelnen Reichstagswahlkreise, die Reichstagsabgeordneten und die Parteileitung.
Diese, auf dem Parteitag selber gewählt, besteht aus 12 Mitgliedern, von denen 5 mit der Führung der Geschäfte betraut sind, während die andern 7 nur die Kontrolle ausüben. Die Parteileitung tritt mit den Vertrauensmännern der «Genossen» jedes Wahlkreises in Verbindung, beruft die Parteitage und kontrolliert die principielle Haltung der Parteiorgane. Am wurde durch Verfügung des Berliner [* 15] Polizeipräsidenten wegen Verletzung des Vereinsgesetzes der Parteivorstand aufgelöst, worauf die Leitung auf die socialdemokratische Reichstagsfraktion überging und von einem provisorischen geschäftsführenden Ausschuß in Hamburg [* 16] übernommen wurde. Durch gerichtliche Entscheidung wurden die Hauptbeteiligten freigesprochen, und auf dem Hamburger Parteitage wurde 1897 ¶