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S.
S.
(lat.), das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betreffend.
die polit. Partei, welche die Gesellschaftsordnung nach den Principien des Socialismus (s. d.) umgestalten will. Die S. ist vom Socialismus wohl zu unterscheiden; letzterer ist eine wissenschaftliche Richtung und zwar in ihrer neuesten Form diejenige nationalökonomische Schule, welche die Kollektivierung der Produktionsmittel anstrebt. Die S. dagegen ist eine polit. Partei, die ein konkretes polit. Programm aufstellt, das auch sofort auszuführende gesetzgeberische Forderungen enthält. Die socialdemokratischen Parteien der verschiedenen Länder haben verschiedene Ziele und Tendenzen; in neuerer Zeit ist jedoch Karl Marx (s. d.) immer mehr maßgebend für fast alle ihre Bestrebungen geworden. Besonders die deutsche Arbeiterbewegung, die heute die großartigste Organisation und Ausdehnung [* 2] unter allen Kulturländern besitzt, ist jetzt streng marxistisch.
Die deutsche S. ist aus zwei Wurzeln hervorgegangen; sie knüpft, abgesehen von der schon vor 1848 hervorgetretenen socialistischen Agitation von Wilhelm Weitling, die eine Abzweigung des franz. Socialismus war, an die beiden Namen Lassalle und Marx an. Im Febr. 1863 wurde Ferdinand Lassalle von dem Centralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Arbeiterkongresses in Leipzig [* 3] aufgefordert, ein polit.-sociales Programm für die Arbeiteragitation zu entwerfen. Er veröffentlichte das «Offene Antwortschreiben an die Leipziger Arbeiter» (vom worin er seine Grundanschauungen darlegt. Dieses Programm (s. Socialismus) bildete die Grundlage des gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der die erste (centralistische) Organisation der socialdemokratischen Partei darstellt. Trotz lebhafter Agitation waren die Erfolge des Vereins nicht sehr glänzend; bei Lassalles Tod (1864) hatte er 4600 Mitglieder in 32 Orten.
Neben dieser Lassalleschen Richtung bildete sich eine zweite aus, die auf den Theorien von Karl Marx fußte. Dieser, der schon 1846 in Brüssel [* 4] Mitglied des internationalen geheimen Kommunistenbundes gewesen war, verfaßte mit Engels das «Kommunistische Manifest» (6. Aufl., Berl. 1894), das Anfang 1848 zuerst veröffentlicht wurde und von da an die wichtigste Grundlage des Marxismus geblieben ist. (S. Socialismus.) Die Frage, ob die Umwandlung der Gesellschaftsordnung auf friedlichem oder auf revolutionärem Wege erfolgen müsse, wurde von Marx anfangs entschieden in letzterm Sinne beantwortet.
Nach den Erfahrungen mit der franz. Februarrevolution und dem Pariser Communeaufstand wurde jedoch in der Auflage des Manifests von 1872 ausdrücklich gesagt, daß auf die revolutionären Maßregeln kein Gewicht mehr gelegt werde; vielmehr sei der Übergang zur neuen Gesellschaftsform ohne Gewaltthat und Blutvergießen erreichbar. Die Taktik der marxistischen internationalen S. ist seitdem darauf gerichtet, die ökonomische und polit. Macht der Arbeiterklasse zu stärken, so daß die Expropriation des Privateigentums auch auf gesetzlichem Wege sich vollziehen könne.
Die Marxschen Ideen drangen bald sehr mächtig, besonders nach der Märzrevolution, in die deutsche Arbeiterbewegung ein. Es bildeten sich zahlreiche Arbeitervereine, von denen eine große Zahl sich zu einer Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung vereinigte, die bald einen ausgesprochen socialrevolutionären Charakter annahm. Die Führer des Kommunistenbundes hatten die Rheinprovinz [* 5] zu ihrem Hauptarbeitsfeld gemacht, wo die von Marx geleitete «Neue Rheinische Zeitung» ihr Programm vertrat.
Nach dem Triumph der Reaktion bei der Niederschlagung des bad. Aufstandes wurde der deutsche Kommunistenbund 1850 in London [* 6] reorganisiert. Marx behauptete seine Diktatur, nachdem eine dissentierende Gruppe sich von ihm losgesagt hatte. Praktisch war dieser Bund jedoch ohne alle Bedeutung, und der im Nov. 1852 entschiedene Kölner [* 7] Kommunistenprozeß gab ihm vollends den Todesstoß, wenn auch die internationalen Umtriebe von London aus nie gänzlich aufhörten. 1864 wurde die Internationale Arbeiterassociation auf marxistische Principien begründet. (S. Internationale.) Die deutschen Anhänger dieser marxistischen internationalen Bestrebungen gründeten eine der Lassalleschen entgegengesetzte Partei, die Socialdemokratische Arbeiterpartei; ihr Programm, das im Aug. 1869 in Eisenach [* 8] festgestellt wurde, ist in streng marxistischem Sinne redigiert.
Diese «Eisenacher» Partei, in der besonders Bebel und Liebknecht hervortraten, entwickelte sich kräftig neben der Lassalleschen Richtung; bei der Reichstagswahl 1874 erhielten die Socialdemokraten 340000 Stimmen, wovon die Hälfte etwa auf die Eisenacher, die andere Hälfte auf die Lassalleaner gefallen war. Als in demselben Jahre mit harten Maßregeln von seiten der Polizei gegen diese Organisationen vorgegangen wurde, als endlich die gerichtliche Schließung beider Vereine erfolgt war, suchten beide Richtungen sich in äußerlich zusammenhanglosen Vereinen, aber nach gemeinschaftlichem Programm zu verschmelzen. Auf dem Kongreß, der 22. bis in Gotha [* 9] tagte, wurde die Vereinigung vollzogen; das Gothaer Programm ist also ein Kompromißprogramm zwischen den Eisenachern und Lassalleanern. Neben den Tendenzen internationaler kommunistischer Natur finden sich dort aber auch Konzessionen an die Lassalleschen Ideen und Vorschläge. ¶
Eine ganz neue Wendung in der Geschichte der deutschen S. datiert vom J. 1878, wo nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm Ⅰ., unter Hinweis darauf, daß die radikalen socialdemokratischen Theorien auf die leicht erregbaren Massen von verderblichster Wirkung seien, ein Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S. (Socialistengesetz) erlassen wurde Regierung und Polizei konnten und durften überall, wonach ihrer Ansicht socialdemokratische, socialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage traten, diese Bestrebungen unterdrücken.
Infolgedessen wurden eine Menge socialistischer Zeitungen und Schriften verboten, viele Vereine aufgelöst, viele Personen aus ihren Wohnorten ausgewiesen. Daneben begann Fürst Bismarck eine Gesetzgebung einzuleiten, die auf die positive Förderung der Lage der arbeitenden Klassen gerichtet war. Ihre Grundgedanken waren in der kaiserl. Botschaft vom ausgesprochen; sie brachten allmählich das Kranken-, das Unfall- und das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (s. Arbeiterversicherung). Beide Maßregeln hatten nur teilweise Erfolg: die S. wuchs immer mehr an, bis sie bei den Reichstagswahlen von 1890 mit 1427000 Stimmen die höchste Stimmenzahl von allen Parteien erlangte und 35 Abgeordnete durchbringen konnte. Das Socialistengesetz, das seinen Ablaufstermin erreicht hatte, wurde nicht wieder erneuert, und die Regierung entschloß sich, auf das Ausnahmegesetz zu verzichten.
Parteikongresse hatten in der Zwischenzeit im Auslande stattgefunden, und zwar Aug. 1880 in Schloß Wyden (Schweiz), [* 11] wo das Programm insoweit geändert wurde, als man beschloß, nicht mehr wie bisher «mit allen gesetzlichen Mitteln» für die Ziele des Kommunismus einzutreten, sondern «mit allen Mitteln», ferner in Kopenhagen [* 12] (April 1883) und in St. Gallen (Okt. 1887).
Sofort nach dem Erlöschen des Socialistengesetzes wurde ein Kongreß der socialdemokratischen Partei berufen, der 12. bis in Halle [* 13] tagte und den Parteivorstand beauftragte, dem nächsten Kongreß den Entwurf eines revidierten Programms vorzulegen. Schon auf dem Hallenser Kongreß hatte sich Liebknecht sehr scharf gegen die Lassalleschen Ideen ausgesprochen; diese auszumerzen, war die Hauptaufgabe für das neue Programm. Die Lassallesche Forderung der «Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes» und diejenige der «Errichtung von Produktivgenossenschaften» wurde daher auf dem Erfurter Kongreß (14. bis gestrichen und das neue Erfurter Programm ganz im marxistischen Sinne redigiert. Der Wortlaut dieses Programms ist folgender:
Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand [* 14] in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, [* 15] geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit.
Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten (Kleinbürger, Bauern) bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung. Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter (Kapitalisten, Großgrundbesitzer) in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, [* 16] Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in socialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle [* 17] des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle andern Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein polit.
Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne polit. Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der polit. Macht gekommen zu sein. Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen, das ist die Aufgabe der socialdemokratischen Partei. Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit ¶