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begünstigt durch die 1804 mit Frankreich, 1868 mit Österreich [* 2] und Italien, [* 3] 1869 mit dem Deutschen Zollverein u. s. w. abgeschlossenen Post- und Handelsverträge. Große Arbeiten, wie die Korrektionen der Rhône, des Rheins, der Juragewässer wurden mit vereinten Kräften in Angriff genommen, das schweiz. Eisenbahnnetz erweitert, das schweiz. Polytechnikum gegründet, 1869 das Zustandekommen des Unternehmens der Gotthardbahn (s. d.) ermöglicht.
Seit 1866 trat auch die Bundesrevision wieder in den Vordergrund, und ihre Notwendigkeit wurde, mit Ausnahme der ultramontanen Kantone, in der ganzen S. anerkannt. Über Art und Umfang der Revision gingen die Ansichten weit auseinander. Ein erster Versuch 1866 scheiterte größtenteils. In den meisten größern Kantonen der deutschen S. wurden diese Bestrebungen durch kantonale Verfassungsrevisionen eingeleitet. Dem Beispiel Basel-Lands, das schon 1863 durch Einführung des Referendums (s. d.) seine Verfassung in demokratischem Sinne umgestaltet hatte, folgten 1868-69 Zürich, [* 4] Bern, [* 5] Aargau, Thurgau, Solothurn [* 6] u. s. w. Bei der Bundesrevision stellten sich die Kantone der französischen S., ohne die Notwendigkeit mancher Reformen zu leugnen, auf den Boden der Kantonalsouveränität, wiesen jede Verstärkung [* 7] des Bundes, namentlich im Rechtswesen, von der Hand [* 8] und wollten von der Bundesrevision nur das annehmen, was speciell ihren Interessen entsprach. In der ultramontanen Urschweiz, ebenso in Freiburg [* 9] und Wallis, wollte man von einer Revision principiell nichts wissen. Trotzdem wurde von der überwiegend radikalen Bundesversammlung die Bundesrevision im Princip beschlossen.
Mitten in die Debatte der Gotthardfrage war 1870 die Nachricht von der franz. Kriegserklärung gefallen; die erste Aufgabe der Räte war deshalb die Wahrung der schweiz. Neutralität, die auch von der eidgenössischen Armee unter General Herzog strikt gewahrt wurde, namentlich indem die 85000 Mann starke franz. Armee («Bourbaki-Armee») auf Schweizergebiet hinübergedrängt, hier entwaffnet und interniert wurde.
Die Bundesrevisionsfrage, die für einige Zeit in den Hintergrund gedrängt worden war, wurde nach eingetretenem Frieden mit neuem Eifer wieder in die Hand genommen, und beschloß die Bundesversammlung, den Entwurf der revidierten Bundesverfassung dem Volke zur Abstimmung vorzulegen. Dieser Entwurf hielt an der Organisation der S. als Bundesstaat fest, suchte aber die Kompetenzen des Bundes gegenüber den Kantonen bedeutend zu erweitern und zu kräftigen.
Seine Hauptpunkte waren völlige Centralisation des Heerwesens, die Unifikation des Rechts und obligatorisches Referendum. Dieses Verfassungsprojekt wurde in der Abstimmung vom 14. Mai mit 260000 gegen 255000 Stimmen verworfen. 13 Kantone (die ultramontanen und französischen): Luzern, [* 10] Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Appenzell, [* 11] Graubünden, Wallis, Genf, [* 12] Freiburg, Waadt, Neuenburg [* 13] und Tessin stimmten dagegen;
9 Kantone dafür: Bern, Zürich, Glarus, St. Gallen, Aargau, Schaffhausen, [* 14] Basel, [* 15] Solothurn und Thurgau. Die unnatürliche Allianz zwischen den Radikalen der französischen S. und den Ultramontanen konnte nicht von langer Dauer sein.
Schon 1873 wurde ein neues Programm entworfen; obwohl dieses infolge einiger Konzessionen an die Kantonalsouveränität der welschen Kantone weniger durchgreifend war als das Programm von 1872, so enthielt es doch im wesentlichen dieselben Fortschritte wie dieses (Centralisation des Obligationen-, Handels- und Wechselrechts, ebenso der wesentlichen Rechte im Militärwesen und in Kirchensachen, Einführung des Civilstandes, Übertragung von volkswirtschaftlichen Kompetenzen auf den Bund, Einführung des fakultativen Referendums, Umwandlung des Bundesgerichts in einen ständigen Gerichtshof u. s. w.). Am wurde das Projekt mit einer Mehrheit von 14 ½ gegen 7 ½ Ständen, 340000 gegen 198000 Stimmen angenommen. Die verwerfenden Kantone waren die 7 Sonderbundskantone samt Appenzell-Innerrhoden.
Auch seit 1874 hat sich die S. im allgemeinen ruhig fortentwickelt. Sogar in dem Streit zwischen dem Staat und der röm. Kirche nach Proklamierung der Unfehlbarkeit ist durch beiderseitiges Entgegenkommen Waffenstillstand eingetreten. Das 1873 durch Beschluß der Diöcesankonferenz, welche die Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas verbot, teilweise aufgelöste Bistum Basel wurde 1885 wiederhergestellt. Der widerspenstige Bischof Lachat wurde, weil er die dem Verbote gehorsamen Pfarrer Egli in Luzern und Gschwind in Starrkirch exkommunizierte, durch den milden Dompropst Fiala ersetzt und 1884 als apostolischer Vikar mit der Administration des Tessin betraut. Dem im Febr. 1873 wegen Anmaßung bischöfl. Rechte aus der S. verbannten Mermillod (s. d.), Stadtpfarrer von Genf, wurde 1883, vom Papst zum Bischof von Lausanne [* 16] ernannt, die Rückkehr gestattet. Dagegen wurde die 1873 aufgehobene Nuntiatur in der S. nicht wiederhergestellt.
Zum bewaffneten Kampfe der polit. Parteien kam es seit 1874 nur im Kanton Tessin [* 17] (s. d.). Als 1878 die Finanzrekonstruktion des Gotthardunternehmens eine Nachsubvention der S. im Betrag von 8 Mill. Frs. notwendig machte, für welche der Bundesrat 6 ½ Mill. Frs. aus Bundesmitteln zusagen wollte, erhoben sich sowohl die Westschweiz, der eine Simplonbahn mehr Vorteile geboten hätte, als auch die Ostschweiz, welche ihre Projekte für Lukmanier oder Splügen noch nicht vergessen hatte, gegen diesen Beschluß.
Endlich einigte sich im Aug. 1878 die Bundesversammlung dahin, den am Gotthard beteiligten Kantonen von der Eidgenossenschaft eine Subvention von 4 ½ Mill. Frs., dem Kanton Tessin 2 Mill. Frs. für die Vollendung der Monte-Cenerelinie zu bewilligen und zugleich Subventionen von je 4 ½ Mill. Frs. für je eine Alpenbahn im Osten und Westen der S. denjenigen Kantonen zuzusichern, die sich an einer solchen finanziell beteiligen würden. Dieser Beschluß wurde durch die Referendumsabstimmung vom von allen Kantonen, Waadt, Graubünden und Appenzell-Innerrhoden ausgenommen, genehmigt.
Gleichzeitig befestigte sich auch die internationale Stellung der S. Schon 1864 war die Genfer Konvention (s. d.) zur Pflege Verwundeter im Kriege zu stande gekommen. 1874 folgte die Gründung des internationalen Postvertrags, dessen Mittelpunkt die S. bildete und aus dem 1878 der «Weltpostverein» hervorging. 1872 wurde auf dem Boden der S. die Alabamafrage (s. d.) geschlichtet und später noch manche internationale Einigung über volkswirtschaftliche Interessen (Urheberrecht, Normalarbeitstag u. s. w.) von der S. angeregt.
Von den volkswirtschaftlichen Gesetzen, die seit der Einführung der neuen Bundesverfassung zu stande ¶
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gekommen sind, verdienen namentlich die Gesetze über die Forstpolizei (1876) und die Wasserpolizei im Hochgebirge (1877), das Fabrikgesetz (1878), das Haftpflichtgesetz (1881), das Gesetz über das schweiz. Obligationen- und Handelsrecht (1883) und das Alkoholgesetz von 1887, wodurch Fabrikation und Verkauf von Alkohol zum Bundesmonopol erhoben wurde, Erwähnung.
In letzter Zeit haben einige Parteiverschiebungen stattgefunden. Von der konservativ-ultramontanen Partei beginnt sich eine ebenfalls katholische und konservative, aber antiklerikale Richtung abzuspalten, ebenso von der radikalen Partei eine jungdemokratische, die den socialen und wirtschaftlichen Fragen besonderes Interesse widmet. In der Bundesversammlung besteht das Centrum hauptsächlich aus den liberalen und liberal-konservativen Vertretern der Nord- und Ostschweiz.
Eine selbständige socialistische Partei giebt es in den Bundesbehörden nicht, doch besteht ein schweizerischer socialdemokratischer Verein (s. Grütliverein) und seit 1887 ein Allgemeiner Schweizerischer Arbeiterverein. Der Mißbrauch, den einzelne in der S. lebende Anarchisten mit dem Asylrecht trieben, veranlaßte den Bundesrat in den letzten Jahren zu eingehenden Untersuchungen und zu einer Reihe von Ausweisungen (so 1885, 1888, 1889 und in den neunziger Jahren).
Als im Frühjahr 1889 der deutsche Polizeibeamte Wohlgemuth, von der Aargauer Polizei als Lockspitzel verhaftet und von Bundes wegen ausgewiesen wurde, kündete die deutsche Reichsregierung den Niederlassungsvertrag und schritt zu einigen Repressalien; die S. aber beharrte auf ihrem Standpunkt und suchte nun durch Errichtung der Stelle eines Bundesanwaltes die Fremdenpolizei einheitlicher und fester zu handhaben. Die Arbeiterpartei machte Einwendungen; aber sie brachte nicht die nötige Zahl von 30000 Unterschriften zusammen, um die Sache vors Referendum zu bringen.
In den eidgenössischen Räten besitzt die radikal-liberale Partei die Majorität. 1889 versuchten die Liberal-Konservativen in der Bundesversammlung vergeblich durch Linderung der Wahlkreiseinteilung mehr Boden zu gewinnen. Als Symptome einer konservativen Unterströmung sind zu betrachten: der Volksbeschluß gegen das Verbot der Todesstrafe (1879), die Verwerfung der Bundesbeschlüsse über Ausführung des eidgenössischen Schulartikels, Einrichtung eines eidgenössischen Schulsekretärs (1882) und über Erweiterung des Bundesstrafrechts (1884). Heftig war der Kampf beim Referendum über das eidgenössische Gesetz betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, entworfen unter Führung von Bundesrat Ruchonnet. Am entschied das Volk mit 241000 gegen 217000 Stimmen für Annahme des Gesetzes und erreichte damit einen großen Fortschritt zur Einigung im Rechtswesen.
In den J. 1886-89 wurden eine Reihe wichtiger Änderungen im Militärwesen durchgeführt (Organisation des Landsturms, Vermehrung des Kriegsmaterials, Landesbefestigung am St. Gotthard u. s. w.) und 1888 von den Räten ohne Debatte die Summe von 3 ½ Mill. dafür bewilligt. Der Bund behauptete nach innen seine Autorität durch Intervention in der Tessiner Septemberrevolution von 1890 (s. Tessin); nach außen stärkte er sein Ansehen durch glückliche Handelsverträge mit Deutschland [* 19] und Österreich (1892) wie nicht minder durch seine entschiedene Haltung gegenüber dem Widerstände der franz. Kammer hinsichtlich der Erneuerung des Handelsvertrags (Zollkrieg mit Frankreich seit Febr. 1892). Eine merkliche Stärkung der nationalen Strömung brachte die glänzende sechste Säkularfeier der Gründung des eidgenössischen Bundes Im J. 1890 wurde ein Artikel über Durchführung der Kranken- und Unfallversicherung in die Bundesverfassung aufgenommen, die Volksinitiative in Verfassungssachen (Requisit: 50000 Stimmen), 18. Okt. desselben Jahres das Banknotenmonopol des Bundes durch einen Verfassungsartikel in Aussicht gestellt, dann das Landesmuseum mit Sitz in Zürich dekretiert u. s. w. Angesichts der gewaltigen Anstrengungen der reaktionären kath. Partei und der Schwierigkeiten, welche die in verschiedenen Kantonen neu erstandenen «Bauernbünde» dem Fortschritt in den Weg legten, einigten sich die Freisinnigen aller Schattierungen zum weitern Ausbau der nationalen Institutionen und der Sicherung freisinniger Errungenschaften, freilich gelang nicht alles in Aussicht genommene;
Versuche der Verstaatlichung der Eisenbahnen schlugen fehl (1891);
ein Gesetz über Pensionierung eidgenössischer Beamter wurde verworfen (März 1891);
ebenso die Erweiterung der Kompetenz des Bundes in Sachen der Gewerbegesetzgebung (März 1894).
Die von den Socialdemokraten begehrte Aufnahme des «Rechts auf Arbeit» in die Bundesverfassung im Juni 1894 wurde mit etwa 300000 Nein gegen 73000 Ja verworfen; ebenso die von den Konservativen und Föderalisten in Scene gesetzte Volksinitiative, wonach der Bund einen Teil der Zolleinnahmen an die Kantone abgeben sollte, mit 347000 gegen 145000 Stimmen. In Vorbereitung sind gegenwärtig (1895): Zündholzmonopol (im März von beiden Räten beschlossen), die Gesetze über Kranken- und Unfallversicherung und über das Banknotenmonopol, die völlige Centralisation des Militärwesens, die Lösung der Frage des Verhältnisses von Bund und Kantonen im Volksschulwesen u. s. w.
Litteratur zur Geschichte. Johannes von Müller, Geschichte der Eidgenossenschaft (Bd. 1-5, Abteil. 1, Lpz. 1806-8; Bd. 5, Abteil. 2, von Glutz-Blozheim, Zür. 1816; Bd. 6 u. 7, von Hottinger, ebd. 1825-29; Bd. 8-10, von Vulliemin, 1842-45; Bd. 11-15, von Monnard, 1846-53); Müller von Friedberg, [* 20] Schweiz. [* 21] Annalen (7 Bde., Zür. 1832-42); Tillier, Geschichte der Eidgenossenschaft während der Herrschaft der Vermittelungsakte (2 Bde., ebd. 1845-46); ders., Geschichte der helvet.
Republik (3 Bde., Bern 1843);
Baumgartner, Die S. in ihren Kämpfen und Umgestaltungen von 1830 bis 1850 (4 Bde., Zür. 1853-66);
Feddersen, Geschichte der schweiz. Regeneration von 1830 bis 1848 (ebd. 1867);
Strickler, Lehrbuch der Schweizergeschichte (2. Aufl., Lpz. 1874);
Simon Kaiser, Grundsätze schweiz. Politik (Soloth. 1875);
(C. Hilty, Öffentliche Vorlesungen über die Helvetik (Bern 1878);
ders., Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft (ebd. 1878);
Daguet, Histoire de la Confédération suisse (2 Bde., 7. Aufl., Genf 1879; deutsch Aarau [* 22] 1867);
Vulliemin;
Histoire de la Confédération suisse (2 Bde., 2. Aufl., Lausanne 1881; deutsch von J. Keller, Aarau 1877-78);
Dierauer, Geschichte der schweiz. Eidgenossenschaft (Bd. 1 u. 2, Gotha [* 23] 1887-91);
Oechsli, Die Anfänge der schweiz. Eidgenossenschaft (Bern 1891);
von Ah, Bundesbriefe der Eidgenossenschaft 1291-1513 (Eins. 1891);
Dändliker, Geschichte der S. (3 Bde., ¶