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erleichtern, wurden die Kreditinstitute, welche Güter gegen Hypotheken beliehen, geschlossen und bei der Ablösung des Bauernlandes die hypothezierte Bankschuld bei Auszahlung des Staatsvorschusses innebehalten. Die Aufhebung der Leibeigenschaft kam zu unvorbereitet. Durch die den Gutsherren auferlegten großen Opfer, den Mangel an ausdauernder Arbeitskraft, die Gewöhnung, alles von der Regierung zu erwarten, den Ausschluß jedes Einflusses der Gutsherren auf die Bauern, die feindliche Stellung, welche infolgedessen die Bauern den Gutsherren gegenüber einnahmen, wurde der größte Teil des Adels völlig ruiniert. Aber auch die ökonomische Lage der Bauern blieb eine sehr gedrückte. Trotz wiederholter Ermäßigung der Loskaufszahlungen, mehrfachen Erlasses von Steuerrückständen, besserte sich die Lage der Bauern nicht. -
Vgl. H. von Samsom, Vom Lande (Dorpat [* 2] 1883) und die dort angeführten Quellen.
Ein anderes Bild zeigen die liv-, kur-, esthländischen Agrarverhältnisse. In Livland [* 3] hatte der Adel schon im Anfang des Jahrhunderts mit einer Besserung der Lage der Leibeigenen (Bauernverordnung von 1804) begonnen, und durch die Bauernverordnungen von 1816, 1817 und 1819 war die Aufhebung der Leibeigenschaft in allen drei Provinzen erfolgt. Der Bauer war persönlich frei und unter der Polizei und Aufsicht des Gutsherrn stehend zur Leistung des Gehorsams verpflichtet. 1849 wurde in Livland durch den Landmarschall von Foelckersahm der Übergang zur Geldpacht und der Erwerb des Grundeigentums angebahnt, gleichzeitig war vom Adel ein System von Gemeindeschulen und der Schulzwang eingeführt. Jeder Bauernhof bildet hier eine geschlossene wirtschaftliche Einheit, so groß, daß derselbe einen geordneten Wirtschaftsbetrieb lohnt. Seit diesem Jahre begann in Livland der Bauernlandverkauf in großem steigendem Maßstabe. Die Schwesterprovinzen folgten. -
Vgl. Materialien zur Kenntnis der livländ. Bauernverhältnisse (Riga [* 4] 1883).
Im Königreich Polen versuchten der Großfürst Konstantin und Marquis Wielopolski vergebens ein versöhnliches System. Infolge der neuen Rekrutenaushebung brach im Jan. 1863 ein Aufstand aus, welcher auch die westruss. (vormals poln.) Gouvernements zu ergreifen drohte; aber binnen Jahresfrist ward derselbe wieder unterdrückt. Die russ. Regierung griff nun zu strengen Repressivmaßregeln und arbeitete, wie zur Zeit des Kaisers Nikolaus, entschieden auf die Russifizierung dieser Provinzen hin. Im Großfürstentum Finland hatte Alexander II. bereits April 1861 die Wiederherstellung der landständischen Verfassung, die seit der russ. Eroberung außer Wirksamkeit gekommen war, zugesagt.
Der erste Landtag tagte von Sept. 1863 bis April 1864. Um den letzten sprachlichen Zusammenhang zwischen Finland und seinem vormaligen Mutterlande Schweden [* 5] zu lösen, wurde neben der bisher ausschließlich berechtigten schwed. Amtssprache Febr. 1864 das Finnische gleichfalls als offizielle Sprache [* 6] anerkannt, und von 1872 an sollte die Kenntnis derselben obligatorisch für alle Beamte und Lehrer sein. Auch im eigentlichen Rußland war das öffentliche Leben aus der frühern Erstarrung allmählich in Fluß geraten.
Ein ungewohnter Geist des Liberalismus und der Opposition zeigte sich in der Presse [* 7] und an den Universitäten. Als das Unterrichtsministerium, dadurch beunruhigt, ein strengeres Reglement bei den Universitäten durchzuführen suchte (Herbst 1861), kam es in Petersburg [* 8] und Moskau [* 9] zu wiederholten Studententumulten. Auch die Adelskorporationen der Gouvernements, welche Jan. bis März 1862 zusammentraten, begannen eine bisher unerhörte Sprache zu führen. Dagegen drängte eine ultraruss.
Partei, deren hervorragendster Publizist Katkow (s. d.) war, zu den strengsten Maßregeln gegen Polen und wollte alles Nichtrussische beseitigen. Alexander II. verkündigte in einem Reskript vom daß das Recht der Initiative bei allen Reformen ausschließlich ihm selbst zustehe und mit der autokratischen Gewalt unzertrennlich verbunden sei. Nach dieser Zurückweisung mußten alle polit. Forderungen verstummen. Dagegen ging Alexander II. auf dem betretenen Wege langsam vorwärts.
Durch die Gerichtsordnung vom wurde das Justizwesen umgestaltet und reformiert. Ein Ukas vom befahl die Einführung von Kreis- und Gouvernementsvertretungen, bestehend aus Grundbesitzern, Stadtbürgern und Bauern, die sich vorzugsweise mit den ökonomischen Interessen und Bedürfnissen ihres Bezirks beschäftigen sollten. Im Sept. und Okt. 1865 wurden die Kreis- und Gouvernementsrepräsentationen zuerst einberufen. Inzwischen wurden die Bauernemancipation und das Ablösungsverfahren vollends durchgeführt, so daß März 1871 die letzten Spuren der Leibeigenschaft verschwanden.
Von hervorragender Wichtigkeit war auch der vom Kaiser bestätigte Beschluß des Reichsrates, welcher die Erblichkeit des geistlichen Standes aufhob und den Söhnen der Weltgeistlichkeit freistellte, sich dem Staatsdienste oder der bürgerlichen Thätigkeit zuzuwenden. Im Kaukasus trat der Fürst (Dadian) von Mingrelien 1867 seine bisherigen Souveränitätsrechte gegen 1 Mill. Rubel Entschädigung an den russ. Kaiser ab, und die Sklaverei wurde daselbst, zuletzt im Distrikt Suchum-Kale 1870, völlig abgeschafft.
Neben der Ausdehnung [* 10] des Eisenbahnnetzes und der Aufhebung der Leibeigenschaft war die dritte Maßregel, die wesentlich zur Stärkung der Reichsmacht beitrug, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, welche in einem kaiserl. Manifest vom als Gesetz verkündigt wurde. Damit waren die verschiedenen, auf eine neue Militärorganisation hinzielenden Verordnungen (von 1868, 1870 u. s. w.) und Reformen zum Abschluß gebracht. Im Gegensatz zu diesen Reformen, die sich die Zustände des Westens zum Muster nahmen, aber freilich vielfach auch die fremden Formen ohne weiteres auf die ganz anders gearteten russ. Verhältnisse übertrugen, verharrte eine starke altruss.
Partei. Sie hatte bestanden, seit Rußland unter Peter I. ein europ. Staat geworden war. Neue Kraft [* 11] hatte sie unter Kaiser Nikolaus aus dem Ideengehalt gewonnen, den das damals entstandene Slawophilentum ihr zuführte. Unter Alexander II. war diese emporkommende nationalruss. Strömung zwar zurückgedrängt, aber nicht unterdrückt worden. Der poln. Aufstand, von gewandten Agitatoren hierzu benutzt, fachte sodann das Nationalitätsgefühl zum Fanatismus an. Das Bestreben, das ganze Staatsleben auf nationalruss. Boden zu stellen, nahm zunächst die Richtung auf Unterdrückung aller nichtruss. Elemente im Reiche. Nach Niederwerfung des poln. Aufstandes forderte die öffentliche Meinung die völlige Verschmelzung Polens mit Rußland. Diese Politik fand zum Teil auch die Zustimmung der Regierung, die dadurch einer Wiederholung des Aufstandes ¶
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vorzubeugen meinte. Gleichzeitig mit der administrativen Verschmelzung des Königreichs Polen mit Rußland, die durch den Ukas vom vervollständigt wurde, ging eine Bedrückung der kath. Kirche im Königreich sowie in den neun westl. Gouvernements mit poln. Bevölkerung, [* 13] wodurch der Konflikt zwischen Rußland und Papst Pius IX. verschärft wurde. Den poln. Bischöfen und Geistlichen wurde jeder direkte Verkehr mit Rom [* 14] untersagt, in Petersburg ein röm.-kath. Kollegium errichtet, von welchem jene allein ihre Weisungen einzuholen hatten, und der Besuch des Vatikanischen Konzils 1869 ihnen verboten.
In den Ostseeprovinzen wurden die Nachkommen der durch die russ. Propaganda der vierziger Jahre zum Abfall vom evang. Glauben verlockten Bauern mit Gewalt bei der griech. Kirche festgehalten. Trotz seiner ernstlichen Absicht, diese Gewissensnot zu beseitigen, vermochte der Kaiser doch nicht, den Widerstand des Heiligen Synods zu besiegen. Erst die Unterredung Bismarcks mit dem russ. Gesandten in Berlin [* 15] von Oubril 1865, in welcher der preuß. Ministerpräsident von der Verstimmung seines Königs über den religiösen Druck in den Ostseeprovinzen Mitteilung machte, hatte den geheimen Befehl Alexanders II. zur Folge, der wenigstens die Forderung griech. Kindererziehung bei Mischehen aufhob. 1874 endlich befahl der Kaiser die Strafloslassung geistlicher Handlungen evang. Prediger an den unfreiwilligen Gliedern der griech. Kirche; auch der Rücktritt zum Luthertum wurde nicht mehr bestraft.
Das russ. Gesetz aber wurde durch diese Befehle nur unwirksam gemacht, nicht aufgehoben, obgleich es den Ostseeprovinzen, denen Peter d. Gr. für ewige Zeiten Gewissensfreiheit zugesichert hatte, rechtswidrig aufgedrungen war. Ebensowenig wie die Gewissensfreiheit der Kirche gegenüber wagte der Kaiser der herrschenden Stimmung gegenüber das Landesrecht offen anzuerkennen. Schon ein Ukas vom hatte verordnet, daß die Gouvernementsregierung und die übrigen Kronbehörden mit den Ministerien und den Behörden anderer Gouvernements ihren amtlichen Schriftwechsel in russ. Sprache führen sollten, daß möglichst nur Beamte angestellt würden, welche des Russischen mächtig seien. Am erfolgte ein kaiserl. Erlaß, welcher die unbedingte Durchführung des Ukases von 1850 verlangte.
Man begann nun die einheimischen Beamten durch Nationalrussen zu verdrängen. Auch die liberale russ. Journalistik erhob ihre Stimme, um den Bruch des Landesrechts der Ostseeprovinzen zu verlangen. Katkow war es gelungen, durch Erregung des russ. Nationalgefühls auf Gesellschaft und Regierung einzuwirken. Die Angriffe der Publizistik gegen die Ostseeprovinzen gipfelten in einem Buche des Slawophilenführers Jurij Samarin (s. d.). Am beschloß die livländ. Ritterschaft eine Adresse, worin sie unter Berufung auf die alten Landesprivilegien um Wahrung ihrer nationalen und ständischen Rechte bat; 11. März folgte eine Adresse der esthländ.
Ritterschaft. Aber alle Berufungen blieben erfolglos; ein kaiserl. Bescheid vom wies das Gesuch der livländ. Ritterschaft entschieden zurück. Die Russifizierungsmaßregeln wurden nun gegen die höhern Schulen gerichtet, in denen der Unterricht in der russ. Sprache auf Kosten der allgemein bildenden Fächer [* 16] bedeutend verstärkt wurde. Um den administrativen Zusammenhang der deutschen Provinzen Livland, Kurland und Esthland zu zerreißen, wurde durch Ukas vom das Generalgouvernement der balt. Provinzen aufgehoben. 1878 wurde den balt. Städten die russ. Städteverfassung aufgezwängt. Die gleichen Nivellierungstendenzen verfolgte den Polen gegenüber der Ukas vom J. 1876, welcher im Generalgouvernement Warschau [* 17] das neue russ. Gerichtsverfahren einführte und die besondere «polit. Kanzlei» auflöste.
Neben dem reaktionären Altrussentum und dem Panslawismus, die in der öffentlichen Meinung immer mehr zur Herrschaft gelangten, und deren Tendenzen auch die Regierung nachgeben mußte, war in der Gärungszeit der letzten Jahrzehnte die revolutionäre Richtung des Nihilismus (s. Nihilisten) entstanden. Die Regierung suchte ihm durch einen Erlaß vom der die Behörden zum kräftigsten Einschreiten aufforderte, entgegenzuwirken, aber erfolglos. Aus nihilistischen Kreisen ging das mißlungene Attentat des Dimitrij Karakosow auf den Kaiser in Petersburg hervor.
Gefährlich wurde der Nihilismus seit dem J. 1878, wo von ihm der Mord, insbesondere der Kaisermord, programmmäßig als das geeignetste Mittel zur Erreichung seiner Ziele proklamiert wurde. Nach dem Attentat auf den Petersburger Stadthauptmann General Trepow und der Ermordung des Generals Mesenzew wurden durch Regierungsdekret alle polit. Verbrechen den Militärgerichten zugewiesen. Trotzdem mehrten sich die Attentate gegen hohe Beamte, und 1879 begannen die Mordanschläge gegen den Kaiser. Am 14. April feuerte Solowjew auf ihn in der Umgebung des Winterpalais mehrere Revolverschüsse ab, ohne zu treffen; 1. Dez., als der Kaiser von Livadia nach Moskau zurückkehrte, wurde vermittelst Minen der Eisenbahnzug teils umgestürzt, teils zum Entgleisen gebracht; aber das Attentat traf nicht den kaiserl. Zug, sondern den hinter diesem fahrenden Bagagezug.
Die Missethäter wurden nicht entdeckt. Dem Kaiser wurde von dem Exekutionskomitee mit weitern Mordversuchen gedroht, wenn er nicht seine Herrschaft aufgebe und dieselbe einer Nationalversammlung übertrage. Am erfolgte im Winterpalais eine Dynamitexplosion, die aber die kaiserl. Familie nicht traf. Auf dieses Attentat hin wurde das 1879 in Petersburg (sowie auch in Moskau, Charkow, Odessa, [* 18] Kiew [* 19] und Warschau) eingesetzte und mit außerordentlichen Vollmachten versehene Generalgouvernement, das sich machtlos erwiesen hatte, aufgehoben und dem General Loris-Melikow eine Art Diktatur übertragen.
Derselbe war bestrebt, auf dem Gebiete des Gefängniswesens, der Civilverwaltung und der Presse Reformen durchzuführen und auch auf diesem Wege, nicht bloß durch Gewaltmittel, dem Nihilismus entgegenzutreten, aber auch so vermochte er es nicht, ein Bombenattentat zu verhindern, dem der Kaiser als er nachmittags nach dem Winterpalais zurückfuhr, zum Opfer fiel. Alexander erlag sogleich seinen furchtbaren Verletzungen. Unter seinen Papieren fand man einen von ihm am Tage des Attentats unterzeichneten Ukas über Einberufung einer Notabelnversammlung.
Sein Nachfolger, Kaiser Alexander III., entschied sich nach langem Schwanken für Festhaltung am Cäsarismus. In seinem Manifest vom 11. Mai appellierte er an die ihm von Gott verliehene «selbstherrscherliche Gewalt». Darauf gaben Melikow, der Kriegsminister Graf Miljutin, der ¶