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suchte den griech.-türk. Streit zu vermitteln, und Rußland, zum Kriege nicht gerüstet, mußte selbst Griechenland zur Annahme des Konferenzprotokolls raten. Das Verhältnis zu Preußen gestaltete sich immer inniger und wurde auch durch die panslawistische Richtung, die in der öffentlichen Meinung R.s immer mehr Boden gewann, nicht erschüttert.
Beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 und 1871 erklärte Rußland seine Neutralität (23. Juli) und zwang durch seine entschiedene Haltung Österreich gleichfalls in derselben zu verharren. Dafür war die deutsche Diplomatie Rußland behilflich, die demütigende Bestimmung des Pariser Friedens, die Rußland verbot, im Schwarzen Meer seine Flotte zu vergrößern und Kriegshäfen anzulegen, abzustreifen. (S. Pontusfrage.) Die Zusammenkunft des Kaisers Alexander II. mit den Kaisern Wilhelm I. und Franz Joseph 5. bis in Berlin bewies die Aussöhnung R.s mit Österreich und die gegenseitige Verständigung der drei Herrscher.
Die ungerechte Behandlung, welche die Pforte ihren christl. Unterthanen angedeihen ließ, und ihre Weigerung, den im Pariser Vertrag von 1856 übernommenen Verpflichtungen vollständig nachzukommen, benutzte Rußland als eine neue Kriegsfrage. Der Aufstand in der Herzegowina und in Bosnien im Juli 1875 veranlaßte zunächst die diplomat. Intervention der russ. Regierung. Sie legte bei der Dreikanzlerzusammenkunft in Berlin 11. bis das sog. Berliner Memorandum vor, dessen Annahme an der Weigerung Englands scheiterte.
Montenegro und besonders Serbien, welche im Juli der Pforte den Krieg erklärt hatten, wurden von Rußland in nicht offizieller Weise unterstützt und letzteres, als es, dem Untergange nahe, die Hilfe R.s anrief, durch das der Pforte gestellte Ultimatum des Zaren vom 30. Okt. gerettet. Am 10. Nov. erklärte Kaiser Alexander, von der öffentlichen Meinung gedrängt, seinen Entschluß, der Pforte den Krieg anzukündigen, falls diese keine Garantien für die Ausführung der von den Großmächten gestellten Forderungen gebe. Als die in Konstantinopel vom bis tagende Konferenz der Bevollmächtigten der Großmächte und das Londoner Protokoll vom zu keinem Resultat führten, wurde der Krieg durch das vom datierte Kriegsmanifest des Kaisers verkündigt. (S. Russisch-Türkischer Krieg von 1877 und 1878.)
Rußland war trotz des tapfern Widerstandes der Türkei schließlich siegreich. Die Pforte bat um Waffenstillstand; derselbe wurde nebst den Präliminarfriedensbedingungen zu Adrianopel unterzeichnet, 3. März der Friedensvertrag von San Stefano (s. d.) abgeschlossen. Aber die Ziele, welche Rußland nach seinen Waffenerfolgen anstrebte, veranlaßten das Einschreiten Englands. Nach langen Verhandlungen kam durch die Vermittelung der deutschen Regierung der Berliner Kongreß (s. d.) zu stande, der die orient.
Verhältnisse endgültig regeln sollte und unter dem Vorsitz des Fürsten Bismarck eröffnet wurde. In dem 13. Juli unterzeichneten Friedensvertrag erhielt Rußland von Türkisch-Asien die Gebiete von Kars, Ardahan und Batum, und der durch den Pariser Vertrag 1856 von Rußland an die Türkei abgetretene Teil von Bessarabien wurde von Rumänien, das die Dobrudscha erhielt, an Rußland zurückgegeben. Dagegen mußte Rußland zu einigen, von den Friedensbestimmungen von San Stefano abweichenden Abmachungen über die künftige Gestaltung der Balkanhalbinsel seine Zustimmung geben.
Der ostensible Zweck des Krieges, Befreiung der russ. Stammes- und Glaubensgenossen von der türk. Willkürherrschaft, war erreicht; der eigentliche Zweck, Rußland einen übermächtigen Einfluß auf der Balkanhalbinsel zu verschaffen, war verfehlt, während Österreich und England, die keinen Teil an dem Kriege genommen hatten, das eine mit der Verwaltung Bosniens und der Herzegowina, das andere mit der Cyperns betraut wurden. Daher war in Rußland weder Regierung, noch Armee, noch Presse mit den Ergebnissen des Krieges zufrieden, und Deutschland wurde der unbegründete Vorwurf gemacht, es habe auf dem Berliner Kongreß Rußland um die Früchte des Krieges gebracht.
Die Folge dieser Spannung zwischen Rußland und Deutschland war, daß im Sommer 1879 in Paris über den Abschluß eines russ.-franz. Bündnisses verhandelt wurde, daß zur Beilegung der polit. Mißstimmung Kaiser Wilhelm I. 3. Sept. in Alexandrowo eine Zusammenkunft mit Kaiser Alexander hatte, und daß Fürst Bismarck, um Deutschland gegen die Gefahr einer russ.-franz. Offensivallianz zu sichern, in Gastein und in Wien eine Defensivallianz mit Österreich abschloß.
Gleichzeitig mit diesen den Sturz der türk. Herrschaft bezweckenden Bestrebungen erfolgte das Vorgehen R.s in Centralasien. Ein Konflikt mit China wegen Kaschgar (in Ostturkestan) wurde 1874 durch engl. Intervention beigelegt, das 1871 occupierte Kuldschagebiet 1881 an China zurückgegeben, außer einem kleinen Distrikt nordöstlich vom Fluß Ili. Durch den Feldzug Skobelews wurden 1881 die Tekke-Turkmenen unterworfen und ihr Gebiet Rußland einverleibt.
Sehr wichtig und wohlthätig war die Regierungsthätigkeit Alexanders II. im Innern. Gleich bei seiner Krönung zu Moskau verkündete der Kaiser ausgedehnte Gnadenerlasse, verminderte die Abgaben und ließ die Rekrutenaushebung auf mehrere Jahre einstellen. Die hartbedrückten Juden erfuhren eine mildere Behandlung, und die bisherige strenge Absperrung gegen das Ausland hörte auf. In allen Zweigen der Verwaltung wurden Reformen angebahnt. Ein großes Eisenbahnnetz ward projektiert und der Ausbau desselben einer internationalen Aktiengesellschaft übertragen.
Auch das Königreich Polen erhielt Beweise des kaiserl. Wohlwollens. Besondere Fürsorge wurde dem Bauernstande zugewandt, der (außer in Finland und den Ostseeprovinzen) noch überall in Rußland unter der Leibeigenschaft stand. Im Sept. 1859 wurden Abgeordnete der Adelskorporationen aus allen Provinzen nach Petersburg berufen, um an der Festsetzung eines Emancipationsgesetzes teilzunehmen; nachdem der Entwurf in letzter Instanz vor dem Reichsrat verhandelt war, wurde das Manifest betreffend die Aufhebung der Leibeigenschaft 19. Febr. vom Kaiser vollzogen. Danach erlangten die leibeigenen Dienstleute, deren Zahl etwa 1½ Mill. betrug, nach zwei Jahren ihre völlige persönliche und bürgerliche Freiheit; ebenso die an die Scholle gebundenen Bauern, welche über 20 Mill. zählten. Letztere erhielten überdies das Recht, die Gehöfte, die sie in Nutznießung hatten, durch Ablösung als Eigentum zu erwerben. Die kaiserl. Apanage- und Kronbauern, über 22 Mill., erhielten durch Ukas vom vorteilhafte Ablösungsbedingungen.
Zu gleicher Zeit schritt das Finanzministerium zu einer Reform der Staatskreditanstalten. Jetzt, wo alles darauf ankam, den Gutsherren den Kredit zu
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erleichtern, wurden die Kreditinstitute, welche Güter gegen Hypotheken beliehen, geschlossen und bei der Ablösung des Bauernlandes die hypothezierte Bankschuld bei Auszahlung des Staatsvorschusses innebehalten. Die Aufhebung der Leibeigenschaft kam zu unvorbereitet. Durch die den Gutsherren auferlegten großen Opfer, den Mangel an ausdauernder Arbeitskraft, die Gewöhnung, alles von der Regierung zu erwarten, den Ausschluß jedes Einflusses der Gutsherren auf die Bauern, die feindliche Stellung, welche infolgedessen die Bauern den Gutsherren gegenüber einnahmen, wurde der größte Teil des Adels völlig ruiniert. Aber auch die ökonomische Lage der Bauern blieb eine sehr gedrückte. Trotz wiederholter Ermäßigung der Loskaufszahlungen, mehrfachen Erlasses von Steuerrückständen, besserte sich die Lage der Bauern nicht. -
Vgl. H. von Samsom, Vom Lande (Dorpat 1883) und die dort angeführten Quellen.
Ein anderes Bild zeigen die liv-, kur-, esthländischen Agrarverhältnisse. In Livland hatte der Adel schon im Anfang des Jahrhunderts mit einer Besserung der Lage der Leibeigenen (Bauernverordnung von 1804) begonnen, und durch die Bauernverordnungen von 1816, 1817 und 1819 war die Aufhebung der Leibeigenschaft in allen drei Provinzen erfolgt. Der Bauer war persönlich frei und unter der Polizei und Aufsicht des Gutsherrn stehend zur Leistung des Gehorsams verpflichtet. 1849 wurde in Livland durch den Landmarschall von Foelckersahm der Übergang zur Geldpacht und der Erwerb des Grundeigentums angebahnt, gleichzeitig war vom Adel ein System von Gemeindeschulen und der Schulzwang eingeführt. Jeder Bauernhof bildet hier eine geschlossene wirtschaftliche Einheit, so groß, daß derselbe einen geordneten Wirtschaftsbetrieb lohnt. Seit diesem Jahre begann in Livland der Bauernlandverkauf in großem steigendem Maßstabe. Die Schwesterprovinzen folgten. -
Vgl. Materialien zur Kenntnis der livländ. Bauernverhältnisse (Riga 1883).
Im Königreich Polen versuchten der Großfürst Konstantin und Marquis Wielopolski vergebens ein versöhnliches System. Infolge der neuen Rekrutenaushebung brach im Jan. 1863 ein Aufstand aus, welcher auch die westruss. (vormals poln.) Gouvernements zu ergreifen drohte; aber binnen Jahresfrist ward derselbe wieder unterdrückt. Die russ. Regierung griff nun zu strengen Repressivmaßregeln und arbeitete, wie zur Zeit des Kaisers Nikolaus, entschieden auf die Russifizierung dieser Provinzen hin. Im Großfürstentum Finland hatte Alexander II. bereits April 1861 die Wiederherstellung der landständischen Verfassung, die seit der russ. Eroberung außer Wirksamkeit gekommen war, zugesagt.
Der erste Landtag tagte von Sept. 1863 bis April 1864. Um den letzten sprachlichen Zusammenhang zwischen Finland und seinem vormaligen Mutterlande Schweden zu lösen, wurde neben der bisher ausschließlich berechtigten schwed. Amtssprache Febr. 1864 das Finnische gleichfalls als offizielle Sprache anerkannt, und von 1872 an sollte die Kenntnis derselben obligatorisch für alle Beamte und Lehrer sein. Auch im eigentlichen Rußland war das öffentliche Leben aus der frühern Erstarrung allmählich in Fluß geraten.
Ein ungewohnter Geist des Liberalismus und der Opposition zeigte sich in der Presse und an den Universitäten. Als das Unterrichtsministerium, dadurch beunruhigt, ein strengeres Reglement bei den Universitäten durchzuführen suchte (Herbst 1861), kam es in Petersburg und Moskau zu wiederholten Studententumulten. Auch die Adelskorporationen der Gouvernements, welche Jan. bis März 1862 zusammentraten, begannen eine bisher unerhörte Sprache zu führen. Dagegen drängte eine ultraruss.
Partei, deren hervorragendster Publizist Katkow (s. d.) war, zu den strengsten Maßregeln gegen Polen und wollte alles Nichtrussische beseitigen. Alexander II. verkündigte in einem Reskript vom daß das Recht der Initiative bei allen Reformen ausschließlich ihm selbst zustehe und mit der autokratischen Gewalt unzertrennlich verbunden sei. Nach dieser Zurückweisung mußten alle polit. Forderungen verstummen. Dagegen ging Alexander II. auf dem betretenen Wege langsam vorwärts.
Durch die Gerichtsordnung vom wurde das Justizwesen umgestaltet und reformiert. Ein Ukas vom befahl die Einführung von Kreis- und Gouvernementsvertretungen, bestehend aus Grundbesitzern, Stadtbürgern und Bauern, die sich vorzugsweise mit den ökonomischen Interessen und Bedürfnissen ihres Bezirks beschäftigen sollten. Im Sept. und Okt. 1865 wurden die Kreis- und Gouvernementsrepräsentationen zuerst einberufen. Inzwischen wurden die Bauernemancipation und das Ablösungsverfahren vollends durchgeführt, so daß März 1871 die letzten Spuren der Leibeigenschaft verschwanden.
Von hervorragender Wichtigkeit war auch der vom Kaiser bestätigte Beschluß des Reichsrates, welcher die Erblichkeit des geistlichen Standes aufhob und den Söhnen der Weltgeistlichkeit freistellte, sich dem Staatsdienste oder der bürgerlichen Thätigkeit zuzuwenden. Im Kaukasus trat der Fürst (Dadian) von Mingrelien 1867 seine bisherigen Souveränitätsrechte gegen 1 Mill. Rubel Entschädigung an den russ. Kaiser ab, und die Sklaverei wurde daselbst, zuletzt im Distrikt Suchum-Kale 1870, völlig abgeschafft.
Neben der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes und der Aufhebung der Leibeigenschaft war die dritte Maßregel, die wesentlich zur Stärkung der Reichsmacht beitrug, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, welche in einem kaiserl. Manifest vom als Gesetz verkündigt wurde. Damit waren die verschiedenen, auf eine neue Militärorganisation hinzielenden Verordnungen (von 1868, 1870 u. s. w.) und Reformen zum Abschluß gebracht. Im Gegensatz zu diesen Reformen, die sich die Zustände des Westens zum Muster nahmen, aber freilich vielfach auch die fremden Formen ohne weiteres auf die ganz anders gearteten russ. Verhältnisse übertrugen, verharrte eine starke altruss.
Partei. Sie hatte bestanden, seit Rußland unter Peter I. ein europ. Staat geworden war. Neue Kraft hatte sie unter Kaiser Nikolaus aus dem Ideengehalt gewonnen, den das damals entstandene Slawophilentum ihr zuführte. Unter Alexander II. war diese emporkommende nationalruss. Strömung zwar zurückgedrängt, aber nicht unterdrückt worden. Der poln. Aufstand, von gewandten Agitatoren hierzu benutzt, fachte sodann das Nationalitätsgefühl zum Fanatismus an. Das Bestreben, das ganze Staatsleben auf nationalruss. Boden zu stellen, nahm zunächst die Richtung auf Unterdrückung aller nichtruss. Elemente im Reiche. Nach Niederwerfung des poln. Aufstandes forderte die öffentliche Meinung die völlige Verschmelzung Polens mit Rußland. Diese Politik fand zum Teil auch die Zustimmung der Regierung, die dadurch einer Wiederholung des Aufstandes
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vorzubeugen meinte. Gleichzeitig mit der administrativen Verschmelzung des Königreichs Polen mit Rußland, die durch den Ukas vom vervollständigt wurde, ging eine Bedrückung der kath. Kirche im Königreich sowie in den neun westl. Gouvernements mit poln. Bevölkerung, wodurch der Konflikt zwischen Rußland und Papst Pius IX. verschärft wurde. Den poln. Bischöfen und Geistlichen wurde jeder direkte Verkehr mit Rom untersagt, in Petersburg ein röm.-kath. Kollegium errichtet, von welchem jene allein ihre Weisungen einzuholen hatten, und der Besuch des Vatikanischen Konzils 1869 ihnen verboten.
In den Ostseeprovinzen wurden die Nachkommen der durch die russ. Propaganda der vierziger Jahre zum Abfall vom evang. Glauben verlockten Bauern mit Gewalt bei der griech. Kirche festgehalten. Trotz seiner ernstlichen Absicht, diese Gewissensnot zu beseitigen, vermochte der Kaiser doch nicht, den Widerstand des Heiligen Synods zu besiegen. Erst die Unterredung Bismarcks mit dem russ. Gesandten in Berlin von Oubril 1865, in welcher der preuß. Ministerpräsident von der Verstimmung seines Königs über den religiösen Druck in den Ostseeprovinzen Mitteilung machte, hatte den geheimen Befehl Alexanders II. zur Folge, der wenigstens die Forderung griech. Kindererziehung bei Mischehen aufhob. 1874 endlich befahl der Kaiser die Strafloslassung geistlicher Handlungen evang. Prediger an den unfreiwilligen Gliedern der griech. Kirche; auch der Rücktritt zum Luthertum wurde nicht mehr bestraft.
Das russ. Gesetz aber wurde durch diese Befehle nur unwirksam gemacht, nicht aufgehoben, obgleich es den Ostseeprovinzen, denen Peter d. Gr. für ewige Zeiten Gewissensfreiheit zugesichert hatte, rechtswidrig aufgedrungen war. Ebensowenig wie die Gewissensfreiheit der Kirche gegenüber wagte der Kaiser der herrschenden Stimmung gegenüber das Landesrecht offen anzuerkennen. Schon ein Ukas vom hatte verordnet, daß die Gouvernementsregierung und die übrigen Kronbehörden mit den Ministerien und den Behörden anderer Gouvernements ihren amtlichen Schriftwechsel in russ. Sprache führen sollten, daß möglichst nur Beamte angestellt würden, welche des Russischen mächtig seien. Am erfolgte ein kaiserl. Erlaß, welcher die unbedingte Durchführung des Ukases von 1850 verlangte.
Man begann nun die einheimischen Beamten durch Nationalrussen zu verdrängen. Auch die liberale russ. Journalistik erhob ihre Stimme, um den Bruch des Landesrechts der Ostseeprovinzen zu verlangen. Katkow war es gelungen, durch Erregung des russ. Nationalgefühls auf Gesellschaft und Regierung einzuwirken. Die Angriffe der Publizistik gegen die Ostseeprovinzen gipfelten in einem Buche des Slawophilenführers Jurij Samarin (s. d.). Am beschloß die livländ. Ritterschaft eine Adresse, worin sie unter Berufung auf die alten Landesprivilegien um Wahrung ihrer nationalen und ständischen Rechte bat; 11. März folgte eine Adresse der esthländ.
Ritterschaft. Aber alle Berufungen blieben erfolglos; ein kaiserl. Bescheid vom wies das Gesuch der livländ. Ritterschaft entschieden zurück. Die Russifizierungsmaßregeln wurden nun gegen die höhern Schulen gerichtet, in denen der Unterricht in der russ. Sprache auf Kosten der allgemein bildenden Fächer bedeutend verstärkt wurde. Um den administrativen Zusammenhang der deutschen Provinzen Livland, Kurland und Esthland zu zerreißen, wurde durch Ukas vom das Generalgouvernement der balt. Provinzen aufgehoben. 1878 wurde den balt. Städten die russ. Städteverfassung aufgezwängt. Die gleichen Nivellierungstendenzen verfolgte den Polen gegenüber der Ukas vom J. 1876, welcher im Generalgouvernement Warschau das neue russ. Gerichtsverfahren einführte und die besondere «polit. Kanzlei» auflöste.
Neben dem reaktionären Altrussentum und dem Panslawismus, die in der öffentlichen Meinung immer mehr zur Herrschaft gelangten, und deren Tendenzen auch die Regierung nachgeben mußte, war in der Gärungszeit der letzten Jahrzehnte die revolutionäre Richtung des Nihilismus (s. Nihilisten) entstanden. Die Regierung suchte ihm durch einen Erlaß vom der die Behörden zum kräftigsten Einschreiten aufforderte, entgegenzuwirken, aber erfolglos. Aus nihilistischen Kreisen ging das mißlungene Attentat des Dimitrij Karakosow auf den Kaiser in Petersburg hervor.
Gefährlich wurde der Nihilismus seit dem J. 1878, wo von ihm der Mord, insbesondere der Kaisermord, programmmäßig als das geeignetste Mittel zur Erreichung seiner Ziele proklamiert wurde. Nach dem Attentat auf den Petersburger Stadthauptmann General Trepow und der Ermordung des Generals Mesenzew wurden durch Regierungsdekret alle polit. Verbrechen den Militärgerichten zugewiesen. Trotzdem mehrten sich die Attentate gegen hohe Beamte, und 1879 begannen die Mordanschläge gegen den Kaiser. Am 14. April feuerte Solowjew auf ihn in der Umgebung des Winterpalais mehrere Revolverschüsse ab, ohne zu treffen; 1. Dez., als der Kaiser von Livadia nach Moskau zurückkehrte, wurde vermittelst Minen der Eisenbahnzug teils umgestürzt, teils zum Entgleisen gebracht; aber das Attentat traf nicht den kaiserl. Zug, sondern den hinter diesem fahrenden Bagagezug.
Die Missethäter wurden nicht entdeckt. Dem Kaiser wurde von dem Exekutionskomitee mit weitern Mordversuchen gedroht, wenn er nicht seine Herrschaft aufgebe und dieselbe einer Nationalversammlung übertrage. Am erfolgte im Winterpalais eine Dynamitexplosion, die aber die kaiserl. Familie nicht traf. Auf dieses Attentat hin wurde das 1879 in Petersburg (sowie auch in Moskau, Charkow, Odessa, Kiew und Warschau) eingesetzte und mit außerordentlichen Vollmachten versehene Generalgouvernement, das sich machtlos erwiesen hatte, aufgehoben und dem General Loris-Melikow eine Art Diktatur übertragen.
Derselbe war bestrebt, auf dem Gebiete des Gefängniswesens, der Civilverwaltung und der Presse Reformen durchzuführen und auch auf diesem Wege, nicht bloß durch Gewaltmittel, dem Nihilismus entgegenzutreten, aber auch so vermochte er es nicht, ein Bombenattentat zu verhindern, dem der Kaiser als er nachmittags nach dem Winterpalais zurückfuhr, zum Opfer fiel. Alexander erlag sogleich seinen furchtbaren Verletzungen. Unter seinen Papieren fand man einen von ihm am Tage des Attentats unterzeichneten Ukas über Einberufung einer Notabelnversammlung.
Sein Nachfolger, Kaiser Alexander III., entschied sich nach langem Schwanken für Festhaltung am Cäsarismus. In seinem Manifest vom 11. Mai appellierte er an die ihm von Gott verliehene «selbstherrscherliche Gewalt». Darauf gaben Melikow, der Kriegsminister Graf Miljutin, der
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Finanzminister Abasa ihre Entlassung ein, und Graf Ignatjew wurde zum Minister des Innern ernannt. Der einflußreichste Minister wurde der Oberprokureur des Heiligen Synod Pobjedonoßzew (s. d.). Das nihilistische Exekutivkomitee erließ als Antwort auf das Manifest eine Erklärung, die dem Kaiser mit dem Schicksal seines Vaters drohte. Infolgedessen mußten die größten Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, und der Kaiser wechselte mehrmals rasch seinen Wohnsitz, residierte bald in Gatschina, bald in Peterhof, von Polizei und Militär bewacht.
Die Kaiserkrönung fand erst in Moskau statt, und am Tage derselben erließ der Kaiser ein Manifest, worin einige Gnadenakte verkündigt und alles Heil des Reichs von der mit göttlicher Weisheit und Stärke begnadigten unumschränkten Machtvollkommenheit des Kaisers abhängig gemacht wurde. In einem 1885 an den Senat gerichteten kaiserl. Ukas wurde die bisherige kaiserl. Hausordnung dahin abgeändert, daß nur die Söhne, Töchter, Brüder, Schwestern und die in unmittelbarer Linie vom Mannsstamm abstammenden Enkel des Kaisers den Titel «Großfürsten» und «Großfürstinnen» führen dürfen, daß aber die vom Mannsstamm herkommenden Urenkel des Kaisers als «Fürsten und Fürstinnen von kaiserl. Geblüt» anzusehen sind.
Die Beziehungen R.s zu den auswärtigen Mächten, namentlich zu Deutschland und Österreich, waren unter der Regierung Alexanders III. anfangs durchaus nicht freundlich, und Rußland nahm eine isolierte Stellung ein. Die Nachbarmächte konnten wenig Vertrauen zu einer Regierung fassen, von welcher zwei Mitglieder, Fürst Gortschakow und Graf Ignatjew, ihre entschiedenen Feinde waren, zu einer Regierung, welche an der Westgrenze des Reichs starke Truppenmassen versammelt und wie zu einem raschen Überfall bereit hielt.
Daher führte die Zusammenkunft, welche Kaiser Alexander mit Kaiser Wilhelm in Danzig veranstaltete und welcher auch Fürst Bismarck und Geheimrat von Giers, der Stellvertreter Gortschakows, beiwohnten, zunächst keine Veränderung der gegenseitigen Beziehungen herbei. Erst als der 84jährige Gortschakow von der Leitung des Ministeriums des Auswärtigen entbunden, dieses dem Geheimrat von Giers übertragen, Graf Ignatjew seines Postens als Minister des Innern enthoben wurde und Graf Tolstoj an seine Stelle trat, konnte man von einem Siege der russ. Friedenspartei sprechen.
Der neue Minister von Giers gab sich alle Mühe, durch persönliche Besprechungen mit dem Fürsten Bismarck, den er wiederholt besuchte, und mit den leitenden Persönlichkeiten in Wien ein gutes Einvernehmen zwischen Rußland und Deutschland-Österreich herzustellen. Kaiser Alexander III. selbst kam bald zu der Einsicht, daß die Sicherheit seiner Dynastie und seines Reichs hauptsächlich auf einem guten Verhältnis mit Deutschland beruhe. Diese Wendung der russ. Politik fand ihren offiziellen Ausdruck in der Zusammenkunft, welche 15. bis zwischen den Kaisern von Deutschland, Österreich und Rußland in dem poln. Lustschlößchen Skernewizy (Skierniewice) stattfand, und welcher auch die leitenden Minister, Fürst Bismarck, Graf Kalnoky und Herr von Giers, beiwohnten. Die Annäherung R.s an die zwei großen Friedensmächte that sich sofort in allen europ. Fragen kund. Dieses freundschaftliche Verhältnis erhielt eine Verstärkung durch den Besuch, welchen Kaiser Alexander im Aug. 1885 dem Kaiser Franz Josef in Kremsier abstattete.
Die guten Beziehungen R.s zu Deutschland und Österreich waren aber nur von kurzer Dauer; bald trat an ihre Stelle ein recht gespanntes Verhältnis infolge des Auftauchens der bulgar.-ostrumel. Frage. Da Rußland sich in seiner Hoffnung, daß Bulgarien sich freiwillig einer russ. Oberlehnsherrlichkeit unterwerfen werde, getäuscht sah, so suchte es fortan jede innere und äußere Erstarkung Bulgariens zu hemmen. Alexander III. versagte daher der Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien durch den Staatsstreich vom seine Zustimmung und gab seiner Abneigung gegen den bulgar. Fürsten Alexander offenen Ausdruck, indem er ihn aus der russ. Armeeliste streichen ließ.
In der Note vom protestierte Rußland gegen den türk.-bulgar. Vertrag vom 2. Febr. und setzte es in der Botschafterkonferenz zu Konstantinopel durch, daß das Generalgouvernement von Ostrumelien dem Fürsten von Bulgarien nur auf fünf Jahre übertragen wurde. Nach der Abdankung desselben sandte der russ. Kaiser den General Kaulbars nach Bulgarien, welcher als diplomat. Vertreter R.s in völkerrechtwidriger Weise gegen die neue von Rußland nicht anerkannte bulgar. Regierung agitierte. Er ließ in seinen drohenden Äußerungen wiederholt die Möglichkeit einer Besetzung Bulgariens durch russ. Truppen durchblicken. Durch die entschiedenen Erklärungen Österreich-Ungarns, Englands und Italiens von der Ausführung eines solchen Planes abgeschreckt, griff Rußland dort zwar nicht mehr direkt ein, suchte aber durch Begünstigung aller oppositionellen Bewegungen eine Befestigung der innern Verhältnisse des Landes zu hindern. (S. Bulgarien.)
Der Grund für diese mehr beobachtende Haltung R.s lag in der zu Ende 1886 entstandenen Spannung zwischen Frankreich und Deutschland, die durch Boulangers Treiben in einen Krieg auszubrechen drohte. Rußland wollte sich in der Erkenntnis, daß ein europ. Krieg auch über die Balkanhalbinsel entscheiden müsse, für einen solchen Fall nicht durch eine heraufbeschworene orient. Verwicklung an seinem freien Eingreifen in die allgemeinen europ. Verhältnisse behindert sehen.
In den der Regierung nahe stehenden Blättern wurde diese «Politik der freien Hand», zugleich aber auch die Absicht R.s, eine völlige Besiegung Frankreichs durch Deutschland nicht zu dulden, verkündigt. Daß die russ. Regierung von dieser deutschfeindlichen Stimmung nicht frei war, zeigte der Ukas vom 24. Mai, der nicht nur allen Ausländern die Erwerbung und Benutzung unbeweglichen Eigentums in den westl. Grenzgouvernements untersagte, sondern ihnen auch verbot, in Polen außerhalb der Städte als Verwalter von Gütern oder Fabriken zu fungieren, und ein weiterer Ukas, der die sofortige Entlassung der zahlreichen im staatlichen Forstwesen in Polen angestellten Ausländer verfügte.
Durch beide Maßregeln wurden hauptsächlich deutsche und österr. Staatsangehörige getroffen. Gleichzeitig bewies Rußland durch seine Annäherung an Frankreich, sowie durch seine bedrohlichen Truppenanhäufungen an der deutschen und der österr. Grenze, daß es sich auf einen europ. Krieg vorbereitete. Das zwang die Mächte des Dreibundes zu Gegenrüstungen. Für kurze Zeit wurden die Blicke R.s vom Westen nach Bulgarien abgelenkt, als dort die Große Sobranije den Prinzen Ferdinand von Coburg zum Fürsten wählte. Rußland beschränkte sich nach einem vergeblichen Versuch, die Pforte zum Einschreiten
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gegen diese Wahl zu bewegen, auf die unbedingte Verneinung des bestehenden Zustandes in Bulgarien. Am fuhr Alexander III. mit seiner ganzen Familie nach Kopenhagen. Hier wurden dem Zaren Aktenstücke vorgelegt, die ihm beweisen sollten, daß Fürst Bismarck im Widerspruch zu seinen offiziellen Erklärungen insgeheim eine russenfeindliche Politik in Bulgarien treibe. Als jedoch Fürst Bismarck den Zaren, der sich 18. Nov. auf der Durchreise nach Petersburg einige Stunden in Berlin aufhielt, in einer Audienz nachgewiesen hatte, daß jene Aktenstücke gefälscht seien, war wenigstens ein erträgliches Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland wiederhergestellt.
Gleichwohl schob Alexander III. die Erwiderung des Besuchs, den ihm Kaiser Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt in den Tagen des 19. bis in Petersburg gemacht hatte, bis zum Okt. 1889 hinaus. Der an diesem Tage erfolgte Gegenbesuch bewirkte jedoch keine Änderung in der polit. Stellung R.s. Die glänzende Aufnahme des Kaisers Wilhelm durch den Sultan bei seinem Besuche in Konstantinopel (2. bis die hieraus erfolgte Stärkung des Selbstgefühls der Türkei auch Rußland gegenüber und das intimere Verhältnis, in das die Pforte, ohne daß polit. Abmachungen getroffen wären, zu der Politik der Dreibundmächte trat, wurden von Rußland als eine Niederlage empfunden. Da auch England, ohnehin R.s Rival in Asien, sich immer entschiedener dem Dreibunde annäherte, so blieb Rußland als einziger Verbündeter im Kriegsfalle Frankreich übrig.
Rußland setzte daher die niemals unterbrochenen Rüstungen mit Eifer fort. schon zu Anfang des J. 1888 hatte es an seiner Westgrenze 8½ Armeekorps aufgestellt, während Deutschland und Österreich zusammen nur 5½ Armeekorps an ihren Ostgrenzen stehen hatten. Diese starke russ. Truppenmacht wurde im Laufe des J. 1888 noch um 2 Infanteriedivisionen und 1 Kavalleriedivision und 1889 wieder um je eine Division beider Waffengattungen verstärkt; im April 1890 wurde auch die Finanzgrenzwache militärisch organisiert und vermehrt.
Zugleich mit dieser durch die Schwierigkeiten einer russ. Mobilmachung bedingten Truppenanhäufung an den Westgrenzen, der 1889 in Angriff genommenen Vermehrung der strategischen Bahnen im Westen sowie des Fahrparks der Weichselbahn und der südöstl. Bahnen, erfolgten Maßregeln zur Verstärkung der gesamten russ. Armee. Im Juli 1888 wurde die Gesamtdienstzeit im Heer von 15 auf 18 Jahre erhöht, während gleichzeitig das jährliche Rekrutenkontingent eine Erhöhung um 15000 Mann erfuhr. Ein Ukas vom 13. Nov. vermehrte sodann die Zahl der 15 bestehenden Linienkorps um drei neue, die aus den überschüssigen Divisionen der alten Korps gebildet werden sollten. Dazu kam 1889 die Umwandlung der 20 Schützenbataillone im europ. Rußland in ebenso viele Regimenter zu 2 Bataillonen, die Bildung einer zweiten kombinierten Kosakendivision und die Erhöhung der Feldartilleriebrigaden von 6 auf 8 Batterien mit je 8 Geschützen.
Zu einem wirklichen Kriege mit Deutschland kam es zwar nicht, wohl aber zu einem Zollkriege. Nachdem 1890 die russ. Schutzzölle um 20 Proz. erhöht worden waren, begannen Febr. 1893 Verhandlungen mit Deutschland über einen Handelsvertrag. Als der Abschluß sich verzögerte, suchte Rußland 20. Juli durch Zollzuschlag von 50 Proz. auf deutsche Importartikel die deutsche Regierung zum raschern Abschluß zu drängen. Die deutscherseits 25. Juli hiergegen ergriffenen Maßnahmen schienen jedoch bald eine besonnene Stimmung in Petersburg hervorzurufen, und bald darauf begannen wiederum Verhandlungen, die zum Abschluß führten.
Der Reichstag genehmigte den Vertrag 16. März; 20. März wurde derselbe im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Den beiderseitigen Unterthanen wird im Handels- und Gewerbebetriebe das Vermögensrecht und gegenüber der Justiz und Verwaltung eine gleichmäßige Behandlung mit den eigenen Reichsangehörigen gewährleistet. Der gegenseitige Verkehr soll durch keinerlei Einfuhr- oder Ausfuhrverbote gehemmt werden. Eine Ausnahme ist nur für Gegenstände des Staatsmonopols zulässig. Russ. und deutsche Boden- und Gewerbeerzeugnisse genießen bei Verbrauch, Lagerung, Wiederaus- und Durchfuhr die Meistbegünstigung. Der Vertrag hat zunächst 10 Jahre Gültigkeit. Die Kündigungsfrist nach dieser Zeit ist einjährig. In R.fand der Vertrag allgemeinen Beifall.
Trotz der ablehnenden Haltung R.s befestigte sich die Regierung des Prinzen Ferdinand in Bulgarien unter der energischen Leitung Stambulows, und die wiederholten, von den russ. Panslawisten angezettelten Verschwörungen ließen die Sympathien für Rußland mehr und mehr schwinden, wenn es andererseits auch noch immer eine starke russenfreundliche Partei im Lande gab. Diese erlangte sogar einen großen Erfolg, indem sie Mai 1894 die Entlassung Stambulows durchsetzte, der hauptsächlich einer Annäherung mit Rußland widerstrebte.
Seitdem wird von bulgar. Seite alles versucht, um eine Versöhnung mit Rußland herbeizuführen. In Serbien gewann Rußland, als nach der Abdankung König Milans die russisch gesinnten Radikalen die herrschende Partei wurden, die Stellung, die es in Bulgarien vergebens erstrebte. Der Einfluß der geschiedenen Königin Natalie und die Proklamation der gegen Österreich und die Türkei gerichteten großserb. Ideen durch den Metropoliten Michael bei der Gedenkfeier der Schlacht auf dem Amselfelde (27. Juni) vollendeten diese Schwenkung der serb. Politik. Die Krönungsfeier des jungen Königs Alexander, zu der kein diplomat. Vertreter geladen war und nur der russ. Gesandte Persiani auf Befehl des Zaren erschien, sowie der Toast des Königs auf den Zaren brachten das Vasallenverhältnis Serbiens zu Rußland zum Ausdruck. Im Juli 1891 besuchte Alexander den Zaren in Petersburg; doch lockerten sich später die Beziehungen. (S. Serbien.) Nikola von Montenegro, der «einzige aufrichtige Freund» R.s, fiel 1892 beim Zaren in Ungnade, weil er eine russ. Anleihe in «ein Gnadengeschenk des Kaisers verwandeln» wollte. Nun wurde der Versuch gemacht, Rumänien zu gewinnen; doch neigte der König Karl mehr zum Anschluß an den Dreibund.
In seiner asiat. Politik machte Rußland, dem hier nur England gegenüberstand, langsam, aber beständig Fortschritte. Die Einverleibung des Gebietes der Teke-Turkmenen bahnte Rußland den Weg nach Merw; unterwarfen sich die Turkmenenstämme von Merw. Das unterworfene Gebiet umfaßte 40000 Zelte und 280000 E. Etwa 1500 Familien verließen das Land und wandten sich nach Afghanistan. Dort arbeitete eine russ.-engl. Grenzregulierungskommission, um eine feste Grenze zwischen Afghanistan und dem russ. Gebiet zu
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vereinbaren. Inzwischen fand ein Zusammenstoß der von dem General Komarow befehligten Russen mit den Afghanen statt, die in die Flucht geschlagen wurden. Daraus entwickelten sich lange Verhandlungen zwischen Rußland und England, und es wurden bereits Kriegsrüstungen gemacht. Doch war das Friedensbedürfnis zu groß und allgemein, so daß man sich einigte, den Sulfikarpaß als nordwestlichsten Punkt von Afghanistan anzuerkennen. Am hielten die Russen ihren Einzug in das ihnen von dem afghan. Grenzgebiet zugesprochene Pendschdeh und setzten dort eine russ. Verwaltung ein. Am 14. Juli wurde die vom Kaspisee nach Merw führende Eisenbahn dem Verkehr übergeben und von da drei Heerstraßen an die afghan. Grenze gebaut.
Zur Beilegung von russ.-afghan. Grenzstreitigkeiten wurden in Petersburg Unterhandlungen zwischen russ. und engl. Bevollmächtigten eröffnet, die 20. Juli zu einem Vertrage führten, welcher Rußland gegen Verzicht auf das von ihm beanspruchte Merutschek das wertvollere Gebiet zwischen den Flüssen Kuschk und Murghab zusprach. Das am Amu-darja gelegene afghan. Gebiet von Kerki wurde, angeblich wegen Niedermetzelung bucharischer Beamten durch Afghanen, durch russ. Truppen besetzt. Im Aug. 1891 erschien eine aus 600 Mann Militär bestehende russ. «Erforschungsexpedition» auf dem Pamirplateau; 1892 rückte der russ. Oberst Janow weiter vor und besiegte die Afghanen bei Somatasch Die Engländer, die ihre Herrschaft in Indien bedroht glaubten, suchten Rußland durch Unterhandlungen fern zu halten. Im Okt. 1893 nahm der Emir Abd ur-Rahman eine brit. Gesandtschaft feierlich in Kabul auf und verkündete seinem Volk, daß mit England alle streitigen Fragen erledigt seien.
Für den erkrankten Staatssekretär von Giers übernahm Sommer 1892 Schischkin zeitweilig die auswärtigen Geschäfte. Er band sofort mit der Türkei an und forderte die rückständige Zahlung von 165000 Pfd., die Durchfahrt durch die Dardanellen für russ. Kriegsschiffe, die aus dem Schwarzen ins Baltische Meer fahren, und die Einsetzung des vom Zaren erwählten Katholikos der armenischen Kirche Khrimian, der einige Jahre vorher mit der türk. Regierung in Streit geraten und nach Jerusalem verbannt worden war.
Nach längern Verhandlungen wurde Khrimian als Haupt aller Armenier in Etschmiadzin gesalbt (Okt. 1893). Im Herbst 1894 verbreiteten sich Nachrichten über Grausamkeiten der türk. Behörden gegen die Christen in Armenien, die England und Rußland veranlaßten, an der Kommission zur Untersuchung der Verhältnisse teilzunehmen. Mit Persien entstand 1888 ein Konflikt. Während einer zeitweiligen Abwesenheit des russ. Gesandten am pers. Hofe, Fürsten Dolgorukij, hatte der engl. Gesandte Sir Wolfs bei dem Schah die freie Schiffahrt für alle Nationen auf dem Flusse Karun, die aber ausschließlich für England von Nutzen war, und die Verweigerung der Einrichtung eines russ. Konsulats in Meschhed durchgesetzt.
Da aber Persien R.s Macht mehr fürchtete als die Englands, so wurde sehr bald die Zurücknahme jener Verweigerung und eine starke Beschränkung des Handels auf dem Karunflusse von russ. Seite erlangt. Ferner wurde 1892 das einer engl. Gesellschaft überlassene Tabaksmonopol auf russ. Einwirkung aufgehoben, dagegen erhielt der Russe Poljakow 1893 die Erlaubnis zum Bau einer Eisenbahn vom Kaspischen Meer nach Teheran, und ein Landstrich in Chorassan wurde im Austausch mit Hissar und Abbasabad an Rußland abgetreten.
Auch in Korea hatte England nachgeben und das von ihm besetzte Port-Hamilton räumen müssen, nachdem Rußland der chines. Regierung zugesichert hatte, daß es in diesem Falle Korea nicht angreifen werde. Doch die Bestrebungen R.s, Korea seinem Einflusse zu unterwerfen, hörten deshalb nicht auf. Im Herbst 1888 schloß Rußland einen Handelsvertrag mit Korea, der Rußland wesentliche Vergünstigungen zusicherte, und die russ. Regierung drang auf vollständige Unabhängigkeit der Halbinsel von China.
Ein 1888 mit Japan abgeschlossener Handelsvertrag verlieh den russ. Unterthanen das Recht, sich überall in Japan niederzulassen, wogegen die Konsulargerichte aufgehoben wurden und die russ. Staatsangehörigen künftig der Gerichtsbarkeit der in Japan zu errichtenden gemischten Gerichtshöfe unterworfen sein sollten. Mit den Vereinigten Staaten schloß Rußland 1887 einen Auslieferungsvertrag ab, der polit. Mörder auch zu den gemeinen Verbrechern rechnete, die als solche ausgeliefert werden sollten.
Am hatte Rußland mit der Römischen Kurie eine Konvention abgeschlossen, worin die Wiederherstellung der russ. Botschaft im Vatikan und die Begnadigung der administrativ verschickten poln. Bischöfe festgesetzt und dem Staate die Oberaufsicht über die röm.-kath. Seminarien, namentlich das Recht der Kontrolle des Unterrichts in der russ. Sprache und das Recht des Veto gegen die Anstellung mißliebiger Seminarlehrer seitens der Bischöfe zuerkannt wurde.
Zum russ. Gesandten im Vatikan wurde Butenjew ernannt. Dieser wurde aber schon 1884 wieder zurückgerufen, weil der Papst eine Deputation Griechisch-Unierter empfing und von derselben eine mit 1500 Unterschriften versehene Adresse entgegennahm, in welcher über den von der orthodoxen Geistlichkeit auf sie geübten Druck geklagt wurde. In dieser Entgegennahme der Adresse sah die russ. Regierung eine Einmischung in innere russ. Verhältnisse. Erst 1888 wurden die Verhandlungen zwischen Rußland und dem Vatikan wieder angeknüpft.
Von dem Nuntius Galimberti und dem russ. Botschafter Fürsten Lobanow in Wien wurden die Vorfragen erledigt und sodann ein außerordentlicher russ. Gesandter, Iswolskij, 10. Nov. vom Papste und vom Kardinalstaatssekretär Rampolla empfangen. Die mehrmals ins Stocken geratenen Verhandlungen führten 1889 hinsichtlich der Frage der Wiederbesetzung der kath. Bischofssitze zu einer Verständigung und Juni 1894 zur Einsetzung Iswolskijs zum Ministerresidenten beim päpstl. Stuhl. Der Papst bemühte sich sogar allen Ernstes, eine Versöhnung der griech. und röm. Kirche herbeizuführen.
Die innere Politik R.s war vielfach von der Richtung der äußern bedingt. So war die erwähnte Heeresverstärkung eine Folge sowohl der gespannten Beziehungen zu den mitteleurop. Mächten als auch der Absicht R.s, bei etwa eintretenden europ. Verwicklungen die Gunst des Augenblicks für sich voll ausnutzen zu können. Die russ. Kriegsflotte im Schwarzen Meere, welche 120 Kriegsschiffe, darunter 7 Panzerschiffe und 16 Torpedos zählte, wurde im Mai 1886 um zwei weitere Kriegsdampfer vermehrt, deren Stapellauf der Kaiser beiwohnte. Durch Ukas vom wurde die im Berliner Vertrag beschlossene Freihafenstellung Batums aufgehoben und die Stadt trotz des Einspruchs
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Englands in einen starken Kriegshafen umgewandelt. Zu einem zweiten Kriegshafen wurde Sewastopol ausersehen, während der Handelshafen 1893 von dort nach Feodosia verlegt wurde. Die Erbauung der Transkaspibahn zunächst bis Merw und später bis Samarkand sollte in erster Linie der Verstärkung der russ. Machtstellung im innern Asien dienen. In den Kreisen der Bevölkerung, welche allmählich auf Alexander III. den größten Einfluß gewannen, zeigte man den Haß gegen Deutschland und die Sympathien für Frankreich immer ungescheuter. Im Nov. 1890 kam eine Anleihe R.s von 400 Mill. bei der Pariser Bank zu stande. 1891 scheiterte aber eine Französische Ausstellung in Moskau wegen mangelhaften Besuchs und Okt. 1891 der Versuch einer neuen Anleihe in Paris von 500 Mill. Frs.
Das war um so auffallender, als im Juli die franz. Flotte bei einem Besuch Kronstadts mit den größten Ehrenbezeigungen vom Zaren und von der Bevölkerung aufgenommen worden war. 1893 erwiderte die aus Amerika von der Ausstellung zurückkehrende russ. Flotte den Kronstädter Besuch in Toulon, welches Ereignis die Zeichnung einer russ. Anleihe von 200 Mill. in Frankreich beschleunigte. Anfang 1894 kam es aber wieder zu gereizten Verhandlungen wegen der Erhöhung des Getreidezolles in Frankreich.
Der bei weitem wichtigste Zweig der wirtschaftlichen Thätigkeit in Rußland, der Ackerbau, hat sich infolge des unvermittelten Überganges der Masse des Volks aus der Leibeigenschaft zu weitestgehender Unabhängigkeit in der Privat- und Gemeindewirtschaft während der letzten Jahrzehnte nicht gehoben; es zeigte sich vielmehr trotz der unerschöpflichen natürlichen Hilfsquellen R.s ein Rückgang der Landwirtschaft, der sich besonders in den sich stetig mehrenden massenhaften Konkursen von Gütern und bäuerlichen Stellen offenbarte. Zu diesen Mißständen traten in den J. 1884 und 1885 noch mangelhafte Ernteerträge und ein Rückgang der Kornpreise sowie Kornausfuhr.
Infolgedessen hatte das russ. Budget mit ständigen Deficits zu kämpfen. Als im Jan. 1887 Wyschnegradskij das Ressort des Finanzministers Bunge erhielt, richtete dieser sein Hauptstreben auf die Beseitigung des Deficits, die ihm vorübergehend gelang. Teils als Finanzquelle, teils als Mittel zur Hebung der inländischen Industrie wurden hohe Schutzzölle eingeführt, mit denen Wyschnegradskij Rußland gegen den Westen, vor allem gegen Deutschland abschloß. Da sowohl hierin wie auch in dem bald darauf erlassenen Ukas gegen die Ausländer eine offenbare Feindseligkeit gegen Deutschland lag, so antwortete dieses durch Maßregeln, welche den Kurs des Papierrubels unter die Hälfte seines Nominalwertes herabdrückten.
Anfang 1891 entstand in vielen Teilen des Reichs eine furchtbare Hungersnot. Daher wurde 28. Juli die Ausfuhr von Roggen verboten. Diese und andere Maßregeln konnten die weitere Verbreitung der Hungersnot nicht hindern, besonders da von den staatlichen und privaten Spenden für die notleidende Bevölkerung viel von den Beamten gestohlen wurde. Zur Verzweiflung getrieben, ergaben sich die Bauern dem Trunk oder bildeten Räuberbanden. Im Kiewschen entstanden jüd. Räuberbanden, worauf Tausende von Juden ausgewiesen wurden. Die Bevölkerung suchte die Behörden in grausamer Verfolgung zu überbieten.
Durch eine kaiserl. Verordnung vom wurde bestimmt, daß alle Pachtverhältnisse der Bauern gegenüber den frühern Grundbesitzern bis zum gelöst sein müßten. Ein Ukas vom Juni 1882 ordnete die allmähliche Aufhebung der Kopfsteuer an, wodurch die Steuerlast der Bauern bedeutend ermäßigt und zugleich eine gerechtere Steuerbelastung der ganzen Bevölkerung angebahnt werden sollte. Da die bäuerliche Selbstverwaltung sehr im argen lag, wurde von dem Minister des Innern, Grafen Tolstoj, ein Entwurf zu ihrer Reform und zur Einsetzung von Aufsichtsbehörden über ihre Organe ausgearbeitet.
Der 1889 fertig gestellte Entwurf hob eigentlich die Selbstverwaltung vollständig auf, indem er ihre Funktionen auf von der Regierung ernannte, nur aus dem Adel entnommene «Bezirkshäupter» übertrug. Deshalb stieß der Entwurf im Reichsrat auf starken Widerstand, wurde jedoch, da er die Zustimmung des Kaisers für sich hatte und im Grunde nur gesetzlich regelte, was trotz der dem Namen nach freien Selbstverwaltung thatsächlich bereits überall bestand, schließlich angenommen.
Inzwischen war der Minister des Innern, der starre Bureaukrat und eifrige Orthodoxe Tolstoj, gestorben. Zu seinem Nachfolger ernannte der Kaiser am 18. Mai den Geheimrat Durnowo und trug demselben auf, streng an den Grundsätzen festzuhalten, die sein Vorgänger nach der Weisung des Kaisers befolgt habe. 1890 wurde die Kinder- und Frauenarbeit gesetzlich beschränkt, Febr. 1892 wurden Gesetze erlassen wegen Unveräußerlichkeit der Bauernländereien und wegen Gründung von Hilfskassen für die Arbeiter an den Staatseisenbahnen.
Ferner kam ein Gesetz zu stande wegen Bestrafung des Angriffs eines Teils der Bevölkerung durch den andern, namentlich auch der Anstiftung von religiöser, Rassen- oder Standesfeindschaft. Im Aug. 1892 wurde die Thätigkeit der «Kulaks» (etwa: Wucherer), die in Ausnutzung der Lage des Verkäufers Korn aufzukaufen pflegen, gesetzlich beschränkt. Am wurde Wyschnegradskij entlassen und Witte wurde Finanzminister. Das Ergebnis von Wyschnegradskijs sechsjähriger Amtsführung war die Isolierung R.s von der europ. Finanzwelt, die Steuerüberbürdung der verarmten Bevölkerung, die Hemmung des Handelsverkehrs durch den hohen Zoll und die Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Interessen. Unter Witte besserten sich die Finanzen, auch traten bessere Ernten ein.
Unter Alexander II. war das kaiserl. Familiengesetz, welches von ausländischen Prinzessinnen vor der Verheiratung mit einem russ. Großfürsten die Annahme des orthodoxen Glaubens verlangte, durch Dispensationen mehrfach durchbrochen worden. Alexander III. änderte es daher 1886 dahin ab, daß nur die Gemahlin des Kaisers oder des Thronfolgers den orthodoxen Glauben annehmen müsse. Am dagegen stellte der Zar das alte intolerante Gesetz wieder her. Am 20. April war ein anderes Familiengesetz erlassen worden, das allen Mitgliedern des kaiserl. Hauses das Eingehen morganatischer Ehen verbot.
Um den Nihilismus zu bekämpfen, der sich zum großen Teil aus den Kreisen der Studenten rekrutierte, erließ der Minister der Volksaufklärung Deljanow mehrere Verordnungen, die dem Zudrang zu den höhern Schulen wehren sollten. Das Schulgeld in den Gymnasien wurde um ein Drittel erhöht, die Schülerzahl beschränkt, Söhne von Angehörigen der niedern Volksklassen sollten nicht
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zugelassen werden. Das neue Universitätsstatut entzog den Professoren wie den Studenten einen großen Teil der Freiheiten, die Alexander II. den Universitäten gewährt hatte. Besondere Inspektoren, denen niedere Polizeiorgane zur Verfügung gestellt wurden, erhielten die Aufgabe der Überwachung von Professoren und Studenten hinsichtlich ihrer polit. Gesinnung und bildeten ein unmoralisches System von Angeberei unter den Studierenden aus. Dagegen empörten sich die Studenten und verlangten Aufhebung des Statuts. Am brachen zuerst an der Moskauer Universität, dann in Odessa, Charkow, Kasan, am 22. Dez. auch in Petersburg Unruhen aus.
Die fünf Universitäten wurden für längere Zeit geschlossen, zahlreiche Studenten relegiert, viele verhaftet, mehrere von ihnen zur Deportation verurteilt. Damit aber führte man dem Nihilismus neue Anhänger zu. Kurz vor diesem Erlaß (13. März) war ein Attentat auf den Kaiser in der Straße Große Morskaja von der Polizei vereitelt worden. Es folgten zahlreiche Hinrichtungen. Bald darauf gelegentlich der Reise des Kaisers nach Nowotscherkaßk (15. bis 22. Mai), wo der Großfürst-Thronfolger zum obersten Hetman der Kosaken ernannt wurde, bereitete ein Kosakenoffizier ein Bombenattentat vor, wurde aber verhaftet und mit sieben andern Nihilisten hingerichtet.
Wie wenig die im Manifest vom 10. Mai ausgesprochenen klerikal-reaktionären Grundsätze die verheißene «Gesundung» der russ. Zustände herbeigeführt hatten, mußte der Kaiser an sich selbst erfahren. Die Entgleisung des kaiserl. Zuges bei der Station Borki (s. d.) wobei das von der Reise in den Kaukasus zurückkehrende Kaiserpaar nur wie durch ein Wunder gerettet wurde, warf ein grelles Licht auf die Zustände in der russ. Bahnverwaltung. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt und der stark kompromittierte Minister der Kommunikationen, Admiral Poßjet, erhielt seine Entlassung.
Durch kaiserl. Erlaß vom wurde die gerichtliche Untersuchung gegen die an der Katastrophe schuldigen Beamten eingestellt und nur disciplinarische Bestrafung angeordnet. An Nihilistenprozessen fehlte es auch in den folgenden Jahren nicht; so wurden 1890 Sofie Günsberg und Olga Iwanowskij, die Tochter eines höhern Beamten, zum Tode verurteilt. Andere Prozesse wurden so geheim geführt, daß keine sichern Nachrichten über sie in das Publikum drangen.
Neben der altmoskowitischen Richtung trat auch der mit der Entlassung des Grafen Ignatjew aus der Regierung verdrängte Panslawismus wieder hervor. Seinen Mittelpunkt hatte derselbe in der «Slawischen Wohlthätigkeitsgesellschaft», die an allen Zettelungen auf der Balkanhalbinsel und an allen Agitationen unter den österr. Slawen beteiligt war und 1888 den General Grafen Ignatjew zu ihrem Präsidenten wählte. Eine Gelegenheit zu panslawistischen Demonstrationen bot die Jubiläumsfeier in Kiew zur Erinnerung an die vor 900 Jahren erfolgte Einführung des Christentums in Rußland Während die Regierung es mit Absicht vermied, der Feier eine polit. Bedeutung zu geben, suchte Ignatjew dieselbe zu einem panslawistischen Verbrüderungsfest zu gestalten.
Was der innern Politik Alexanders III. vor allem ihr Gepräge gab, war ihr Verhältnis zu der fremdsprachigen und andersgläubigen Bevölkerung im europäischen Rußland. Die Regierung erstrebte rücksichtslos die Unterdrückung und Assimilierung dieser Elemente und zeigte sich besonders feindselig gegenüber den Polen und den Deutschen, hauptsächlich in den Ostseeprovinzen. Trotz aller gewaltsamen Maßregeln breitete sich das poln. Element stetig auch außerhalb des Königreichs Polen in den westl. Provinzen weiter aus. Dem sollte durch einen im Jan. 1885 veröffentlichten Erlaß Halt geboten werden, wonach kein Pole in den westl. zehn Gouvernements Grund und Boden erwerben darf. Durch solche Maßregeln wie auch durch die unausgesetzten Beeinträchtigungen der kath. Kirche und die sich stets erneuernden Versuche, die Unierten zwangsweise zur griech. Kirche überzuführen, machte die Regierung die andererseits von ihr ersehnte Annäherung der Polen an Rußland unmöglich.
In der Behandlung der Ostseeprovinzen trat der Wechsel in der Richtung der russ. Politik seit dem Tode Alexanders II. am deutlichsten zu Tage. Während diese Provinzen in dem Wohlwollen des verstorbenen Kaisers einen freilich immer schwächer werdenden Schutzwall gegen den Ansturm auf ihr deutsches und prot. Wesen besessen hatten, beschloß Alexander III. aus nationalem und religiösem Eifer die Beseitigung ihrer Eigenart. Die Russifizierung der Provinzen wurde daher unausgesetzt und planmäßig unter Mißachtung der verbrieften Rechte und unter Beihilfe einer in ihren Mitteln wenig wählerischen griechisch-orthodoxen Propaganda betrieben. Sogar die histor. Namen Dorpat und Dünaburg mußten (1893) verschwinden und dem angeblich ursprünglich russ. Jurjew und Dwinsk Platz machen. (S. Ostseeprovinzen.)
In letzter Zeit zeigte sich die Regierung entschlossen, auch die Selbständigkeit Finlands zu vernichten. Die beabsichtigte Münz- und Zolleinigung, mit dem übrigen Reiche, die Aufhebung der selbständigen finn. Miliz u. a. haben im Lande eine hochgradige Erregung hervorgerufen und begegnen einem entschlossenen, einmütigen, wenn auch nur passiven Widerstande der Finländer. (S. Finland.) Trotzdem wäre die Russifizierung Finlands stetig, wenn auch langsam fortgeschritten, wenn nicht durch den Tod Alexanders III. eine Wendung eingetreten wäre. Er starb nach verhältnismäßig kurzer Krankheit in Livadia, von seinen Russen aufrichtig betrauert.
Sein Nachfolger Nikolaus II. (s. d.) vermählte sich 26. Nov. mit der Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt, nachdem diese die griechisch-orthodoxe Konfession und den Namen Alexandra Feodorowna. angenommen hatte. Von dem neuen Zaren erwartet man in Rußland ein milderes Auftreten gegen die fremden Nationalitäten und Konfessionen. Die Polen begrüßten ihn durch eine besondere Deputation, und 13. Dez. wurde der unbeliebte Generalgouverneur von Warschau, Gurko, durch den Botschafter am Berliner Hofe, Grafen Paul Schuwalow, ersetzt.
Ebenso wurde der verhaßte Generalgouverneur von Wilna, Orshewskij, verabschiedet. Den Finländern bestätigte der Zar die Privilegien; die freundschaftliche Verbindung mit Frankreich wird aufrecht erhalten. Im Innern hoffte man auf größere Neigung zu liberalen Regierungsformen, ja in einigen Kreisen wurde sogar der Wunsch ausgesprochen, daß die Gouvernements-Landschaftsversammlungen einen gewissen Anteil an der inneren Verwaltung des Reichs nehmen sollten: diese Hoffnungen bezeichnete der neue Zar in einer Ansprache an die
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Glückwunschdeputationen nach seiner Vermählung als «sinnlose Schwärmereien». Gleichwohl wurden Kongresse von Sachverständigen auf mehrern Verwaltungsgebieten nach Petersburg berufen, so daß die Wünsche weiterer Bevölkerungskreise zum selbstherrlichen Throne dringen konnten. Energische Maßregeln zur Einschränkung der Trunksucht durch Einführung staatlichen Branntweinverkaufs (zunächst in den östlichen Provinzen), zur Hebung der Getreidepreise durch staatliche Einkäufe zur Verpflegung bedürftiger Gebiete, endlich ein Gesetz über den allgemeinen Schulzwang stehen in Vorbereitung. starb der Staatssekretär des Auswärtigen von Giers; seine Stelle nahm im März 1895 der frühere Botschafter in Wien Fürst Lobanow-Rostowskij (s. d.) ein, der zunächst zum Botschafter in Berlin ernannt war, daselbst aber durch den Grafen von der Osten-Sacken (s. Sacken) ersetzt wurde.
Litteratur zur Geschichte. Von histor. Werken, hauptsächlich in deutscher Sprache oder Übersetzung, sind, außer den klassischen von Karamsin (s. d.) und den ältern von Herberstein, Müller, Schtscherbatow, Coxe, Le Clerc, Levesque und Schlözer, hervorzuheben: Polewoj, Geschichte des russ. Volks (russisch, 6 Bde., Mosk. 1829-33);
Strahl und Herrmann, Geschichte des russ. Staates (7 Bde., Hamb. und Gotha 1832-66);
Ustrjalow, Geschichte R.s (3. Aufl., 2 Bde., Petersb. 1845; deutsch von E. W., 2 Bde., Stuttg. 1839-43);
Turgenjew, La Russie et les Russes (Par. 1845);
Solowjew, Geschichte R.s (russisch, 28 Bde., Petersb. 1854-85; neue Ausg., ebd. 1893 fg.);
von Bernhardi, Geschichte R.s und der europ. Politik 1814-31, Bd. 1-3 (Lpz. 1863-77);
Kostomarow, Russ. Geschichte in Biographien (3 Bde., Petersb. 1873-76; deutsch von W. Henckel, Bd. 1, Lpz. 1889);
desselben Histor. Monographien und Forschungen (russisch, 12 Bde., Petersb. 1868 fg.) u. a. (s. Kostomarow);
Schnitzler, Geschichte des Russischen Reichs bis zum Tode des Kaisers Nikolaus I. (deutsch von E. Burckhardt, 3. Aufl., Lpz. 1874);
Bestuschew-Rjumin, Geschichte R.s;
deutsch von Schiemann, Bd. 1 (Mitau 1876);
Brückner, Bilder aus R.s Vergangenheit, Bd. 1 (Lpz. 1887);
ders., Die Europäisierung R.s (Gotha 1888) und die Specialarbeiten desselben Verfassers über Peter d. Gr., Katharina II. u. a.;
Schiemann, Rußland, Polen und Livland bis zum 17. Jahrh. (2 Bde., Berl. 1885-89);
E. von der Brüggen, Wie Rußland europäisch wurde (Lpz. 1885);
Ordega, Die Gewerbepolitik R.s von Peter I. bis Katharina II. (Tüb. 1885);
Rambaud, Histoire de la Russie de l'origine jusqu'à l'année 1884 (3. Aufl., Par. 1886; deutsch von E. Steineck, Berl. 1886).
Um die Herausgabe der russ. Geschichtsquellen hat sich besonders die Archäographische Kommission verdient gemacht. So besorgte dieselbe unter anderm eine «Vollständige Sammlung russ. Annalen» (15 Bde., Petersb. 1841-85) und veröffentlichte «Urkunden (Akty) gesammelt in den Bibliotheken und Archiven des Russischen Reichs» (4 Bde., ebd. 1836),
«Histor. Urkunden» (5 Bde., ebd. 1841-42; Supplemente, 11 Bde., 1846-75),
«Urkunden, welche die Geschichte des westlichen und südlichen Rußland betreffen» (17 Bde., ebd. 1846-76),
«Russ.-Livländ. Urkunden» (ebd. 1868). Hierzu kommen Turgenjew, Historica Russiae monumenta, Bd. 1 u. 2 (Petersb. 1841-42; Supplementum, 1848), und Adelung, Kritisch-litterar. Übersicht der Reisenden in Rußland bis 1700 (2 Bde., ebd. 1846); ferner die von dem Kanzler Rumjanzow veranstaltete Sammlung russ. Staatsurkunden (4 Bde., Mosk. 1813-28) und die von der kaiserl. Privatkanzlei herausgegebenen Hof- und Geschlechtsregister («Dvorcovyje razrajdy», 4 Bde., Petersb. 1850-55; «Razrjadnyja knigi», 3 Bde., 1853-56),
der «Sbornik») der russ. Historischen Gesellschaft (ebd. 1867 fg.); Recueil de traités et conventions conclus par la Russie avec les puissances étrangères, publ. par F. Martens, Bd. 1-10 (ebd. 1878-89). Von Werken über die ältere Geschichte sind zu nennen: Ewers, Vom Ursprunge des russ. Staates (Riga und Lpz. 1808);
ders., Kritische Vorarbeitung zur Geschichte der Russen (2 Abteil., Dorp. 1814);
Frähn, Ibn-Fozlans und anderer Araber Berichte über die Russen älterer Zeit (Petersb. 1823);
Lehrberg, Untersuchung zur Erklärung der ältern Geschichte R.s (ebd. 1816);
Rafn, Antiquités russes (3 Bde., Kopenh. 1850-54; aus skandinav. Quellen);
Kunik, Die Berufung der schwed. Rodsen durch die Finnen und Slawen (2 Tle., Petersb. 1844-45);
Krug, Forschungen in der ältern Geschichte R.s (2 Tle., ebd. 1848);
Pogodin, Izslědovanija, zaměčanija i lekcii o russkoj istorii (7 Bde., Mosk. 1846-57);
ders., Normann. Periode der russ. Geschichte (russisch, ebd. 1859);
Winckler, Die deutsche Hansa in Rußland (Berl. 1886).
Vgl. Ikonnikow, Versuch einer russ. Historiographie (russisch, Bd. 1, Kiew 1892).
Zur neuesten Geschichte: Rußland vor und nach dem Kriege (2. Aufl., Lpz. 1879);
Aus der Petersburger Gesellschaft (5. Aufl., ebd. 1880; Neue Folge, 3. Aufl. 1881);
Berlin und St. Petersburg (2. Aufl., ebd. 1880);
Von Nikolaus I. zu Alexander III. (2. Aufl., ebd. 1881);
Russ. Wandlungen (2. Aufl., ebd. 1882);
Lose Blätter aus dem Geheimarchiv der russ. Regierung (ebd. 1882);
Stepniak, La Russia sotterranea (Mail. 1882; betrifft den Nihilismus);
Thun, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (Lpz. 1883);
Vasili, La société de Saint Pétersbourg (Par. 1886 u. ö.);
Deutschland-Österreich oder Rußland. Eine polit.
Studie von einem Westslawen (Prag 1887); Russ.-balt. Blätter. Beiträge zur Kenntnis R.s und seiner Grenzmarken (3 Hefte, Lpz. 1887); Remmer, Rußland und die europ. Lage (ebd. 1888); von Samson-Himmelstjerna, Rußland unter Alexander III. (ebd. 1891).