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Verhandlungen (Jan. bis April 1853) lehnte Großbritannien [* 2] diese Vorschläge ab. Inzwischen war jedoch die russ. Politik schon energisch vorgegangen. Am erschien Fürst Menschikow als außerordentlicher Botschafter in Konstantinopel, [* 3] wo er mit schroffer Rücksichtslosigkeit auftrat. Am 16. März übergab er eine Note, welche wegen der Heiligen Stätten Beschwerde führte und Garantien für die Rechte der griech. Kirche forderte. Als die Pforte, von England und Frankreich ermutigt, diese Forderung verweigerte, brach Menschikow die diplomat. Beziehungen ab, und der Zar verkündete, nachdem ein der Pforte gestelltes Ultimatum abgelehnt war, in einem Manifest vom 26. Juni, daß er seine Truppen in die Donaufürstentümer einrücken lasse, um für die Wiederherstellung der Rechte R.s und der griech. Kirche ein Pfand in Besitz zu nehmen.
In der Tat drang schon ein russ. Heer unter Fürst Michail Gortschakow in die Moldau und Walachei ein. Alle Vermittelungsversuche blieben erfolglos, und auch eine in Wien [* 4] eröffnete Konferenz der Großmächte zog sich bis April 1854 hinaus, ohne eine Ausgleichung herbeizuführen. Inzwischen hatten seit Okt. 1853 die Feindseligkeiten zwischen Rußland und der Türkei [* 5] begonnen, und traten auch die Westmächte in den Krieg gegen Rußland (den sog. Krimkrieg oder Orientkrieg, s. d.) ein, der nun große Dimensionen annahm. Im Sept. 1854 faßten die verbündeten Franzosen, Briten und Türken, denen sich später die Sardinier anschlossen, festen Fuß in der Krim [* 6] und begannen die Belagerung von Sewastopol [* 7] (s. d.). Mitten in diesen Schwierigkeiten starb Kaiser Nikolaus Sein Sohn und Nachfolger Alexander II. (1855-81) setzte den Krieg fort, da die abermaligen Friedenskonferenzen zu Wien März und April 1855 ohne Resultat blieben. Nach dem Fall Sewastopols wurden unter Vermittelung Österreichs die Unterhandlungen aufgenommen und führten zum Abschluß des (dritten) Pariser Friedens (s. d.).
Der Orientkrieg hatte Rußland in den Zustand tiefster Erschöpfung versetzt, und so war es natürlich, daß die russ. Politik in den nächsten Jahren sich von jeder thatkräftigen Einmischung in die europ. Verwicklungen zurückhielt, dagegen aber im Orient eine lebhafte Thätigkeit entwickelte. Obwohl Persien, [* 8] seitdem der brit.-pers. Krieg (1856-57) unter franz. Vermittelung beigelegt war, sich mit den Westmächten in engere Beziehungen setzte, wußte doch Rußland seinen Einfluß am Hofe von Teheran zu behaupten.
Während des Krieges der Westmächte gegen China [* 9] (1857-60) nahm eine vermittelnde Stellung ein und gewann auf diesem Wege große Vorteile. Durch die Verträge von Aigun von Tientsin und von Peking [* 10] wurde China dem russ. Handel eröffnet und zugleich ein großer Teil der Mandschurei, das sog. Amurland, an Rußland abgetreten. Auch ward 1863 eine ständige russ. Gesandtschaft in Peking errichtet. Durch den Handelsvertrag vom wurde der Verkehr mit Japan eröffnet und durch den Vertrag vom die Insel Sachalin an Rußland abgetreten, das dafür die Kurilen an Japan überließ.
Im Kaukasus, wo 1856-61 Fürst Barjatinskij als Statthalter kommandierte, dauerte der Kampf gegen die unabhängigen Bergvölker (s. Kaukasische Kriege) ununterbrochen fort, und erst nach drei beschwerlichen Feldzügen kam es endlich zu einem entscheidenden Erfolge. Am mußte Schamyl in seiner Bergfestung Gunib sich den Russen ergeben. Damit war die Unterwerfung des Kaukasus im ganzen und großen vollendet. In Mittelasien schritt Rußland unaufhaltsam vorwärts. (S. Russisch-Centralasien.) Der Chan von Chiwa hatte bereits 1854 den russ. Kaiser als seinen Oberherrn anerkannt. Aus weitern eroberten Ländern wurde 1867 die Provinz Turkestan mit der Hauptstadt Taschkend gebildet und 1876 die Provinz Ferghana. So verstärkte sich die Macht R.s in Mittelasien von Jahr zu Jahr zum Mißvergnügen Englands, welches bereits 1873 einen Notenwechsel hierüber eröffnete.
In der europ. Politik bewahrte Rußland nach wie vor eine maßvolle und reservierte Haltung. Nach dem Sturze des Königs Otto von Griechenland [* 11] hatte Rußland mit den beiden andern Schutzmächten bei der Wiederbesetzung des griech. Throns (1862-63) mitzuwirken. Die Einladung Frankreichs zu einer diplomat. Intervention in dem Nordamerikanischen Bürgerkriege lehnte ab (Nov. 1862). Vielmehr wurden die alten Sympathien für die Vereinigten Staaten [* 12] sorgsam gepflegt, und Rußland verkaufte im März 1867 seine Besitzungen im nordwestl.
Nordamerika [* 13] für 7 1/5 Mill. Doll. an die Vereinigten Staaten. Der poln. Aufstand gab Anlaß zu diplomat. Erörterungen. Nur Preußen [* 14] stellte sich in dieser Schwierigkeit auf R.s Seite und schloß die geheime Konvention vom Dagegen vereinigten sich Frankreich, Großbritannien und Österreich, [* 15] auf Antrieb Napoleons III., und erließen 10. April wesentlich übereinstimmende Noten, worin sie unter Hinweis auf die Verträge von 1815 eine mildere Behandlung Polens befürworteten.
Der russ. Staatskanzler Fürst Gortschakow antwortete darauf 26. bis 27. April, daß Rußland sich die Auslegung der Verträge selbst vorbehalten müsse. Bei den langwierigen diplomat. Differenzen wegen der schlesw.-holstein. Frage hatte Rußland bisher auf seiten Dänemarks gestanden. Als aber 1864 der Deutsch-Dänische Krieg ausbrach, begnügte es sich, diplomatisch zu vermitteln und an der fruchtlosen Londoner Konferenz teilzunehmen. Auch trat Alexander II. zu Kissingen [* 16] die Erbansprüche auf Schleswig-Holstein, [* 17] welche ihm als Haupt der Gottorpischen Linie des Oldenburger Hauses zustanden, an den Großherzog Peter von Oldenburg [* 18] ab.
Schon seit 1864 war die russ. Regierung, wegen ihres Verfahrens gegen die kath. Kirche in Polen, mit der päpstl. Kurie in Streitigkeiten verwickelt. Bei der Neujahrscour 1866 kam es deshalb zu einer heftigen Scene zwischen Papst Pius IX. und dem russ. Geschäftsträger Freiherrn Felix von Meyendorff. Infolgedessen wurden 9. Febr. die diplomat. Beziehungen abgebrochen, und 13. März verließ Meyendorff die Stadt Rom. [* 19] Darauf erklärte ein kaiserl. Ukas das zwischen Rußland und dem Papst abgeschlossene Konkordat für erloschen.
Als im Sommer 1866 der Konflikt zwischen Preußen und Österreich zum Ausbruch kam, verharrte Rußland in einer neutralen, aber entschieden preußenfreundlichen Haltung. Mit besonderer Lebhaftigkeit nahm die russ. Diplomatie sich der aufständischen christl. Bevölkerung [* 20] der Insel Kreta an und riet der Pforte, die Insel an Griechenland abzutreten, dessen König Georg I. sich mit einer russ. Prinzessin vermählte. Aber England war dagegen, die Pariser Konferenz vom Jan. 1869 ¶
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suchte den griech.-türk. Streit zu vermitteln, und Rußland, zum Kriege nicht gerüstet, mußte selbst Griechenland zur Annahme des Konferenzprotokolls raten. Das Verhältnis zu Preußen gestaltete sich immer inniger und wurde auch durch die panslawistische Richtung, die in der öffentlichen Meinung R.s immer mehr Boden gewann, nicht erschüttert.
Beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 und 1871 erklärte Rußland seine Neutralität (23. Juli) und zwang durch seine entschiedene Haltung Österreich gleichfalls in derselben zu verharren. Dafür war die deutsche Diplomatie Rußland behilflich, die demütigende Bestimmung des Pariser Friedens, die Rußland verbot, im Schwarzen Meer seine Flotte zu vergrößern und Kriegshäfen anzulegen, abzustreifen. (S. Pontusfrage.) Die Zusammenkunft des Kaisers Alexander II. mit den Kaisern Wilhelm I. und Franz Joseph 5. bis in Berlin [* 22] bewies die Aussöhnung R.s mit Österreich und die gegenseitige Verständigung der drei Herrscher.
Die ungerechte Behandlung, welche die Pforte ihren christl. Unterthanen angedeihen ließ, und ihre Weigerung, den im Pariser Vertrag von 1856 übernommenen Verpflichtungen vollständig nachzukommen, benutzte Rußland als eine neue Kriegsfrage. Der Aufstand in der Herzegowina und in Bosnien [* 23] im Juli 1875 veranlaßte zunächst die diplomat. Intervention der russ. Regierung. Sie legte bei der Dreikanzlerzusammenkunft in Berlin 11. bis das sog. Berliner [* 24] Memorandum vor, dessen Annahme an der Weigerung Englands scheiterte.
Montenegro und besonders Serbien, [* 25] welche im Juli der Pforte den Krieg erklärt hatten, wurden von Rußland in nicht offizieller Weise unterstützt und letzteres, als es, dem Untergange nahe, die Hilfe R.s anrief, durch das der Pforte gestellte Ultimatum des Zaren vom 30. Okt. gerettet. Am 10. Nov. erklärte Kaiser Alexander, von der öffentlichen Meinung gedrängt, seinen Entschluß, der Pforte den Krieg anzukündigen, falls diese keine Garantien für die Ausführung der von den Großmächten gestellten Forderungen gebe. Als die in Konstantinopel vom bis tagende Konferenz der Bevollmächtigten der Großmächte und das Londoner Protokoll vom zu keinem Resultat führten, wurde der Krieg durch das vom datierte Kriegsmanifest des Kaisers verkündigt. (S. Russisch-Türkischer Krieg von 1877 und 1878.)
Rußland war trotz des tapfern Widerstandes der Türkei schließlich siegreich. Die Pforte bat um Waffenstillstand; derselbe wurde nebst den Präliminarfriedensbedingungen zu Adrianopel unterzeichnet, 3. März der Friedensvertrag von San Stefano (s. d.) abgeschlossen. Aber die Ziele, welche Rußland nach seinen Waffenerfolgen anstrebte, veranlaßten das Einschreiten Englands. Nach langen Verhandlungen kam durch die Vermittelung der deutschen Regierung der Berliner Kongreß (s. d.) zu stande, der die orient.
Verhältnisse endgültig regeln sollte und unter dem Vorsitz des Fürsten Bismarck eröffnet wurde. In dem 13. Juli unterzeichneten Friedensvertrag erhielt Rußland von Türkisch-Asien die Gebiete von Kars, Ardahan und Batum, [* 26] und der durch den Pariser Vertrag 1856 von Rußland an die Türkei abgetretene Teil von Bessarabien wurde von Rumänien, das die Dobrudscha erhielt, an Rußland zurückgegeben. Dagegen mußte Rußland zu einigen, von den Friedensbestimmungen von San Stefano abweichenden Abmachungen über die künftige Gestaltung der Balkanhalbinsel [* 27] seine Zustimmung geben.
Der ostensible Zweck des Krieges, Befreiung der russ. Stammes- und Glaubensgenossen von der türk. Willkürherrschaft, war erreicht; der eigentliche Zweck, Rußland einen übermächtigen Einfluß auf der Balkanhalbinsel zu verschaffen, war verfehlt, während Österreich und England, die keinen Teil an dem Kriege genommen hatten, das eine mit der Verwaltung Bosniens und der Herzegowina, das andere mit der Cyperns betraut wurden. Daher war in Rußland weder Regierung, noch Armee, noch Presse [* 28] mit den Ergebnissen des Krieges zufrieden, und Deutschland [* 29] wurde der unbegründete Vorwurf gemacht, es habe auf dem Berliner Kongreß Rußland um die Früchte des Krieges gebracht.
Die Folge dieser Spannung zwischen Rußland und Deutschland war, daß im Sommer 1879 in Paris [* 30] über den Abschluß eines russ.-franz. Bündnisses verhandelt wurde, daß zur Beilegung der polit. Mißstimmung Kaiser Wilhelm I. 3. Sept. in Alexandrowo eine Zusammenkunft mit Kaiser Alexander hatte, und daß Fürst Bismarck, um Deutschland gegen die Gefahr einer russ.-franz. Offensivallianz zu sichern, in Gastein und in Wien eine Defensivallianz mit Österreich abschloß.
Gleichzeitig mit diesen den Sturz der türk. Herrschaft bezweckenden Bestrebungen erfolgte das Vorgehen R.s in Centralasien. Ein Konflikt mit China wegen Kaschgar (in Ostturkestan) wurde 1874 durch engl. Intervention beigelegt, das 1871 occupierte Kuldschagebiet 1881 an China zurückgegeben, außer einem kleinen Distrikt nordöstlich vom Fluß Ili. Durch den Feldzug Skobelews wurden 1881 die Tekke-Turkmenen unterworfen und ihr Gebiet Rußland einverleibt.
Sehr wichtig und wohlthätig war die Regierungsthätigkeit Alexanders II. im Innern. Gleich bei seiner Krönung zu Moskau [* 31] verkündete der Kaiser ausgedehnte Gnadenerlasse, verminderte die Abgaben und ließ die Rekrutenaushebung auf mehrere Jahre einstellen. Die hartbedrückten Juden erfuhren eine mildere Behandlung, und die bisherige strenge Absperrung gegen das Ausland hörte auf. In allen Zweigen der Verwaltung wurden Reformen angebahnt. Ein großes Eisenbahnnetz ward projektiert und der Ausbau desselben einer internationalen Aktiengesellschaft übertragen.
Auch das Königreich Polen erhielt Beweise des kaiserl. Wohlwollens. Besondere Fürsorge wurde dem Bauernstande zugewandt, der (außer in Finland und den Ostseeprovinzen) noch überall in Rußland unter der Leibeigenschaft stand. Im Sept. 1859 wurden Abgeordnete der Adelskorporationen aus allen Provinzen nach Petersburg [* 32] berufen, um an der Festsetzung eines Emancipationsgesetzes teilzunehmen; nachdem der Entwurf in letzter Instanz vor dem Reichsrat verhandelt war, wurde das Manifest betreffend die Aufhebung der Leibeigenschaft 19. Febr. vom Kaiser vollzogen. Danach erlangten die leibeigenen Dienstleute, deren Zahl etwa 1½ Mill. betrug, nach zwei Jahren ihre völlige persönliche und bürgerliche Freiheit; ebenso die an die Scholle gebundenen Bauern, welche über 20 Mill. zählten. Letztere erhielten überdies das Recht, die Gehöfte, die sie in Nutznießung hatten, durch Ablösung als Eigentum zu erwerben. Die kaiserl. Apanage- und Kronbauern, über 22 Mill., erhielten durch Ukas vom vorteilhafte Ablösungsbedingungen.
Zu gleicher Zeit schritt das Finanzministerium zu einer Reform der Staatskreditanstalten. Jetzt, wo alles darauf ankam, den Gutsherren den Kredit zu ¶