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«Esther oder die Aktion vom Artaxerxes», der andere Aufführungen übersetzter Stücke folgten. Vorher war die nordrussische dramat. Kunst auf drei, von Geistlichen in der Oster- und Weihnachtszeit dargestellte kirchliche Spiele beschränkt gewesen. Den deutschen Stücken folgten südruss. Mysterien von Simeon von Polozk und Dimitrij von Rostow. In der Novellistik, die fortfuhr, aus Übersetzungen aus dem Westslawischen zu bestehen, erschienen einzelne originale Dichtungen, die Erzählung von «Sawwa Grudzyn», der Schwank «Schemjakas Urteil», die Gedichte vom «Gericht über den Kaulbars», vom «Unglück» u. s. w.
Peters d. Gr. Reformen bedeuten auch für die Litteratur den Bruch mit der alten Tradition: die vollständige Emancipation von der Kirche. Lehrer in allen Fächern wurden systematisch in großer Anzahl ins Land berufen, junge Russen zu ihrer Ausbildung in Künsten und Wissenschaften ins Ausland geschickt. Schulen, vorläufig Elementar- und Fachschulen zur Ausbildung von Militär- und Civilbeamten wurden gegründet und Adel, Geistlichkeit und Volk gezwungen, ihre Söhne hinzuschicken.
Eine reiche Übersetzungslitteratur mannigfaltigsten Inhalts schuf die nötigen Lehrbücher. Aus der bereits vorhandenen Litteratur wurde das Brauchbare neu gedruckt. Bei Aufnahme und Vermittelung westl. Kultur leisteten die in Kiew [* 2] gebildeten Südrussen gute Dienste. [* 3] Sie waren die ersten, die ins Ausland geschickt wurden, die ersten, die in den Staatsdienst traten; sie waren thätig als Prediger, Lehrer und Übersetzer und trugen vor allem viel dazu bei, das Mißtrauen gegen die Reformen zu verscheuchen.
Denn die Mehrzahl der Russen aller Stände stand denselben feindlich gegenüber. Eine interessante Ausnahme aus den Volkskreisen war der Bürger Possoschkow mit seiner Schrift «Über Armut und Reichtum» (1724), einer Untersuchung über die Lage der verschiedenen Stände und Einrichtungen Rußlands, mit Vorschlägen zur Besserung. Der begeistertste und thätigste unter Peters südruss. Gelehrten war der gelehrte und gewandte Theophan Prokopowitsch (1681-1736, von 1724 an Erzbischof von Nowgorod), ein unbedingter Vertreter der Reform, der in seinem «Geistlichen Reglement» (1720) sogar die Unterstellung der russ. Kirche unter Staatskontrolle rechtfertigte, und dessen allgemeinverständliche Predigten mehr dazu beitrugen, dem Volk die verhaßten neuen Einrichtungen verständlich zu machen, als die scholastisch-rhetorische Beredsamkeit seines Gegners Stephan Jaworskij (1658-1722) und der übrigen offiziellen geistlichen Panegyriker der Reform.
Zur Rechtfertigung der russ. Politik den westeurop. Staaten gegenüber dienten Flugschriften, wie z. B. Schafirows Schrift über die Ursachen des Krieges gegen Karl XII. (1717). Außerdem ist die Zeit reich an Memoiren, Autobiographien und Reisebeschreibungen. Die ganze Litteraturperiode trägt den Stempel des Utilitarismus. Die schöne Litteratur wurde vorläufig nur durch die alte, syllabierende Dichtung vertreten, deren ebenfalls praktischer Zweck in der offiziellen Verherrlichung der Siege Peters bestand. Auch die Bühne diente praktischen Zwecken. 1702 wurde aus Danzig [* 4] der Theaterdirektor Joh. Kunst mit seiner Truppe verschrieben, der russ. Schauspieler bilden sollte. Sein Repertoire wurde ins Russische [* 5] übersetzt, daneben mußte er für Stücke sorgen, die die Siege der Russen allegorisch darstellten. Die volkstümlichen Interludien des alten Schuldramas dienten dazu, die Feinde der Reformen und Anhänger des Alten zu verspotten.
Unter den Nachfolgern Peters bis zu Elisabeth trat unter dem Einfluß der deutschen Partei eine Reaktion gegen die Reformen Peters und gegen jede freie geistige Richtung ein. Die von Peter gegründete, aber erst nach seinem Tode eröffnete Akademie, mit der ein Gymnasium und eine Universität verbunden werden sollte, that wenig zur Hebung [* 6] der russ. Bildung; sie bestand aus Ausländern und verfolgte selbstverständlich mehr wissenschaftliche als pädagogische Zwecke.
In der Russische Litteratur dieser Zeit vertraten zwei Schriftsteller, beide aus dem Kreise [* 7] Prokopowitschs, die Reformideen Peters, der vielseitige Staatsmann, Ingenieur, Geograph und Historiker Tatischtschew (1686-1750) und der Satiriker Kantemir (1708-44). Zum Vorbild der russ. Poesie ward allmählich der franz. Pseudoklassicismus, dessen Theorie den Russen durch den als Dichter unbedeutenden, aber wissenschaftlich tüchtigen Wassilij Tredjakowskij (1703-69) zugänglich gemacht wurde.
Der franz. Einfluß gelangte zu vollständiger Entwicklung unter der Regierung der Kaiserin Elisabeth (1741-62). Ein regeres geistiges Leben machte sich bemerkbar. Die deutsche Partei verlor ihren Einfluß, die Ideen Peters d. Gr. gelangten wieder zur Geltung; das Unterrichtswesen ward besser. Außer wenigen Gymnasien wurden die Moskauer Universität und die Petersburger Kunstakademie eröffnet. Den Russen wurde der Eintritt in die Akademie der Wissenschaften erleichtert.
Der erste russ. Akademiker und hervorragendste russ. Schriftsteller dieser Periode ist der universelle Mich. Lomonossow (1712-65), der «Vater der russ. Litteratur», zugleich Gelehrter und Dichter. Er wirkte epochemachend durch die Schöpfung einer russ. Litteratursprache, indem er der Anwendung des bisher herrschenden Kirchenslawischen Grenzen [* 8] setzte, er schuf die russ. Grammatik, er führte das accentuierende Princip endgültig in die Poesie ein, seine Oden blieben das unerreichte Muster einer erhabenen Lyrik bis ins 19. Jahrh. Der Begründer des pseudoklassischen Dramas in Rußland ward Alexander Sumarokow (1718-77). Er war auf allen Gebieten der Dichtkunst thätig, sein eigentliches Feld war jedoch die Satire. Er gab eins der ersten Journale, «Die emsige Biene» [* 9] (1759), heraus und war der Hauptvertreter der litterar.
Kritik, die sich allerdings rein auf die Äußerlichkeiten des Stils beschränkte. Die Thätigkeit der Akademie der Wissenschaften trug viel dazu bei, das wissenschaftliche Interesse zu wecken. Besonders wichtig war der Beginn einer streng wissenschaftlichen Erforschung der russ. Geschichte (S. Bayer, G. F. Müller, vor allen A. L. Schlözer), Sammlung und Herausgabe histor. Quellen. Wissenschaftliche Expeditionen zur Erforschung Rußlands wurden entsandt. Endlich gab G. F. Müller im Auftrag der Akademie die erste litterar. Revue, die «Monatlichen Schriften» heraus.
Die Zeit Katharinas II. wird das «goldene Zeitalter der Russische Litteratur» genannt. Die pseudoklassische Richtung dauerte fort. Die Litteratur erhielt durch die franz. Aufklärungslitteratur neuen Inhalt und eine vorwiegend pädagogische Tendenz. Katharina selbst schrieb pädagogische Schriften, Kinderbücher, satir. Lustspiele und Zeitungsartikel gegen die schlechte Kindererziehung und Nachäfferei der ¶
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Franzosen. Die Satire gelangte zu großer Bedeutung: ihr Organ bildeten die satir. Zeitschriften nach engl. Muster, deren Blütezeit die J. 1769-74 waren, und in denen neben Unwissenheit und Barbarei auch der schwülstige Geschmack in der Poesie, besonders die Ode und die Mittelmäßigkeit der Dichter verspottet wurde. (Die bedeutendsten Zeitschriften sind: «Buntes Allerlei» [«Vsjakaja Vsjačina»], «Der Maler» und «Die Drohne».) In der Lyrik herrschte die Ode fort.
Sie erhielt durch den größten Dichter der Epoche, Gabriel Derschawin (1743-1816), eine neue, anmutigere, stellenweise satirisch gefärbte Sprache. [* 11] Im Drama herrschte bis in die siebziger Jahre unbestritten der Pseudoklassicismus. Das Repertoire beherrschte Sumarokow, später der weniger begabte Jakob Knjashnin (1742-91). Neben Originalen wurden viele Übersetzungen gegeben. In den siebziger und achtziger Jahren wurden fast alle Werke der franz. Klassiker übersetzt.
Auch die Tragödie zeigte eine hervorragend belehrende Tendenz; nicht weniger das Lustspiel. Der bedeutendste Satiriker der Periode, Denis Von-Wisin (1744-92), verspottete in seinen klassischen Lustspielen «Der Brigadier» (1764) und «Der Landjunker» (1782) die Unbildung des niedern Adels, die Halbbildung und Französelei der im Ausland gewesenen jungen Russen, die schlechte Kindererziehung. Auch hier traten neben realistisch-komischen [* 10] Figuren ideale Tugendtypen auf, die weitschweifig Moral predigen.
In der Epik galt Mich. Cheraskows (1733-1807) «Rossiade» lange als Muster. Aber gegen Ende des Jahrhunderts fing der Geschmack am pseudoklassischen Epos an nachzulassen, es traten Travestien (so z. B. die berühmte kleinruss. Äneide von Kotljarewskij),
Parodien und komische Epen auf. Sehr populär wurde die «Psyche» («Dušen'ka») von Ippolit Bogdanowitsch (1743-1803),
eine volkstümliche Bearbeitung von Lafontaines «Psyché et Cupidon». Der Roman weist viel Übersetzungen auf. Beliebt waren die philos.-polit. Romane im Geschmack des Fénelonschen «Télémaque», die in Charaskow einen Nachahmer fanden («Numa oder das blühende Rom», [* 12] «Polydor» u. a.). Daneben wurden Abenteuerromane mit und ohne moralische Tendenz viel gelesen. Von Originalen sind erwähnenswert die Werke Fedor Emins (1735-70). Die Fabel, bis dahin durch Sumarokow vertreten, erhielt eine einheimischere Färbung durch Iwan Chemnitzer (1745-84). Die humanitären Bestrebungen der Regierung fanden Nachahmung in Privatkreisen: es entstanden Privatdruckereien und Vereine, die Volksschriften fertigten und verbreiteten. Im Zusammenhang mit dem fußfassenden Freimaurertum bildete sich in Moskau [* 13] die «Gesellschaft der Freunde», deren Seele der Philanthrop Nik. Nowikow (1744-1816) war, und die durch Vorträge und nützliche Schriften die Volksbildung zu heben suchte.
Eins ihrer Hauptziele war die Bekämpfung des franz. Materialismus, gegen den sonst neben den Kanzelrednern schon die satir. Journale aufgetreten waren. Allein die Französische Revolution veranlaßte eine starke Reaktion und die Verfolgung alles dessen, was kurz vorher von der Regierung angeregt worden war. Die Freimaurer wurden verdächtigt, die philanthropischen Vereine aufgehoben, Nowikow eingekerkert. Unter den Opfern der Reaktion befand sich auch Alexander Radischtschew (1749-1802), dessen «Reise von Petersburg [* 14] nach Moskau» (1790) ihm Verbannung nach Sibirien zuzog.
In den siebziger Jahren trat in der Russische Litteratur der «empfindsame» (sentimentale) Geschmack auf. An Stelle der pseudoklassischen Tragödie, des heroischen Romans trat das bürgerliche Rührstück, der bürgerliche Roman. Der franz. Einfluß wich dem englischen und deutschen. Ungefähr gleichzeitig erwachte das Interesse für nationales Leben und die heimische Vorzeit. Histor. und sprachliche Denkmäler wurden gesammelt, Volksbücher wieder abgedruckt u. s. w. In der Poesie erschienen Stoffe aus dem Volksleben, wie z. B. die mit Volksliedern und -Tänzen durchwebte komische Oper Ablessimows «Der Müller». Der Hauptvertreter des sentimentalen Geschmacks war Nik. Karamsin (1766-1826),
dessen «Briefe eines russ. Reisenden» und die Novelle «Die arme Lisa» die Muster der neuen Richtung wurden.
Die Wissenschaft zeigte unter Katharina ein Überwiegen von russischen, ausländisch gebildeten Gelehrten. 1783 ward die russ. Akademie gegründet zur «Reinigung und Bereicherung der russ. Sprache», deren Präsident die hochgebildete Fürstin Katharina Daschkow (1743-1810) ward. Von histor. Werken ist M. Schtscherbatows «Russ. Geschichte von den ältesten Zeiten an» (in altruss.-patriotischem Sinne) und dessen «Geschichte Peters d. Gr.» sowie seines Gegners Iw. Boltins ebenfalls mit reformfeindlicher Tendenz geschriebene «Bemerkungen zur alten und neuen russ. Geschichte Leclerqs» und «Bemerkungen über Schtscherbatows russ. Geschichte» zu erwähnen. Ferner zahlreiche Memoiren (der Fürstin Daschkow, Chrapowizkijs, Derschawins u. a.). Von lexikalischen Arbeiten ist wichtig das «Wörterbuch der russ. Sprache» der Akademie, von literarhistorischen Nowikows «Histor. Schriftstellerlexikon» und das anonyme «Dramat. Lexikon». Auf dem Gebiet der bis dahin rein formalen Kritik traten als ästhetische Neuerer auf: Mich. Murawjew (1757-1807) und der junge Karamsin.
Die Litteratur des Beginns der Regierung Alexanders I. zeigte den Kampf des absterbenden Pseudoklassicismus gegen die neuen Richtungen, die empfindsame und später die romantische. Das erste Viertel des 19. Jahrh. stand unter dem Einfluß Karamsins. Sein großes Verdienst war die Schöpfung einer ungekünstelten Litteratursprache und die Einführung eines natürlichern litterar. Geschmacks. Seine monumentale «Geschichte des Russischen Reichs» beeinflußte auf lange Zeit sowohl die Auffassung der Geschichte als auch den Stil der getragenen Prosa.
Was Karamsin für die Prosa, das ward Iwan Dmitrijew (1760-1837) für die Poesie. Fast alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit Alexanders I. sind mehr oder weniger Nachfolger Karamsins und Dmitrijews. Es fehlte jedoch nicht an Gegnern. Die antisentimentale konservative Richtung scharte sich um den Präsidenten der Russischen Akademie, Admiral Schischkow (1754-1840), einen eifrigen Verteidiger des Altrussischen und der frühern Verhältnisse. Doch fand die sentimentale Richtung ihr Ende erst in den zwanziger Jahren. Mit den Napoleonischen Kriegen zeigte sich von 1806 an auch in der Litteratur eine starke antifranz. Strömung. Es erschienen Flugblätter, patriotische Gedichte (Derschawin, Shukowskij), Lustspiele und ernste Stücke (Oserows «Dimitrij Donskoj»),
die Gallomanie wurde verspottet (Krylow, Graf Rostoptschin). Sergej Glinkas «Russ. Bote» und seine zahlreichen andern Schriften predigten Krieg und verherrlichten Rußlands ruhmvolle Vergangenheit. ¶