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allgemeine Vernunftreligion mit rein moralischen Wahrheiten ersetzen oder doch nur so weit gelten lassen wollte, als sie mit letzterer übereinstimme. Im Unterschied von diesem Naturalismus schlug nun der Rationalismus einen Mittelweg ein, indem er formell den Supranaturalisten, materiell den Naturalisten beipflichtete. Indem er die Vorstellung einer übernatürlichen Offenbarung, d. h. nach damals allgemein bestehender Voraussetzung einer übernatürlichen Belehrung der Menschen durch Gott, kritisch untersuchte, kam er zu dem Ergebnis, daß die Möglichkeit derselben nicht zu bestreiten sei, die Anerkennung ihrer Wirklichkeit aber von einer Prüfung ihres Inhalts abhänge. Ob etwas übernatürlich offenbart sei oder nicht, könne nur die Vernunft entscheiden, mit welcher die Offenbarung nicht im Widerspruch stehen könne.
Die von den Supranaturalisten festgehaltene Annahme übervernünftiger Wahrheiten wurde verworfen, weil das Übervernünftige ein Widervernünftiges sei, und nur zugestanden, daß Gott durch übernatürliche Veranstaltung den Menschen Vernunftwahrheiten früher mitgeteilt haben könne, als sie, sich selbst überlassen, auf dieselben gekommen sein würden, oder etwa verloren gegangene Wahrheiten auf jenem außerordentlichen Wege für das menschliche Bewußtsein wieder aufgefrischt habe.
Dennoch wollte auch der Rationalismus an der Autorität der Bibel festhalten und behauptete, sich im vollen Einverständnis mit ihrem wahren Sinn zu befinden. Da er aber ebenso wie der Naturalismus die Wunder als widernatürlich verwarf, so beseitigte er das Wunderbare aus den biblischen Erzählungen durch die sog. natürliche Auslegung, und deutete die dem Zeitalter fremd gewordenen religiösen Vorstellungen der Bibel entweder um oder schaffte sie durch die Annahme fort, daß die biblischen Schriftsteller sich nur aus pädagogischen Gründen den jüd. oder heidn.
Zeitmeinungen anbequemt hätten. Auf diese Weise behielt man als wesentlichen Inhalt der Schrift nur die sog. vernünftigen Wahrheiten übrig, unter denen der gewöhnliche Rationalismus die drei höchsten «Vernunftideen» Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als notwendige Bedingungen alles moralischen Handelns begriff. Hiermit glaubte man zwischen Christentum und Vernunft Frieden gestiftet, die Autorität der Bibel gerettet und zugleich den berechtigten Forderungen des Naturalismus genügt zu haben.
Die Schwächen jenes Rationalismus sind leicht zu erkennen. Es war Verflüchtigung des religiösen Gehalts des Christentums, ihn einfach auf Morallehre zu reduzieren. Es ist auch verwirrend, die Vernunft als «religiöses Erkenntnisvermögen» zu bezeichnen, d. h. den religiösen Inhalt aus ihr ableiten zu wollen, da dieser nur aus der innern Erfahrung der Frommen entnommen werden kann. Auch die unhistor. Willkür der rationalistischen Behandlung der Bibel liegt gegenwärtig offen zu Tage und insbesondere die natürliche Auslegung der Wunder.
Aber selbst vor einem schärfern philos. Denken konnte jener Rationalismus nicht bestehen. Denn was er als unwandelbare, zu allen Zeiten anerkannte Vernunftwahrheit betrachtet hatte, war mindestens in der Form, die dem Rationalismus über jeden Zweifel erhaben schien, selbst nur ein Niederschlag der damaligen Zeitbildung. Andere gegen den Rationalismus erhobene Anklagen, wie seine Nüchternheit und platte Verständigkeit, sein philos. und ästhetisches Unvermögen, seine äußerliche Moral mit ihrer Werkgerechtigkeit und Tugendseligkeit u. a. m., treffen nicht sowohl ihn selbst, als das ganze Zeitalter.
Dagegen hat der Rationalismus, indem er auf die innere Einheit aller menschlichen Erkenntnis drang, die unklare Lehre von übervernünftigen Wahrheiten siegreich bekämpft und gegenüber der blinden Unterwerfung unter äußere Autoritäten das unveräußerliche Recht des Subjekts, nichts für wahr anzunehmen, als was im eigenen Innern des Menschen seine Begründung findet, aufs nachdrücklichste geltend gemacht. Seine Forderung, alle Überlieferung, einschließlich der in der Bibel enthaltenen, auf ihren vernünftigen Gehalt hin zu prüfen, ist den dogmatischen Vorstellungen der Bibel und der Kirche gegenüber ebenso berechtigt als seine an die sog. übernatürlichen Thatsachen angelegte Kritik. Ganz besonders bedeutsam aber ist die durch den Rationalismus begonnene geschichtliche Forschung über die menschliche Entstehung der Bibel und ihre Behandlung nach denselben kritischen Grundsätzen, die für alle andern Litteraturprodukte gelten, gewesen. Als die namhaftesten Vertreter des Rationalismus sind die Dogmatiker Wegscheider und Bretschneider, der Exeget Paulus und der Kanzelredner Röhr zu nennen.
Vgl. Stäudlin, Geschichte des Rationalismus (Gött. 1826);
Hase, Theol. Streitschriften (3 Hefte, Lpz. 1834‒37);
Rückert, Der Rationalismus (ebd. 1859);
Frank, Geschichte des Rationalismus und seiner Gegensätze (in der «Geschichte der prot. Theologie», Tl. 3, ebd. 1875).