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Beispiel oder Abbild dazu dienen kann, auf das Urbild hinzuweisen, aber nicht das Urbild. Wir erkennen es nicht durch Sinne und Erfahrung, sondern durch eine rein geistige Anschauung, durch den Einen Blick des Geistes, vermöge dessen wir das Eine, Identische im Vielen, Mannigfaltigen, festzuhalten und so über Raum und Zeit uns in der Betrachtung zu erheben im stande sind. Das Eine Bewußtsein ist es, das diese Einheit des Gegenstandes (in der Einheit des Gesetzes) schafft und erzeugt.
Diesen, das Mannigfaltige zur Einheit zusammenschauenden Blick des Geistes meint eigentlich das Wort Idee («Schau»); sie bedeutet dann aber auch die einheitliche Gestalt, in der für diesen Blick der Gegenstand sich darstellt. Das Sein der Idee aber ist nur zu denken wie das ewige Gesetz, das auch in keiner irgendwo und irgendwann gegebenen Erscheinung oder einer Summe von solchen sich erschöpft und auch nicht von den Erscheinungen abhängt, sondern vielmehr sie von ihm.
Das Gesetz ist aber zugleich zu denken als das, was alle Wahrheit der Erscheinungen begründet, somit selber als das ursprünglich und schlechthin Wahre, wogegen alle Erscheinungswahrheit nur abgeleitet und bedingt ist. Seine volle Klarheit erlangt daher der Platonische Begriff der Idee erst durch ihren Gegensatz, die Erscheinung, durch die Einsicht in den Charakter des grenzenlos Bedingten, bloß Relativen, der aller Erscheinung anhaftet. Plato vereinigt insofern die Lehre [* 2] des Parmenides (s. d.) vom unwandelbar Einen mit der des Heraklit (s. d.) von der ewigen Veränderlichkeit, Gegensätzlichkeit und Relativität, indem er die Grundbestimmungen des eleatischen Seins auf die Idee, die des herakliteischen Werdens auf die Erscheinung bezieht.
Den wissenschaftlich schärfsten Ausdruck für das Grundverhältnis von Idee und Erscheinung gewann Plato aus der Pythagoreischen Lehre (s. Pythagoras), indem er die Erscheinung als das Grenzenlose (Unbestimmte), die Idee als das Begrenzende (zur Einheit und Identität Bestimmende) erklärte. Ebendaher schöpft er sein tiefes Verständnis für die Bedeutung des Mathematischen als des Realisierenden im Sinnlichen: das Sinnliche der Erscheinung ist an sich nicht real noch im absoluten Sinne wissenschaftlich zu realisieren, aber doch ist es einer bedingten Realität fähig, die ihm das mathem.
Gesetz verleiht. Darin lag das Princip der mathem. Naturerklärung, wie es freilich erst die Wissenschaft der Neuzeit verwirklichen konnte. In diesen Grundvorstellungen, überhaupt in seiner Unterscheidung zweier ganz verschiedener Arten der Erkenntnis und der Realität (Erscheinung und Ansichsein) begegnet sich Plato zugleich mit Demokrit; er erkennt mit diesem den Raum als Grundbedingung aller sinnlichen Erkenntnis an und gelangt wie er in seiner Physik zur Erkenntnis der Subjektivität der Sinnesqualitäten und zu einem Analogon der Atomenlehre.
P.s letztes und höchstes Interesse liegt jedoch nicht in der Naturerklärung, sondern in der Wissenschaft vom Guten. Er will nicht allein die Realität der Erfahrung, sondern vor allem die davon grundverschiedene, durchaus eigentümliche Geltung solcher Begriffe, die ihr Objekt überhaupt jenseit der Erfahrung suchen, begründen; solche sind ihm die Begriffe des Sittlichguten. Im Gedanken dessen, was sein soll, ob es gleich niemals war, ist oder sein wird (im Gedanken des «Ideals»),
erheben wir uns wirklich über die Erfahrungserkenntnis, die stets nur auf das, was war, ist oder sein wird, sich bezieht; und jenes schlechthin Ewige setzt Plato unter dem Namen der «Idee des Guten» an die Spitze seiner Ideenwelt und nennt es die Quelle [* 3] aller Wirklichkeit, die noch über der (zeitlichen) Wirklichkeit liege. Damit wird er freilich überschwänglich; es scheint von da kaum mehr ein Rückweg gefunden werden zu können zu den praktischen Aufgaben des irdischen Lebens. Daher hat die Weltflucht des Mittelalters sich auf Plato stützen können; aber mit nicht minderm Rechte beruft sich auf ihn der ethische Idealismus Kants.
In der Einzelausführung des auf diesen Grundlagen errichteten Systems beweist Plato einen fast unerschöpflichen Reichtum von Anschauungen. In der Logik ist er vielfach der Vorgänger des Aristoteles und in einigen Richtungen ihm überlegen, obwohl er kein so fertiges logisches System hinterlassen hat. Seine Kritik der Sinne und seine Gedanken zur wissenschaftlichen Methodik sind von unvergänglichem Wert und dem Geiste der modernen Naturwissenschaft tiefer verwandt als der halbe Empirismus des Aristoteles.
Die Physik freilich betreibt Plato fast nur wie ein geistreiches Spiel. Aus seiner überwiegend ethischen Richtung begreift sich ihr wesentlich teleologischer Charakter: der letzte Grund, warum alles ist wie es ist, soll in der Abzweckung auf das Gute liegen. Dabei entsteht die unüberwindliche Schwierigkeit, den ungeheuren Abstand des empirisch Wirklichen von der Idee des Guten, den kaum Einer so tief wie Plato empfunden hat, begreiflich zu machen; dafür muß denn die «Materie» oder eine blinde unvernünftige «Notwendigkeit» einstehen, die so aus einem «Nichtseienden» oder «Unbestimmten» zu einem widerstehenden, dem Guten und der Idee feindlichen Princip wird. Plato mochte eben nicht ganz darauf verzichten, die Idee auch in der Bedeutung des Guten, nicht bloß in der des mathem. Gesetzes, an die Spitze seiner Naturerklärung zu stellen. Daß er damit unvermeidlich in Mythologie geriet, empfindet er selbst und bezeichnet deshalb seine Physik als eine bloße Spielerei. Die Nachwelt hat freilich vielfach in diesem Spiel den eigentlichen Ernst der Platonischen Philosophie gesehen und auf den physik. Roman seines «Timäus» einen ganz andern Wert gelegt als sein Urheber.
Am schönsten beweist sich der hochideale Flug der Platonischen Spekulation auf ihrem eigentümlichsten Felde, dem der Ethik. Plato trennt mit derselben ehrlichen Schroffheit wie Kant das Gute von der Lust; nicht als ob die Lust zum glückseligen Leben entbehrlich sei; sondern Glückseligkeit mag erhofft werden unter der Bedingung des Guten, aber das Gesetz des Guten gilt nicht unter der Bedingung einer damit zu erreichenden Glückseligkeit, sondern unbedingt. Lust und Unlust taugt, wegen des Charakters durchgängiger Relativität, den sie mit allem Sinnlichen teilt, nicht zur Bestimmung eines wahren Endzieles des Willens; ein solches kann allein gefunden werden im reinen Gesetz, d. h. der Idee.
Unter dem Gesetz stimmt sich die Seele zur innern Wohlordnung und Harmonie, deren Seligkeit aller vergänglichen Lust überlegen ist. Im Hinblick auf die Idee erreicht unser Wollen allein die volle widerspruchslose Wahrheit, während alles vergängliche Trachten sich notwendig in Lüge und Widerspruch verstrickt. Die Staatslehre P.s beruht ganz auf dem Gedanken der sittlichen Erziehung. Der merkwürdige Satz, daß es nicht eher besser werden könne in der Welt, als nicht «entweder die Philosophen ¶
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Könige oder die Könige Philosophen werden», besagt, daß das Staatswesen auf Wissenschaft gegründet werden müsse, und zwar zuletzt auf die Wissenschaft vom Guten. Wissenschaft, und zwar die ganze, von der niedersten bis zur höchsten Stufe, soll durch den Staat zum Instrument der Erziehung, aller Erziehung, zuletzt der Erziehung zur höchsten Sittlichkeit werden. Dabei beachtet Plato sehr wohl die realen Grundlagen jeder Gesellschaftsordnung; sein «Staat» bemüht sich ihnen gerecht zu werden und dabei doch sein ideales Ziel fest im Auge [* 5] zu behalten.
Dadurch kommt denn freilich ein gewisser Zwiespalt auch in sein Staatssystem, den auch er selber offenbar wohl empfand. Durch eine schroffe Scheidung der Stände, einer bloß für die materiellen Grundlagen des Staates sorgenden Klasse von Arbeitern und Gewerbtreibenden, einer von aller Erwerbspflicht befreiten, spartanisch organisierten Kriegerklasse und einer daraus hervorgehenden, durch gründlichste wissenschaftliche Vorbildung vorbereiteten regierenden Klasse sucht er jenen verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Allgewalt des Staates wird dabei in ganz socialistischem Sinne überspannt, der Wert der Individualität, die Freiheit des Einzelnen verkannt, Familie und Privateigentum wenigstens für die obere Klasse aufgehoben, auch die Kunst schlechterdings in den Dienst der sittlichen Erziehung gestellt; Justiz und Gesetzgebung werden überflüssig. Von der Durchführbarkeit seines Staatsideals ist Plato fest überzeugt. Erst in seinem Alter zeigt er sich in dieser Beziehung zu Konzessionen bereit und liefert in seinem letzten Werke, den «Gesetzen», die Darstellung des «zweitbesten Staates», in dem die wissenschaftlichen Anforderungen an die regierende Klasse sehr herabgestimmt, dagegen der Religion ein Anteil an der Organisation des Staatslebens zugewiesen wird, von dem das frühere Werk nichts weiß. Doch schaltet Plato mit den religiösen Vorstellungen völlig souverän, sie sind ihm durchaus nichts mehr als Erziehungsmittel. So tief religiös sein eigener Sinn ist, über Mythus und Kult ist er weit hinaus; er rationalisiert und ethisiert den religiösen Glauben, er löst ihn eigentlich auf in die Erkenntnis der ewigen Ideenwelt. - Der geschichtliche Einfluß der Platonischen Philosophie ist ein kaum zu ermessender gewesen, über die Entwicklung seiner Schule s. Akademie.
Die Neuplatoniker (s. d.) haben das große Verdienst, seine Ideen dem Mittelalter und der beginnenden Neuzeit, freilich nicht in voller Reinheit, lebendig erhalten zu haben. Die Renaissance ist ganz vom Platonischen oder Neuplatonischen Geiste durchtränkt, aber auch die moderne Philosophie, besonders die deutsche, ist von ihm tiefer erfüllt, als es zunächst den Anschein hat. Kants Grundgedanken stehen den Platonischen so nahe, daß es schwerer ist, zu sagen, was beide fundamental unterscheidet, als was sie gemein haben.
P.s Werke wurden herausgegeben von Stephanus (3 Bde., Par. 1578), Stallbaum (8 Bde., Lpz. 1821-25), Imm. Bekker (11 Bde., Lond. 1826), Baiter, Orelli und Winkelmann (2 Tle., Zür. 1839-42), K. F. Hermann (6 Bde., Lpz. 1851-53; neue Ausg. 1873), Schanz (2 Bde., ebd. 1875-77). Übersetzungen lieferten (mit Einleitungen) Schleiermacher (Tl. 1 u. 2, 3. Aufl. und Tl. 3, Bd. 1, 2. Aufl., Berl. 1855-62) und H. Müller (mit Einleitungen von K. Steinhart, 9 Bde., Lpz. 1850-73).
Vgl. K. F. Hermann, Geschichte und System der Platonischen Philosophie (Bd. 1, Heidelb. 1839);
Zeller, Platonische Studien (Tüb. 1839);
Susemihl, Die genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie (2 Bde., Lpz. 1855-60);
Überweg, Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften (Wien [* 6] 1861);
H. von Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus (Gött. 1862-75);
Ribbing, Genetische Darstellung der Platonischen Ideenlehre (deutsch 2 Bde., Lpz. 1863-64);
G. Grote, Platon and the other companians of Socrates (3. Aufl., 3 Bde., Lond. 1875);
Bonitz, Platonische Studien (3. Aufl., Berl. 1886);
Zeller, Philosophie der Griechen, Tl. 2, Abteil. 1 (4. Aufl., Lpz. 1889);
Zorn, Platonstudien (Wien 1893);
Huit, La vie et l'œuvre de Plato (2 Bde., Par. 1893).
Eine vorzügliche zusammenfassende Übersicht der Platonischen Lehre giebt Brandis im 2. Teil seines «Handbuchs der Geschichte der griech.-röm. Philosophie» (Berl. 1843); eine Übersicht der Platonischen Litteratur lieferte Teuffel (Tüb. 1874); weitere Litteratur bei Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie des Altertums, Tl. 1 (7. Aufl., Berl. 1886).